Valentine Auer

Endlich sprechen Gaybies

  • 16.03.2016, 21:49
„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet.

„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet. Gus, Ebony, Graham und Matt haben zwei Dinge gemein: Sie sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt und sie leben in einer Regenbogen-Familie. Sie sind „Gaybies“. Inmitten politischer Debatten über Ehe- und Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare, kommen in „Gayby Baby“ die Kinder selber zu Wort. progress sprach mit der Produzentin Charlotte Mars.

Gemeinsam mit Maya Newell hast du die Dokumentarreihe „Growing up Gayby“ realisiert. Jetzt habt ihr zusammen den Film „Gayby Baby“ gemacht, wo ihr Kinder begleitet, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Wie seid ihr zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren wurde die Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe sehr laut und dabei ging es immer mehr um die Frage von Familie und um diese rechts-konservative Sorge, dass homosexuelle Paare, die heiraten, auch Kinder wollen. Dass das ein Problem sein könnte. Dass diese Kinder anders sein könnten. Maya und ich kennen uns schon sehr lange und fanden die Debatte extrem beleidigend. Maya hat selber zwei Mütter. Es war nicht nur ein Angriff, weil die ganze Diskussion so tat, als ob Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften noch gar nicht existieren, sondern auch, weil sich niemand die Zeit genommen hat mit den Familien, mit den Kindern zu reden. Alle haben über die Kinder, aber niemand mit ihnen gesprochen. Und da es immer lauter und richtig hässlich wurde, wollten wir dem etwas entgegnen, indem wir den Kindern zuhören.

Ja, das Thema selber ist sehr politisch. Der Film ist aber überraschend unpolitisch. War es eine bewusste Entscheidung den Film zu entpolitisieren?
Ja, absolut! Es gab so viel Hass in der Diskussion und wir wollten nicht eine weitere aufgebrachte Stimme sein. Eine Kraft des Kinos sind die Geschichten, die du erzählen kannst. Damit wollten wir uns einbringen. Viele haben sich mit Regenbogen-Familien noch gar nicht auseinandergesetzt. Und in einer Welt voller heteronormativer Bilder, ist es erfrischend, etwas anderes zeigen zu können und zu sagen, dass es diese Familien gibt und zwar schon lange. Die Geschichten im Film sind zwar nicht politisch erzählt, aber der Kontext des Films ist politisch, Maya und ich sind politisch.
Auch der Kontext eurer Screenings ist sehr politisch: Der Film wurde an Schulen in Australien verboten. Wie kam es dazu?
Der Film kam in Australien bereits 2015 in die Kinos, eine Woche vor dem jährlich stattfindenden „Wear It Purple Day“ im August. Das ist ein Tag, an dem sich junge LGBTIQ-Menschen selbst feiern. Statt einem normalen Preview wollten wir den Schulen die Möglichkeit geben, den Film an diesem Tag zu zeigen. Rund dreißig oder vierzig Schulen haben zugesagt. Einen Tag vor den Screenings landeten wir auf dem Cover einer der größten Zeitungen mit der Schlagzeile „Gay class uproar“. Am Beispiel einer Schule ging es in dem Artikel darum, dass alle Eltern aufgebracht seien, weil ihre Kinder dazu gezwungen werden, ein – wie die Zeitung es formulierte – Video über homosexuelle Erziehung, zu sehen. Das war schrecklich! Wir haben vier Jahre an diesem Film gearbeitet, vier Jahre in der LGBTIQ-Community verbracht und dann kommt diese Schlagzeile. Wir waren eine Woche lang durchgehend in der Berichterstattung. Der Premierminister von New South Wales entschied, dass der Film an Schulen in diesem Bundesstaat nicht gezeigt werden darf. Das war auch furchtbar für die Community, da die Botschaft vermittelt wurde, dass diese Familien in den Schulen nicht willkommen sind.

Wie geht es euch und auch den Familien und Kindern aus dem Film jetzt – nach dem ersten Schock?
Das ist fünf Monate her und obwohl ich persönlich und sehr viele andere durch die Reaktion verletzt wurden, ist uns mittlerweile klar, dass eine Konversation, die lange nicht geführt wurde, plötzlich geführt wurde. Es war notwendig. Auch die Familien und Kinder waren sehr großartig. Uns ging es in erster Linie darum zu schauen, wie es den Kindern aus dem Film geht, weil sie diejenigen waren, die am nächsten Tag in die Schule mussten. Aber die Kinder haben als erste gemeint, wir sollen uns keine Sorgen machen, denn es sei das Beste, was passieren konnte.

Die Kinder im Film sind alle zwischen zehn und zwölf Jahre alt. Habt ihr euch bewusst für dieses Alter entschieden?
Nein, zumindest anfangs nicht. Wir haben für den Film Menschen sehr verschiedenen Alters interviewt. Aber als sich die Geschichten, die wir im Film erzählen wollten, herauskristallisierten, wurde uns bewusst, dass das Alter zwischen zehn und zwölf sehr spannend ist. Es ist eine Art „magisches Alter“. Du hast einen Fuß in der Kindheit und den anderen im Erwachsenensein. Deine eigenen Ideen beginnen sich in dem Alter zu formen. Du fängst an, deine Eltern als Personen und nicht nur als deine Eltern wahrzunehmen – was in unserem Kontext sehr spannend ist, da auch immer klarer wurde, dass nicht die ganze Welt denkt, dass meine Familie unbedingt normal ist.

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Meiner Meinung nach kamen die Kinder im Film sehr reif und erwachsen rüber. Kann das mit den täglichen Kämpfen zu tun haben, die man als Gayby in einer heteronormativen Gesellschaft, auszutragen hat?
Ich würde nicht sagen, dass die Kids andauernd am Kämpfen sind. Das sehe ich gar nicht so. Ich glaube aber, dass viele Gaybies sehr gut kommunizieren können, weil sie seit sie sprechen können, andauernd ihre Familie erklären müssen. Daher lernten viele über Familie, aber auch über queere Politiken, zu sprechen. Gleichzeitig sind die Kinder unglaublich belastbar, was eigentlich keine Eigenschaft von Kindern sein sollte. Aber sie treten jeden Tag vor die Haustüre, wissend, dass es die Möglichkeit gibt mit Homophobie konfrontiert zu werden. Auch wenn es gar nicht so sein muss. Aber allein dieses Bewusstsein schafft eine Art Belastbarkeit, ein Bereit-Sein.

Gemeinsam mit Gaybies wart ihr im australischen Bundestag. Dort hatten die Politiker*innen die Möglichkeit Fragen zu stellen. Welche Fragen sind gekommen?
Wir sind nicht mit den Kindern aus dem Film, sondern mit Erwachsenen hin. Ich kann mich nicht mehr an alle Fragen erinnern, aber wir wollten das Panel so strukturieren, dass wir langsam alle Fragen, die immer wieder kommen, durchgegangen sind. Es gibt einige wenige Fragen, die wiederholen sich: Zum Beispiel, wenn du zwei Mütter hast, kommt die Frage, ob du einen Vater vermisst. Die Leute wollen auch wissen, wie du gezeugt wurdest, ob du adoptiert bist – wie all das funktioniert. Viele fragen, ob du auf Grund deiner homosexuellen Eltern schikaniert wurdest oder wirst. Und natürlich kommt immer wieder die Frage, ob Gaybies homosexuell sind. Das klingt eigentlich sehr dumm. Aber es gibt wirklich viele Menschen, die glauben, dass es so ist.

Du hast mit Maya auch eine Firma mit dem Namen „Marla House“ gestartet zur Unterstützung weiblicher Filmemacherinnen. Ist die Branche nach wie vor männlich dominiert?
„Marla House“ haben wir eigentlich für unsere gemeinsamen Kollaborationen gestartet. „Marla“ bedeutet auf einer Aborigines-Sprache „Mädchen“. Das heißt es ist das „Mädchen Haus“, also unser Haus. Aber ja, ich bin absolut der Meinung, dass die Branche männlich dominiert ist. Das zeigen auch die Statistiken. Aber frage mich bitte nicht, wie man das...

… ändern kann?
Genau! Es gibt sehr viele Menschen, die versuchen diese Frage zu beantworten und daher gibt es auch viele verschiedene Zugänge. Meiner Meinung nach sollen wir sie alle probieren. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer, sondern um LGBTIQ-Personen, aber auch um „People of Colour“. Wenn wir nur Geschichten von von weißen Männern hören und sehen, wenn nur diese kleine Gruppe repräsentiert wird, erhalten wir offensichtlich nicht das ganze Bild von Gesellschaft. Es ist wichtig, all die problematischen Systeme unserer Gesellschaft aus vielen verschiedenen Perspektiven zu zerlegen.

Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

„Gesund ist das nicht!“

  • 15.03.2016, 12:33
Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind

Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind: Während Cal auf der Suche nach einem richtigen Krieg ist, wird die Journalistin Lana von allen Seiten mit Sexismus konfrontiert. Den älteren Ewald holen bereits am Flughafen Wien-Schwechat Erfahrungen aus dem Jugoslawien-Krieg ein. Ursprünglich als Dokumentarfilm angelegt, erzählt der Film vom Alltag als Journalist*in in Krisengebieten – abseits mythischer Heldenerzählungen. progress sprach mit der Regisseurin über Sexismus in der Branche, psychische Folgen der Arbeit und über Alice im Wunderland.

progress: Beginnen wir mit einer sehr klassischen Frage: Wie bist du auf die Idee gekommen einen Film über Kriegsreporter*innen zu machen?
Barbara Eder: Was heißt es, Reporter in Zeiten des arabischen Frühlings zu sein? In Zeiten, in denen man von entführten oder geköpften Journalisten hört. Darüber wollte ich einen Film machen. Zu Beginn hatte ich ein oberflächliches Bild davon. Ich habe mir alles sehr heldenhaft vorgestellt und die Mythen drum herum geglaubt. Zu einem gewissen Teil ist es auch so.
Dann bin ich ein Jahr gereist, weil ich spüren und erfahren wollte, wie das abläuft: Nach Israel, nach Beirut an die libanesisch-syrische Grenze, nach Afghanistan. Dort habe ich mich vom Militär einbetten lassen. Da wirst du mit auf Touren genommen und bist in einem sehr geschützten Raum. Das wirkt eher so, als ob du zu einem Ausflug mitgenommen wirst. Ich war auch mit sehr großen Sendern unterwegs. Einer davon hat den Leuten vor Ort einen Text aus Atlanta geschickt, den sie in die Kamera sprechen mussten. Das sind Fakten. Ich war geplättet. Ich habe auch viele Freelancer kennengelernt, darunter sehr tolle Frauen, die meistens keine Vollverträge bekommen. Ich habe auf jeden Fall viel gesehen. Aber ich hatte ein heldenhafteres Bild im Kopf. Ich dachte auch, dass die Leute viel mehr über das Land wissen.

Wie kam es dazu, dass du dich doch für einen Spielfilm und nicht für einen Dokumentarfilm entschieden hast?
Ab einem gewissen Punkt bin ich mit sehr vielen Eindrücken nach Hause gekommen und stellte mir die Frage, ob ich das Thema in einem Dokumentarfilm behandeln kann: Würden die Journalisten das, was sie mir sagen, die Wahrheiten, die sie aussprechen, auch vor laufender Kamera sagen? Würden sie es bereuen, wenn sie es tun? Welche Folgen hat das für ihre weitere Karriere? Es gab Reporter, die ohne Valium nicht durch den Tag gekommen sind. Daher entschieden wir uns einen fiktionalen Film zu machen. So konnte ich auch Geschichten, die in der Vergangenheit liegen, einbauen. Und aus all diesen verschiedenen Menschen und Eindrücken drei Figuren formen und mich darauf konzentrieren, was ich zeigen will, ohne ständig damit kämpfen zu müssen, wie ich Reporter schützen kann.

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Der Film erzählt am Beispiel der jungen amerikanischen Journalistin Lana unter anderem von einen sexistischen System im Journalismus. Glaubst du, dass dieser Punkt bei Kriegsreporter*innen öfters vorkommt als in anderen journalistischen Bereichen?
Ja! Es klingt immer so schön, wenn man sagt, die Frauen erobern diese und jene Bereiche. Das ist ja schön, aber in den Köpfen ist es nicht so. Ich habe von vielen die Frage gehört, was eine Frau in diesem Land überhaupt zu suchen hat. Man kann aber genau so fragen, was ein Mann in diesem Land zu suchen hat, der auch auf eine Miene treten kann. Gefährlich ist es für alle. Natürlich musst du als Frau in Afghanistan ein Kopftuch tragen. Und ja, du wirst auch mal begrapscht. Sexuelle Belästigung habe ich aber mehr in den Reporter-Teams erlebt. Das war mir nicht klar, das habe ich unterschätzt.

Was glaubst du, woher dieser spezielle Sexismus kommt?
Oft ist es der Gedanke, die Frau schützen zu müssen. Das ist unterschwellig in den Köpfen vieler Männer verankert und daher schicken sie lieber einen Mann. Es ist ja gut gemeint, aber einfach nicht richtig. Niemand würde eine Frau vorschicken, weil es für den Mann zu gefährlich sei. Das ist absurd. Das Schlimme ist, dieses Verhalten hat einen Effekt auf Frauen: Sehr viele begeben sich eher in Gefahr, riskieren mehr, um zu beweisen, dass sie es können. Dann kommt es auch zu Übergriffen. Lana geht ja völlig alleine, ohne Schutz zu zwei Soldaten, von denen sie nichts weiß und die alles andere als freundlich sind. Da könnte man sagen, dass das dumm ist. Ich glaube aber, dass man im Film sehen kann, warum diese Person einen Schritt zu weit geht.

Gleichzeitig zeigst du doch auch Sexismus in Afghanistan. In Hinblick auf die seit Köln entstanden Geschichten und Bilder über einen frauenfeindlichen Islam, könnte dieser Punkt von sogenannten „besorgten Bürger*innen“ instrumentalisiert werden. Bereust du die Entscheidung Afghanistan so gezeichnet zu haben?
Natürlich gibt es Sachen, bei denen ich mir denke, das ist vielleicht die falsche Zeit. Ich hoffe aber, dass die Leute, die den Film sehen, den Kontext nicht vergessen. Klar kann man Querverbindungen ziehen, aber ich kann auch nicht verneinen, dass Übergriffe passieren. Ich kann nicht alles schön reden. Das heißt aber noch lange nicht, dass man nach Köln sagen darf, dass jeder Flüchtling oder alle, die aus einem muslimischen Staat kommen, potentielle Vergewaltiger sind. Das Gleiche gilt für den Titel: Nach den Anschlägen in Paris wollte ich mich mit dem Titel "Thank you for Bombing" vergraben. Ich habe überlegt ihn zu ändern, aber ich hatte doch das Gefühl, dass die Leute sich durchlesen, um was es in dem Film geht und diesen Kontext beherzigen.

Kommen wir zu einem weiteren Protagonisten, Cal: Für mich hat er am meisten dem Bild des westlichen Kriegsjournalisten entsprochen. Er ist jung, weiß, männlich, auf der Suche nach Action, um die Quoten nach oben zu treiben und bringt sich selbst dabei in Gefahr. War das während deiner Recherche der vorherrschende Typus? Oder ist das ein Klischee?
Vielleicht ist es irgendwo ein Klischee. Aber es ist auf jeden Fall so, dass die Leute so sehr mit sich hadern. Sie legen fast schon Selbstmord-Tendenzen an den Tag. Sie hören nicht auf. Stillstand ist die Hölle für sie. Ich kann mich an einen Korrespondenten erinnern, der Cal sehr ähnlich war: Immer wenn nichts los war, wenn die Stille eingebrochen ist, hat er angefangen zu saufen, Drogen zu nehmen, sich einfach nieder zu dröhnen oder irgendeinen viel zu riskanten Bullshit zu machen. Er konnte die Stille nicht aushalten, da er dann angefangen hat über Dinge nachzudenken, die er gesehen hat. Er war im Irak-Krieg. Da ist einiges bei ihm hängen geblieben. Der Irak-Krieg war für viele der Tiefpunkt, der viel verändert hat.

Auch beim älteren Protagonisten Ewald ist einiges aus dem Jugoslawien-Krieg, von dem er berichtet hat, hängen geblieben. Er hat Probleme zwischen Realität und Paranoia zu unterscheiden …
Ich wollte diese ältere Figur haben, die gebremst wird, die etwas hindert: Eine Vergangenheit, die nicht loslässt. Ganz viele dieser Leute haben post-traumatische Störungen, aber die wenigsten sagen es. Ich habe jemanden getroffen, der im Jugoslawien-Krieg war. Dort wurden sehr viele Massengräber ausgehoben. Bis heute riecht er hin und wieder diesen Leichengeruch an seiner Kleidung. Er bekommt den Geruch nicht weg und muss die Kleidung wegwerfen. Das fand ich heftig und traurig. Es gab so viele, die mir gesagt haben, dass sie mir jahrelang erzählen könnten, was sie alles erlebt haben und ich würde es dennoch nicht begreifen. Gesund ist das nicht!

Der Film beginnt mit dem Zitat "All this talk of blood and slaying has put me off my tea" aus Alice im Wunderland. Ist das eine Aussage, die du so ähnlich von Kriegsreporter*innen gehört hast?
Ich habe bei diesen Film das erste Mal mit Michael Glawogger zusammen gearbeitet, da ich seine Meinung haben wollte. Er hatte bei seinen Projekten viele Berichterstatter und Korrespondenten. Die Geschichten, die ich erzählt habe, erinnerten ihn sehr an diese Kontakte. Und da fand ich es lustig, dass sowohl er als auch viele Leute, die in diesem Feld arbeiten, den Jabberwocky aus „Alice hinter den Spiegeln“ zitieren konnten. Vielleicht war das nur ein Trend, aber das drückt so gut aus, zu welchem Punkt viele der Journalisten kommen: Es herrscht in diesem Bereich so ein Zynismus, so ein Sarkasmus. Jabberwocky ist ja ein komplett unsinniges Gedicht. Und im Abspann kommt das wieder, wo die Korrespondenten kompletten Unsinn in die Kamera sprechen.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“

  • 13.03.2016, 15:56
Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

„Schau mich nicht an. Schau mich nicht so an. Am liebsten wäre ich unsichtbar.“ Wie ein Mantra spricht Hannas Mutter diese Sätze vor dem Spiegel stehend. Auch wenn die Worte in erster Linie an ihren Mann gerichtet sind, meint sie wohl gleichzeitig auch ihr Spiegelbild, richtet die Worte an sich selbst. Hannas Mutter ist einer der titelgebenden „schlafenden Hunden“. Sie will nicht geweckt werden. Sie will nicht, dass irgendjemand ihre Vergangenheit weckt. Die Vergangenheit. Ihre jüdische Herkunft. Sie sollen unsichtbar bleiben, im Tiefschlaf verharren. So ihre Überlebensstrategie.

Die Verfilmung des 2010 veröffentlichten Romans von Elisabeth Escher lag für Andreas Gruber auf der Hand: Er ist selbst in Wels aufgewachsen, die Autorin eine Schulfreundin. Zudem solle „Hannas Schlafende Hunde“ an den 20 Jahre zuvor veröffentlichen Film „Hasenjagd“ anknüpfen, der die Ereignisse der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ von 1945 auf die Leinwand brachte. Er ist Grubers erster und gelungener Versuch den Nationalsozialismus filmisch aufzuarbeiten.

Nazi-Ideologie in Oberösterreich, die Zweite also: 1967 in der Stadt Wels, 22 Jahre nach dem offiziellen Kriegsende. Offiziell, denn: Die nationalsozialistische Ideologie und so auch der Antisemitismus sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen verankert. In den Gesichtern der Figuren, in den Blicken und inszenierten Dialogen, mit denen Grubers Charaktere versuchen zu kommunizieren, zeichnen sich tiefsitzende Kriegs-Traumata ab. Nach wie vor. Nicht nur an der älteren, sondern auch an der jüngeren Generation zehrt die Vergangenheit.

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Im Mittelpunkt des Geschehens steht die neunjährige Hanna (Nike Seitz). Sie singt gern. Egal ob „Kein schöner Land“ auf einem „Totengedenken des Kameradenverbunds“ am 8.Mai oder „Schweigen möchte ich gern“ während des Gottesdienstes. Als katholisch erzogenes Mädchen wächst sie bei ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Großmutter auf. Letztere ist Hannas wichtigste Bezugsperson: Für die Oma (Hannelore Elsner) dichtet sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein Lied. Mit der Oma lässt sie Löwenzahn-Stängel im Wasser einkringeln. Von der Oma erfährt sie, dass sie Jüdin ist: „Natürlich, bist du Jüdin.“ Was das heißt? „Jeder soll sein, was er ist. Punkt.“ Mit der Oma blickt sie aus dem Fenster, während im Hof ein verbrannter Körper abtransportiert wird: „Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“. Der abtransportierte Körper gehört dem Hauswart. Nicht lang her verwehrte er der Großmutter als Jüdin den Zutritt zum schützenden Keller. Nun ist er es dem der Keller zum Verhängnis wurde

Sehen kann Hannas Großmutter schon lange nicht mehr. Sie ist blind. Die Folge eines Bombenangriffs: „Ich dachte, ich verliere meinen Verstand, … aber ich habe nur mein Augenlicht verloren.“ Der Geruchssinn funktioniert dafür allzu gut.

Dem gegenüber steht Hannas Mutter (Franziska Weisz). „Wir fallen nicht auf!“ ist ein weiteres Mantra, das die Mutter nicht müde wird zu wiederholen, insbesondere gegenüber ihren Kindern. Sie tut alles, „um nicht aufzufliegen“. Nicht auffliegen heißt dabei: Die jüdische Herkunft penibelst vor der Stadtbevölkerung, vor ihren Kindern, aber auch vor sich selber zu verheimlichen, einfach zu vergessen. So gibt es auch keine Kinderbilder mehr von der Mutter, denn „jedes Foto hätte uns verraten“. Hannas Mutter verharrt dabei nicht nur in einer Totenstarre, sondern sieht sich nur allzu gern in der Opferrolle, ein Vorwurf der von Hannas Großmutter kommt, vor allem weil Hannas Mutter die Opferrolle auch von anderen verlangt: „Das ist genau das, was dir am Katholisch-Sein so gut gefällt: Da kannst du schön leiden und die anderen sollen es gefälligst auch.“

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Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Hanna. Trotz der Bemühungen ihrer Mutter wird ihr nach und nach klar, dass sie auf irgendeine Weise anders ist: Ihre Klassenlehrerin fragt neugierig und abschätzig nach der Herkunft ihrer Oma. Dass sie aus Wels ist, sei unwahrscheinlich, denn „sie spricht nicht wie eine Hiesige.“ Ein Klassenkamerad beschimpft sie und deutet dabei auf ein Anderssein von Hanna hin. Ein Nachbar belästigt sie im betrunkenen Zustand sexuell und schimpft sie „Judengfrast“. Hanna will wissen, was all das zu bedeuten hat. Sie weckt die schlafenden Hunde, macht die Vergangenheit sichtbar. So emanzipiert sie nicht nur sich selbst, sondern holt auch ihre Mutter aus der Erstarrung und aus ihrer Opferrolle.

Andreas Gruber erzählt von drei Frauen-Generationen, die alle auf ihre Art einen Weg suchen, um mit dem Stigma, mit dem Hass, mit dem Antisemitismus umzugehen: Ob mit dem Versuch der Selbstauslöschung oder dem Versuch, dem Hass stolz entgegen zu blicken – auch ohne Augenlicht oder durch das ständige Nachfragen, durch kindliche Neugier. Hanna, ihre Mutter und ihre Großmutter sind in ihren alltäglichen Kämpfen umgeben von „antisemitischer Normalität“, wie es Gruber selbst beschreibt: „Ich möchte eine nicht immer gleich erkennbare Scheinwelt von Normalität erschaffen, in der selbst die ungeheuerlichsten braunen Rülpser zur Normalität gehören. Man könnte in Anlehnung an Hannah Arendt von der Trivialität und Selbstverständlichkeit des Bösen sprechen. Durch eine besonders lapidare, unbetonte Inszenierung soll eine Monstrosität der Figuren verhindert werden – weil es ihnen eine unverdiente Größe geben würde.“ Auch wenn Gruber seiner abgebildeten Welt keine Monstrosität zuschreiben will und nicht auf Gewaltorgien zurückgreifen muss, um das Grauen der Nazi-Ideologie sichtbar zu machen, zeichnet er eine Welt, geprägt von Ungeheuerlichkeiten, von Hass und Misstrauen, das nur schwer zu überwinden ist. Hannelore Elsner bringt die Schrecken der Zeit im Publikumsgespräch auf den Punkt: „Diese Zeit stößt mich ab: ihre Verlogenheit, ihre Bigotterie, ihre Sprachlosigkeit.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Arbeit! Wohnraum! Community! Wie LGBTI-Flüchtlinge menschenwürdiger leben könnten

  • 31.03.2015, 12:29

Der Mord an der Trans*frau Hande Öncü zeigte ein weiteres Mal auf, was verschiedene Vereine schon lange problematisieren: LGBTI-Flüchtlinge finden sich in Österreich oft in einer prekären Situation wieder. Ein kurzer Abriss über die zentralsten Forderungen an Österreichs Asylpolitik.

Der Mord an der Trans*frau Hande Öncü zeigte ein weiteres Mal auf, was  verschiedene Vereine schon lange problematisieren: LGBTI-Flüchtlinge finden sich in Österreich oft in einer prekären Situation wieder. Ein kurzer Abriss über die zentralsten Forderungen an Österreichs Asylpolitik.

„Der Mord an Hande hätte verhindert werden können, würde die österreichische Politik und Justiz das Asylrecht achten“, so heißt es in einem Statement des Vereins „Asyl in Not“. Während sich Österreichs Medienlandschaft immer noch nicht sicher ist, wie sie Hande jetzt benennen soll und daher versucht sich mit Schlagwörtern wie „Sex-Mord“ oder gar „Sado-Maso-Toter [sic!]“ zu retten; schreien nicht nur die heimischen, sondern LGBTI-Vereine weltweit auf und verurteilen den Mord als weiteres Hate Crime, das eine menschenwürdigere Asylpolitik verhindern hätte können.

Hande Öncü, 35-jährige Trans*Frau, geboren in Samsun, aufgewachsen in Izmir, ist vor etwa eineinhalb Jahren aus der Türkei geflüchtet. Der Grund: mehrfache Diskriminierungen und Gewalterfahrungen, die ihr ein Leben als Trans*frau kaum ermöglichten. Die Hoffnung, dass sich dies in Österreich ändert, erwies sich als falsch. Anfang des Jahres wurde sie ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Hintergründe dieses Mordes aber auch etlicher weiterer tragischer Gewalttaten an LGBTI-Flüchtlingen  bleiben meist außen obwohl es einige Vereine gibt, die sich speziell für LGBTI-Flüchtlinge einsetzen, wird das Thema nach wie vor tabuisiert. Es finden sich kaum offizielle Zahlen, die sich damit auseinandersetzen; kaum Betroffene, die sich trauen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen; und vor allem keine politischen Bekenntnisse seitens der Bundesregierung etwas an der Situation zu ändern. Diesen Eindruck bestätigt auch die Politikwissenschafterin und Gründerin des Vereins MiGaY, Ewa Dziedzic: „Wenn man das politisch kommuniziert, wird dir gesagt, dass du dich mit Orchideenthemen auseinandersetzt, die ein paar Opfer betreffen.“ Das ist auch mit ein Grund, wieso sich sowohl die Medienberichterstattung als auch die Ermittlungen der Polizei kaum auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen fokussieren, welche transidente Flüchtlinge ausgrenzen und diskriminieren. Trotz dieser fehlenden Informationen sind sich viele politische Aktivist_innen einig: Die Probleme sind in der Asylpolitik zu finden, in den Flüchtlingsheimen, in der fehlenden Infrastruktur. Vor allem drei zentrale Forderungen werden in diesem Zusammenhang immer wieder laut:

GESICHERTER WOHNRAUM. Handes erste Anlaufstelle war – wie für viele andere Flüchtlinge in Österreich auch – das Flüchtlingslager Traiskirchen. Ein Ort, den viele mit Negativerfahrungen in Verbindung bringen. Eine Kritik, die selten auftaucht, ist jene der sexuellen und diskriminierenden Gewalterfahrungen, welche LGBTI-Personen und Frauen in diesem Umfeld erfahren: Was es hier braucht, sind Alternativen, so Ewa Dziedzic: „Wenn Flüchtlinge nach Österreich kommen und es klar ist, dass der Fluchtgrund ihre sexuelle Identität ist, muss sicher gestellt werden, dass diese Personen nicht in einem Flüchtlingsheim  mit vielen anderen Flüchtlingen, die womöglich homophob oder transphob sind, landen und die Betroffenen so nochmals retraumatisierend dieser Ausgrenzung ausgesetzt sind.“ Die Forderung: Gesicherter Wohnraum, zum Beispiel in Form von Wohngemeinschaften. Dafür braucht es Geld. Doch solange das Problem tabuisiert wird, fehlt auch das dringend notwendige Budget.

UNTERSTÜTZENDE BERATUNG. Ein diskriminierendes Umfeld findet sich natürlich nicht nur in Flüchtlingsheimen, auch von Seiten der Asylbehörden sowie von ungeschulten Berater_innen kann Homophobie und Transphobie ausgehen. Die aktuell diskutierte Einführung eines Schnell-Asylverfahren, welches auch die Beratungstätigkeit in den Asylbehörden selber verankert sehen möchte, anstatt sie – wie bisher – an unabhängige Beratungsstellen auszulagern, würde diese Probleme verschärfen. Zudem kommen Flüchtlinge oft in entlegenen Orten unter, in der eine beratende und unterstützende Infrastruktur für LGBTI-Flüchtlinge vollends fehlt. Auch Ewa Dziedzic betont die Wichtigkeit einer Eingliederung in die LGBTI-Community: „Es ist das Beste, was Menschen passieren kann, dass sie sich irgendwo aufgefangen fühlen und ihre Erfahrungen mit Menschen teilen können, die eine größere Sensibilität haben als Behörden oder die eigene Herkunfts-Community in Österreich.“ Hande hat diesen Sprung in Wien geschafft, doch die Rahmenbedingungen, die sie ausreichend schützen hätten konnten, fehlten.  

LEGALE ARBEIT. „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit“, so heißt es im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auf Grund der diskriminierenden Erfahrungen in den zugeteilten Unterkünften entscheiden sich LGBTI-Flüchtlinge oft dafür den Weg alleine zu gehen. Sie flüchten erneut. Doch durch das Verlassen der Unterkünfte fallen Krankenversicherung und die finanzielle Unterstützung weg. Gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit legal einer Arbeit nachzugehen. Hande verdiente ihren Lebensunterhalt daher durch Sexarbeit. Nicht nur für sie war dies eine enorm prekäre und von Gewalt sowie Diskriminierung geprägte Situation, die gleichzeitig im Widerspruch zu Artikel 23 steht. Der Zugang zu legaler Arbeit muss für alle in Österreich lebenden Menschen Gültigkeit besitzen.

Die Politik reagiert kaum auf die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge zu kämpfen haben. Die Forderungen, die schon seit langem und nun erneut wieder von verschiedenen Vereinen an die Bundesregierung herangetragen werden, bleiben auch nach dem Mord von Hande ungehört.

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie.

 

Asyl in Not: www.asyl-in-not.org

MiGaY: www.migay.at Facebook: https://www.facebook.com/migay.at

Nachruf der Solidaritätsgruppe für LGBTI AsylantInnen und MigrantInnen Têkoşîn: http://derstandard.at/2000011043534/Hande-die-ermordete-Frau-aus-Ottakring

Kein Asyl ohne Erektion

  • 25.03.2015, 18:42

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

LGBTI-Personen begegnen im Zuge ihres Asylverfahrens Klischees, Stereotypen und verschiedenste Grenzüberschreitungen.  Der Mord an der Türkin Hande Öncü, die vor Gewalt gegen Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen nach Österreich geflüchtet ist, ist ein Beispiel dafür, dass die Gewalt an LGBTI-Flüchtlingen in Österreich leider weitergeht.

MISGENDERN IST GEWALT. Ein anderer bekannter Fall spielte sich 2011 ab: Die Trans*Frau Yasar Ö. wurde in der Türkei aufgrund ihrer Transsexualität mehrmals verprügelt, ihre Familie setzte einen Mörder auf sie an. Ihr Asylantrag in Österreich wurde trotzdem abgelehnt. Der Grund: Sie wurde von den Asylbehörden nicht als Trans*Frau, sondern als homosexueller Mann, dem keine Verfolgung in der Türkei drohe, behandelt.

„Klare Themenverfehlung“, fasst Judith Ruderstaller das Urteil zusammen. Sie war damals beim Verein Asyl in Not tätig und betreute Yasars Fall. Nachdem NGOs wie Asyl in Not oder transX die Sachlage klarstellten, konnte das Urteil doch noch aufgehoben werden. Yasar wurde aus der Schubhaft entlassen und ein neues Verfahren wurde eingeleitet. Für Judith Ruderstaller war der Fall ein Wendepunkt, was den Umgang der österreichischen Asylbehörden mit LGBTI-Flüchtlingen betrifft: „Durch diesen Fall ist sehr viel Sensibilisierung reingekommen.“ Generell habe sich in den letzten fünf Jahren vieles verbessert: „2010 habe ich die Judikatur in Österreich im Bezug auf LGBTI-FLüchtlinge analysiert. Ich habe viele Asylbescheide gelesen und das waren grauenhafte Interviews, voller Stereotypen, die auch in intime Details der Sexualität hineinreichten“, erinnert sich Ruderstaller, die heute bei der Organisation Helping Hands Rechtsberatung zum Thema Fremdenrecht anbietet. Von Schulungen für Betreuer_innen, Dolmetscher_innen oder Richter_innen war damals noch keine Rede. Die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Österreich konfrontiert waren, konnten daher nur selten miteinbezogen werden.

BLUTFLUSSFRAGEN. Eine 2013 erlassene EU-Richtlinie sieht nun vor, dass Menschen, denen eine Haftstrafe aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung droht, Anspruch auf Asyl haben. In Österreich wurde die EU-Richtlinie noch nicht im staatlichen Gesetz verankert. Hier werden LGBTI-Flüchtlinge zur Kategorie der „sozialen Gruppe“ gezählt. Asylgrund besteht also dann, wenn eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ gegeben ist. Zu einer sozialen Gruppe zählen all jene Menschen, denen von der Gesellschaft in ihrem Heimatland ein gemeinsames Merkmal zugewiesen wird. Damit der Asylantrag positiv ausfällt, muss die Verfolgung jedoch eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten. Was das konkret bedeutet, ist Interpretationssache.

Die Personen müssen den Behörden glaubwürdig machen, dass sie homo-, bi-, trans- oder intersexuell sind. Im Bezug auf die Glaubwürdigkeit treten laut Ewa Dziedzic, Gründerin des Vereins MiGay, jedoch Probleme auf: „Wenn Menschen auf Grund einer Bedrohung flüchten, fällt ihnen in Europa nicht als erstes ein, über ihre Diskriminierungskategorie zu sprechen. Sie können auch zum Teil gar nicht wissen, wie hier mit diesem Thema umgegangen wird.“ Und doch: Über den Fluchtgrund mit geschultem und sensiblem Personal zu sprechen, ist ein weniger gewaltvolles und diskriminierendes Instrument als sogenannte „sexualpsychologische Gutachten.“ Zu diesen gehören die Forderung nach visuellen Beweisen intimer Handlungen oder wie bis vor kurzem in Tschechien noch üblich, phallometrische Messungen ebenso dazu wie indiskrete Fragen über das sexuelle Leben der Flüchtlinge. Gefragt wird zum Beispiel nach Sexstellungen bei gleichgeschlechtlichem Sex, der sexuellen Aktivität und der Anzahl der Partner_innen. Dass all diese „Gutachten“ nicht nur wissenschaftlich fragwürdig sind, sondern vor allem die Menschenwürde verletzen, stellte Anfang Dezember 2014 auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest.

SENSIBILITÄT. Trotz der Gewalterfahrungen, die Flüchtlinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemacht haben, muss wohl über diese Zugehörigkeit gesprochen werden. Denn es gibt kaum andere Instrumente, Fluchtgründe und ihre „Rechtfertigung“ zu ermitteln, als die eines sensiblen Nachfragens. Vereinzelt findet in Österreich noch ein anderes Instrument bereits Anwendung, so Ewa Dziedzic: „Was wir in Österreich auf NGO-Ebene machen, ist den Beweis dadurch zu erbringen, dass wir  den Behörden klarmachen, dass die betroffene Person in der LGBTI-Community aktiv ist. Insofern haben wir hier ein verstärkendes Instrument aus der Zivilgesellschaft.“

Auch wenn die Dolmetscher_innen, Berater_innen und Richter_innen schon etwas sensibler mit dem Thema umgehen als früher, gibt es immer wieder homo- und transphobe Situationen. So erzählt Ruderstaller von einem Gespräch zu einem Asylantrag: „Einmal hat sich ein Klient von einem Dolmetscher verletzt gefühlt. Auch die Vertrauensperson, die dabei war, empfand die Atmosphäre in dem Gespräch als homophob.“ Aufholbedarf sieht Ruderstaller auch bei der Judikatur. LGBTI-Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern zwar nicht mit harten Strafen rechnen müssen, denen es aber unmöglich gemacht wird, ihr Privat- bzw. Familienleben öffentlich auszuüben, haben auch heute noch eher schlechte Chancen auf einen positiven Asylbescheid: „Da sollten die Asylbehörden sensibler werden“, wünscht sich Ruderstaller: „Man sollte das Privatleben überhaupt nicht verbergen müssen, weil man sonst in der Persönlichkeit stark eingeschränkt wird. Das sollten die Asylbehörden gerade bei Ländern, in denen etwa Homosexualität ein Tabu ist, auch einsehen und Asyl gewähren.“

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien.

„Das Wort Heimat hab ich überhaupt nicht gern“

  • 18.03.2017, 18:59
Esther Bejarano überlebte das KZ Auschwitz und steht auch noch mit 91 Jahren auf der Bühne, um gemeinsam mit der Rap-Combo „Microphone Mafia“ gegen Rechts zu mobilisieren. Als bekennende Antifaschistin erzählt sie von vergangenen und aktuellen Kämpfen gegen den Faschismus.

Esther Bejarano überlebte das KZ Auschwitz und steht auch noch mit 91 Jahren auf der Bühne, um gemeinsam mit der Rap-Combo „Microphone Mafia“ gegen Rechts zu mobilisieren. Als bekennende Antifaschistin erzählt sie von vergangenen und aktuellen Kämpfen gegen den Faschismus.

Denkt sie an den Mord ihrer Eltern, hört sie Beethoven, meistens die Pathetique. Am 25. November 1941 wurden ungefähr tausend Leute am Weg von Breslau ins litauische KZ Kauen gezwungen, sich ausziehen. Und anschließend erschossen. Darunter auch Esther Bejaranos Eltern. Wie ihre Eltern ermordet wurden, erfuhr sie erst im Nachhinein: „Ich hab das schwarz auf weiß, weil die Nazis genau Buch führten darüber, wie sie die Leute ermordeten. Wenn ich das vor mir sehe, will ich nichts mehr wissen. Ich höre mir aber Musik von Beethoven an. Das beruhigt mich wieder. Darum kann ich ohne Musik eigentlich nicht leben.“

Worte, die schwer wiegen, holt man sich die Geschichte der 91-jährigen Auschwitz-Überlebenden in Erinnerung. Denn dass sie ohne Musik den Nationalsozialismus überlebt hätte, ist aus ihren Augen unwahrscheinlich. Zuerst zum Steine schleppen eingeteilt, behauptete sie als eine Akkordeonistin im KZ Auschwitz gesucht wurde, das Instrument zu beherrschen. Spielen konnte sie bis dato nur Klavier und Flöte. Das Akkordeon war neu für sie. Der Blockältesten im KZ, die gleichzeitig Musiklehrerin war, spielte sie den Schlager „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ trotzdem auf Anhieb richtig vor. So kam sie ins Mädchenorchester. „Das war wie ein Wunder“, kommentiert Bejarano rückblickend. Ohne die Aufnahme in das Orchester wäre sie elendig zu Grunde gegangen, ist sie sich sicher.

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Antifaschismus auf der Bühne. Esther Bejarano macht immer noch Musik. Nicht mit dem Akkordeon, sondern mit ihrer Stimme. Zum Beispielim Rahmen des KlezMORE Festivals im Haus der Begegnung Rudolfsheim: Zuerst allein auf der Bühne, aus ihrem Buch „Erinnerungen“ mit lauter und eindringlicher Stimme lesend, gesellen sich nach einer halben Stunde zwei weitere Personen zu ihr auf die Bühne. Auf der einen Seite: Ihr Sohn, Joram Bejarano. Einen glänzend roten Bass in der Hand. Auf der anderen Seite: Kutlu Yurtseven, der auf Türkisch und Deutsch rappt. Auch Yurtseven zählt mittlerweile zur Familie. Er wurde von der 91-jährigen „eingeenkelt“. Denn schon seit sieben Jahren arbeitet Esther Bejarano mit der deutsch-türkisch-italienischen Rapgruppe „Microphone Mafia“ zusammen.

Mensch möchte meinen, eine kleine 91-jährige Frau ginge zwischen zwei groß gewachsenen Menschen unter. Nicht bei Esther Bejarano. Die Aufmerksamkeit ist nach wie vor auf sie gerichtet, wenn sie vom Antifaschismus singt, immer wieder die linke Faust ballend. Jiddische Volks- und Kinderlieder werden hier in einen politischen Kontext gesetzt, Texte von Dramatikern wie Bertolt Brecht oder Nazim Hikmet vertont, bekannte Partisan*innen-Lieder wie Bella Ciao und Avanti Popolo in die Gegenwart gebracht. So zum Beispiel durch ein Solo von Esther Bejarano, dass das laut mitsingende Publikum bei „Avanti Popolo“ leise werden lässt: „Schaut in unsere Augen und seht die Entschlossenheit, hört unseren Protest, unsere Gesänge. […] Es beginnt mit einem leisen Flüstern und endet in einem großen Aufschrei. Wir entlarven falsche Masken, die hinter dunklen Lügen, die Zukunft belasten. Bei euren Maskenball geben wir jetzt den Takt an. Il popolo trionferà. Mit Hand, Herz und Verstand.“

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Wider des Vergessens und Schweigens. Diese falsche Masken, die nicht nur Antifaschist*innen angstvoll in die Zukunft blicken lässt, kommen heute in populistischen Gestalten und Parteien wie in Form des österreichischen Bundespräsident-Kandidaten Norbert Hofer oder der ständig wachsenden rechts-populistischen Partei AfD in Deutschland daher. Mit Blick auf ihre eigene Geschichte ist ihre größte Angst heute, dass die Leute wieder schweigen, dass sich die Geschichte wiederholt: „Für mich sind nicht nur diejenigen Täter, die die Leute ins Gas geschickt, ermordet haben. Für mich sind all jene Täter, die sich nicht gewehrt, die mitgemacht, die geschwiegen haben. Das ist heute wieder so. Darauf muss ich hinweisen“, erklärt Bejarano ihre Motivation, wieso sie auch noch mit 91 antifaschistische Arbeit leistet.

Davon, dass innerhalb der jüdischen Gemeinde Diskussionen geführt werden, dass ein Vergleich der heutigen Zeit und des Nationalsozialismus den Holocaust in all seiner Schrecklichkeit herabwürdigen würde, will sie nichts wissen: „Wenn man schon weiß, was damals geschah, darf man nicht schweigen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es soweit kommen kann, wenn man nicht dagegen ankämpft.“ Auch wenn es am Anfang noch nicht so ist wie vor oder während dem Nationalsozialismus, könne es so weit kommen, fügt sie vehement – immer wieder gegen das Schweigen argumentierend – hinzu. Und dann ist da noch ihre Sorge, es wäre heute gar nicht so schwierig Menschen für rechtsextreme Ideologien zu gewinnen. Zum Beispiel aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit. Viele Arbeitslose seien der „Nährboden“ für Faschist*innen, glaubt Bejarano. Hinzu kommen vom Kapitalismus erzogene Egoist*innen. Die Angst etwas abgeben zu müssen, ist groß und diese Angst wird vom Rechtspopulismus geschürt.

Gegen die rechtspopulistische Angstmache von AfD, FPÖ und Konsorten, gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck bräuchte es daher eine starke antifaschistische Gegenbewegung. Eine, die gemeinsam und nicht gegeneinander kämpft. Zur Zeit seien es noch zu wenige Menschen, daher müsse mensch versuchen alle Antifaschist*innen zu erreichen, zu mobilisieren, erklärt Bejarano bestimmt: „Solange wir Antifaschisten nicht zusammenhalten und an einem Strang ziehen, wird es ganz gefährlich für uns.“

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Entwicklung zur Aktivistin. Antifaschistische Arbeit. Daraus besteht mittlerweile Bejaranos Alltag. Doch das war nicht immer so: Kurz nach Kriegsende wanderte sie in das damalige palästinensische Gebiet und heutige Israel aus und kam erst 1960 wieder nach Deutschland, in das Land der Täter*innen, zurück. Der Hauptgrund für die Rückkehr: Obwohl ihr Mann schon öfters im Krieg war, weigerte er sich gegen Palästina in den Krieg zu ziehen. „Das waren keine Verteidigungskriege mehr, sondern Angriffskriege gegen die Palästinenser“, fasst Bejarano die Entscheidung zusammen. Ihm drohte Gefängnis.

Der Entschluss mitsamt Kinder nach Deutschland zurück zu kommen war trotzdem nicht leicht. Bejarano stellte die Bedingung, es müsse eine Stadt sein in der sie noch nie war. Das hätte sie sonst nicht verkraftet. Also Hamburg. Und selbst so war der Beginn schwierig: „Ich bin mit gemischten Gefühlen nach Deutschland zurück, weil es für mich nach wie vor das Land der Täter ist. Es hat sehr lange gedauert, bis ich überhaupt mit irgendwelchen deutschen Menschen gesprochen habe.“

Und dann kam er doch: Der Moment, den sie selbst als Geburtsstunde der aktiv agierenden Antifaschistin Esther Bejarano bezeichnet: Im Jahr 1978 beobachtete sie, wie die Polizei die NPD schützte, während Gegendemonstrant*innen festgenommen wurden. Geschockt erneut auf Faschismus in Deutschland zu treffen, trat sie einen Tag darauf der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ bei. Anfang der 1980er gründete sie mit ihren Kindern die Band „Coincidence“. Auch damals lag der Fokus auf jüdischen, auf antifaschistischen Lieder.

Danach folgte ihre Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen – in Fußballclubs, Vereinen und in Schulen. Letzteres verbunden mit Anlaufschwierigkeiten wie Bejarano erzählt: „Am Anfang war es so, dass wenn ich in die Schulen gehen wollte, man mich einfach nicht reingelassen hat. Es gab Direktoren, die sagten, dass das Thema Tabu ist. Das war noch vor etwa zwanzig Jahren so.“ Mittlerweile erhält sie Dankbarkeit von den Kindern und Jugendlichen, dass sie ihre Geschichte mit ihnen geteilt hat.

Eine 91 Jahre lange Geschichte, vereint in einer Person, die den Faschismus in all seiner Grausamkeit erleben musste und heute für ein „Nie wieder Faschismus“ unermüdlich kämpft. Darüber was der Begriff Heimat für sie bedeutet, hat sie sich – so scheint es – schon öfters Gedanken gemacht. Ohne langes Zögern antwortet Bejarano: „Es ist so, dass ich das Wort Heimat überhaupt nicht gern habe. Das ist die erste Sache. Ich könnte sagen, dass Deutschland meine Heimat ist, weil ich hier geboren wurde. Aber solange noch so viele Nazis hier herum laufen, kann es noch nicht meine Heimat sein. Israel könnte meine Heimat sein, wenn Israelis und Palästinenser gemeinsam in einem Land in Frieden leben. Das wär‘ mir am Liebsten. Aber so kann auch Israel momentan nicht meine Heimat sein.“

Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

 

What is love?

  • 15.04.2014, 09:36

Ein Versuch gegen den normativen Strich zu lieben

Die Liebe ist ein seltsames Spiel beschloss Connie Francis schon 1960. 1993 fragte sich Haddaway What is love? und hatte keine Antwort parat. 2008 kommt Amanda Palmer der Liebe mit den Zeilen I google you whenever I'm alone and feeling blue näher. Die Liebe ist in der Populärkultur ein zentrales Thema. Aber auch in der Wissenschaft bleibt die Liebe schwammig und wird unterschiedlich theoretisiert: Niklas Luhmann verbindet die Liebe mit den romantischen Begriffen des symbolisch generierten Kommunikationsmediums und Eva Illouz braucht über 400 Seiten um sich der Frage Warum [moderne] Liebe weh tut soziologisch zu nähern. Kein Wunder, dass mensch sich bei all diesen  Vorschlägen und Thesen wie Liebe zu sein hat, wie und was sie ist, wie eine Beziehung funktioniert oder funktionieren sollte und welchen Stellenwert Sex, aber auch Freund_innenschaft dabei hat, verwirrt wird. Mir geht es zumindest so. Ich versuche mich trotz der Verwirrung abseits vorgegebener Normen mit den Themen Beziehung, Liebe und Sexualität auseinander zu setzen. Zumindest in meinem Kopf. Denn ja: als Anfängerin im Bereich „alternative Beziehungskonzepte“, wie ich all meine Gedanken zu diesem Thema[1] zusammenfasse, ist und bleibt die Liebe für mich höchst seltsam. Vor diesem Hintergrund kann der vorliegende Text auch als verschriftlichte Manifestation eines großen Fragezeichens betrachtet werden. Dabei halte ich es wie Haddaway und spare die Antworten eher aus.

 

 

Womit also beginnen? Kaum mit einer Definition von der Liebe. Ich glaube da eher an die Liebe, zwar als ein Gefühl, aber auch als ein Konstrukt – wie so vieles kontextabhängig, kulturell und historisch wandelbar oder wie es im Manifest der Anti-Liebe  heißt: „DIE Liebe gibt es nicht. […] In der Geschichte der Menschheit gab es verschiedene Vorstellungen und Konzepte von Liebe, die von einer rein funktionalen Zweckliebe über die platonische Liebe bis zur romantischen Liebe von heute reicht. Dazwischen gab es sicherlich auch viele verschiedene Ideen und Konzepte von Liebe, die völlig abweichend zu den vorherrschenden Vorstellungen waren. Von DER Liebe zu sprechen [...], ist deshalb absurd.“ Und nun? Was hat es mit diesem schönen und viel zu oft auch schmerzhaften Gefühl auf sich? Jenes Gefühl, das uns nächtelang wach hält und Amanda Palmer folgend wohl auch den ein oder anderen geliebten Namen googeln lässt? Ich schlage vor, Liebe einfach als ein vielschichtiges und komplexes Gefühl zu verstehen, das sich unterschiedlich ausdrücken kann, mit Körperlichkeit verbunden sein oder intellektuelle oder emotionale Zuneigungen beinhalten kann; aber auch ein Gefühl, das nicht von der Vereinnahmung einer kapitalistischen Marktlogik sowie von Normalisierungen gefeit ist. Ein Gefühl, welches auch in Machtstrukturen verwoben ist. Wieso wird in den zitierten Liedern, in zahlreichen Serien, im Hollywood-Kino aber auch in der boomenden Ratgeberindustrie von der romantischen Liebe ausgegangen, welche nur innerhalb einer (gesellschaftlich diktierten heteronormativen) Zweierbeziehung gelebt werden kann? Warum braucht es als Basis dafür die sogenannte Treue? Es scheint so, dass Liebe, wie eine Ware, nur in geringen Mengen verfügbar ist, dass sie begrenzt ist und erst durch Exklusivität wertvoll wird. Nur ich, und sonst keine_r darf die Sexualität des_der Partner_in besitzen. Dringt hier nicht der kapitalistische Gedanke des unbedingten Haben-Müssens bis in unsere Gefühlswelt und unsere erotischen Phantasien ein?

 

 

Wollen wir Eva Illouz Glauben schenken, müssen wir hier mit einem eindeutigen „Ja“ antworten. Ihr zufolge ist die sexuelle Attraktivität in Bezug auf Beziehungen und Begehren erst durch die Konsumkultur eine der zentralen Ebenen auf der Liebesangelegenheiten ausgetragen werden: „Die Konsumkultur machte das Begehren zum Zentrum der Subjektivität, während sich die Sexualität in eine Art allgemeine Metapher des Begehrens verwandelt.“ Was wäre also, wenn ich mich von der Utopie verabschiede, dass all meine Bedürfnisse von einer Person alleine abgedeckt werden können? Das Schlimmste, – so zumindest in meiner Vorstellung – das passieren könnte, wäre unterschiedlichste Arten intensiver Beziehungen zu gewinnen: Ich könnte mit einer Person einen tiefgehenden intellektuellen Austausch genießen, mit einer  anderen verschiedene sexuelle Phantasien leben, mich wieder anderen emotional hingeben – weil es mit je einem anderen Menschen auf einer anderen Ebene am Besten funktioniert und nur selten mit einer auf allen Ebenen. Also versuche ich mich von der RZB-Doktrin, von dem Gedanken des „Egal wie – Hauptsache ich besitze!“ zu lösen und ignoriere nicht, dass eine RZB vielleicht gar nicht mehr so klappt wie ich es mir einreden will; versuche damit Christiane Nösingers Dystopie zu entgehen, versuche mit meinem Partner oder meiner Partnerin nicht zu Menschen zu werden, „[...] die wie Steine nebeneinandersitzen, die in Pizzerien verzweifelt das Besteck streicheln, um sich nicht anschauen und miteinander sprechen zu müssen.“ Auch das Problem der Eifersucht könnte durch das Verabschieden von RZBs gelöst werden. Sind wir nicht mehr abhängig von den Gefühlen und der Bestätigung einer Person um unser Selbstwertgefühl durch den Blick des Einen oder der Einen zu erhöhen, ist vielleicht auch die Angst vor Veränderungen nicht mehr so groß, können neue soziale Erfahrungen des Gegenübers nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung gesehen werden.

 

 

Gut, wenn nicht so, wie dann? Schon wieder ein ganz großes Fragezeichen. Aber dennoch: Das Auseinandernehmen und Reflektieren von Beziehungsnormen ist ein hilfreicher Schritt für mich. Freund_innenschaften, Affären, Paarbeziehungen im Sinn der RZB, Verwandtschaftsbeziehungen sind normalisiert. Sie werden in einen prädiskursiven Bereich verlagert und scheinen daher von Natur aus klar abgesteckt. Es ist festgelegt, welche Zuneigung, welche Berührung, welche Worte in welchen Beziehungen als angebracht gelten. Mensch denke auch hier an die zahlreichen Ratgeber_innenbücher, die uns die Regeln der verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen näher zu bringen versuchen. Ist es unmöglich sich diesen Regeln, den gesellschaftlichen Liebeskonventionen und -codes zu widersetzen und offen zu lassen, was verschiedenste Begegnungen für mich und mein jeweiliges Gegenüber beinhalten können, aber niemals müssen? Was ist wenn ich jemanden streichle ohne ihn oder sie zu küssen?  Wenn ich mit jemandem einfach nur Händchen halten will ohne dass ich und wir und unser Umfeld uns als Paar begreifen? Wenn ich mit jemandem ficke ohne kuscheln zu wollen? Es gäbe vielleicht keine normalisierte und dadurch auch hierarchisierte Abfolge von Berührungen und Zuneigungen mehr, keine Festlegung wo und vor allem wie wir beginnen müssen jemanden zu lieben und vielleicht könnte es auch nicht mehr wichtig sein, wie viele Menschen welchen Geschlechts wir lieben oder sexuell attraktiv finden.

 

Die Lösung all dieser Gedanken (und somit eine mögliche Antwort) könnte lauten: „Ja, wo ist'n das Problem? Kannste ja eh machen was du willst.“ Und sehen wir mal vom gesellschaftlichen Druck ab, könnte mensch ja tatsächlich einfach tun. Aber hej: nur weil ich versuche RZBs den Rücken zuzukehren, bedeutet dies nicht, dass meine verinnerlichten Vorstellungen von und Erwartungen an Beziehungen sich in Luft auflösen. Die Theorie ist klar und einleuchtend für mich, aber neige ich nicht trotzdem zu dem, was „alle“ haben (wollen)? Auch wenn ich noch so viele Bücher à la „The ethical slut“ lese, macht das zwar Spaß; die tatsächliche Umsetzung ist und bleibt trotzdem schwierig. Habe ich nicht trotzdem Lust, mich mal in die Arme einer anderen Person legen zu können, der ich vollkommen vertraue – egal auf welcher Ebene? In einem offenen Lernprozess, der andauert und meine eigentlich nur sehr gering vorhandene Geduld stark auf die Probe stellt, versuche ich der  Kommunikation einen großen Stellenwert einzuräumen; meine eigenen Bedürfnisse mit Freude, aber auch mit Schrecken zu entdecken, diese auch mitzuteilen; eingefahrene Verhaltensmuster heraus zu filtern und immer wieder neu zu hinterfragen; zu experimentieren; der Versuch für mich zu klären womit ich mich wohl fühle, welche Beziehungen mir auf welcher Ebene guttun, welche Menschen welche Bedürfnisse abdecken können. Erst dann ist es vielleicht möglich, gegen einen (hetero-)normativen Strich zu kuscheln, zu lieben, zu küssen, zu ficken, die Liebe als etwas Seltsames hinzunehmen und die Frage What is love? unbeantwortet zu lassen.

 

 

Valentine Auer studiert Theater-, Film- und Medientheorie und ist
Redakteurin der Zeitschrift Paradigmata.

Carlotta Weimar studiert Internationale Entwicklung und illustriert
nebenbei.

 

Links und Lesetipps:

alek und die katrina von fremdgenese: Die Romantische Zweierbeziehung. Beleuchtung einer trotzigen linken Praxis. http://www.copyriot.com/sinistra/magazine/sin05/rzb.html [20.03.2014]

Arsen 13: Manifest der Anti-Liebe. http://ainfos.de/sectionen/crimethinc/Anti-Liebe.html [24.08.2012]

Illouz, Eva (2012): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Projektwerkstatt Reichskirchen Saasen: Beziehungsweise frei.  http://www.projektwerkstatt.de/gender/texte/a5_beziehung.html [20.03.2014]

Rösinger, Christiane (2012): Liebe wird oft überbewertet. Ein Sachbuch. Frankfurt a. Main: Fischer.

Tost, Gita: Nehmen wir einmal an... Probleme bürgerlicher Zweisamkeit und deren Überwindung. http://www.graswurzel.net/241/liebe.shtml [20.03.2014]

 

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