Rita Korunka

Die Feministin auf der Matte

  • 30.09.2012, 03:02

progress besuchte das Training der Vienna Samurais und traf Judoka Hilde Drexler bei ihrer Vorbereitung auf Olympia.

progress besuchte das Training der Vienna Samurais und traf Judoka Hilde Drexler bei ihrer Vorbereitung auf Olympia.

Als wir an einem Dienstag kurz vor 19 Uhr zu den café+co Vienna Samurais kommen, hatten wir uns damit abgefunden, sie nicht zu  treffen. Hilde Drexler, 29, eine von zwei österreichischen Olympiastarterinnen im Judo, trainiert zur Zeit in Linz. Dennoch wimmelt es beim Wettkampftraining ihres Vereins in Wien Leopoldstadt nur so von weiblichen Judotalenten, Valentina Schauer zum Beispiel, die vor kurzem Staatsmeisterin in der leichtesten Gewichtsklasse wurde.

Überaschenderweise taucht Hilde Drexler dann aber doch auf. „Das macht sie manchmal“, sagt eine grinsende junge Frau neben ihr und umarmt sie. Auf dem Weg in die Garderobe wird Hilde Drexler mindestens zwanzig weitere Male geherzt. Nach weiteren zehn Minuten hat auch sie es geschafft, sich ihren Kimono anzuziehen. Dann kann es endlich losgehen: Die Meister verneigen sich, die SchülerInnen verneigen sich. Das Training beginnt.

Gemeinsam sind wir stärker. Aus dem Japanischen kommend, bedeutet Judo wörtlich „der sanfte Weg“, zusammengesetzt aus dem Wort ju, das als „sanft“, „edel“ oder „vornehm“ übersetzt werden kann, und do, das „Weg bedeutet“. Die junge Frau, die Hilde Drexler zuvor als erste begrüßt hat, weiß das alles. Sie heißt Corina Korner und ist die Tochter von Leopold Korner, dem Vereinsobmann. Im Dōjō, der Trainingshalle, in der japanische Kampfkunst gelehrt wird, ist sie aufgewachsen. Heute ist die 25-Jährige selbst Trainerin und als eine von sechs Frauen unter 70 Männern Kampfrichterin in der Bundesliga.

„Da gibt’s schon einige Machos“, sagt Korner, die sich den Respekt unter den Kollegen mit guten Leistungen erarbeiten musste. Während die Trainingsgruppe mit Judorollen aufwärmt, erzählt sie die Geschichte eines älteren Sportfunktionärs, der sie laut auslachte, als sie „ganz vorsichtig“ die Idee einer Damen-Bundesliga zur Sprache brachte, die es bis dato nicht gibt. Ein ungerechter Zustand, der angesichts der internationalen Erfolge der österreichischen Judodamen verwundert und sich auch aus der Geschichte nicht auf den ersten Blick erschließt. In Wien sind die Vienna Samurais der einzige Klub mit einer Damenkampfmannschaft. Der  Verein hat eine lange Tradition im Damenjudosport: 1958 erlangte Edith Feslinger als erste Österreicherin den Schwarzen Gürtel.

1963 schlossen sich die Wiener Damen zusammen und gründeten in der Pazmanitengasse 17 den ersten österreichischen Damen-Judoclub. 1984 und 1988 gewann der Wiener Peter Seisenbacher zweimal bei den Olympischen Spielen und löste einen Judoboom aus. In dieser Zeit schossen Vereine und Leistungsteams wie Pilze aus dem Boden, die meisten davon allerdings Männerteams, weil sich zu Beginn nicht viele Mädchen für den Sport interessierten. Auch bei den Vienna Samurais entstand in dieser Zeit eine Herrenmannschaft, die den Frauen Konkurrenz machte und diese mit ihren Erfolgen überholte. So formten sich die Strukturen, die Mädchen den Einstieg in den Sport erschwerten. In den 1990er-Jahren, erinnert sich Corina Korner, sei sie oft das einzige Mädchen im Training im Verein gewesen. Dass aus einer zunächst nicht existierenden Gruppe binnen zehn Jahren denoch eine große wurde, habe mit dem Engagement ihres Vaters zu tun und mit glücklichen Zufällen: Hilde Drexler war so ein glücklicher Zufall. Sie kam als Achtjährige zu den Vienna Samurais, weil ihre Mutter wollte, dass sie ihre überschüssigen Energien loswird. Als noch ein paar weitere weibliche Talente entdeckt wurden und sich erste Erfolge bei Turnieren einstellten, wechselten aus anderen Vereinen weitere starke Kämpferinnen zu den Vienna Samurais.

Daraus ist mit der Zeit eine eingespielte Truppe aus Freundinnen entstanden, die zusammenhält und sich gegenseitig stärkt. Das wichtigste Turnier der österreichischen Judodamen sind die nationalen Vereinsmeisterschaften. 2011 und 2012 haben die Vienna  Samurais den Bewerb gewonnen und sich gegen die harte Konkurrenz aus Oberösterreich durchgesetzt. Oberösterreich ist daseinzige Bundesland mit einer eigenen Landesliga und Heimat von Sabrina Filzmoser, der zweiten Olympiastarterin und österreichischen „Judo-Übermutter“.

Tiefschläge und Auferstehungen. Das Highlight jedes Trainings sind die Übungskämpfe, die randori genannt werden. JedeR kämpft mehrere Runden, Mädchen oder Burschen aus derselben Gewichtsklasse treten gegeneinander an, manche haben fixe TrainingspartnerInnen. Valentina Schauers fixe Trainingspartnerin ist Jacqueline Raab. Im März dieses Jahres wurden sie beide Staatsmeisterinnen. Vor einigen Wochen verletzte sich Letztere allerdings im Training schwer: Jaqueline Raab fiel unglücklich, ein anderer Kämpfer trat ihr aus Versehen in den Nacken. Diagnose Querschnittlähmung. In einer Notoperation legten die Ärzte ihr Rückenmark wieder frei und erhöhten so die minimalen Chancen auf eine Genesung. Nach zwei Wochen auf der Intensivstation kann sie wieder erste Gehversuche machen. Valentina Schauer hat sie vor dem Training im Spital besucht. Sie macht sich noch immer Vorwürfe, weil sie genau an jenem Tag im Training fehlte, an dem der Unfall passierte. Ob sie ihre Trainingspartnerin wieder zurückgewinnen wird, ist für sie zweitrangig. Im Moment wünscht sie sich nur, dass ihre beste Freundin wieder ein normales Leben führen kann.

Als das Training zu Ende ist, sitzt Hilde Drexler schweißgebadet und an die Wand des Turnsaals gelehnt am Boden. Sie ist zufrieden, das Training sei wieder mal super gewesen, die Form stimme. Bis Olympia müsse sie nur in den Wettkämpfen noch lockerer werden. Jetzt sei sie im Wettkampf so verkrampft, dass sie die Leistungen aus dem Training bei Turnieren nicht abrufen könne. Um an ihrer mentalen Schwäche zu arbeiten, wird sie noch in einigen Weltcups antreten und mit ausländischen Damennationalmannschaften trainieren.

Reale Medaillenchancen habe sie keine, gibt sie sich uerst bescheiden. Aber im Judo wisse man ja nie. Diese Unvorhersehbarkeit liebe sie an ihrem Sport, genauso wie die unendliche Vielfalt an Kampf- und Wurftechniken. Sätze, die aus ihrem Mund  selbstverständlich klingen, obwohl sie selbst durch Höhen und Tiefen gegangen ist. Vor sechs Jahren stand Drexler kurz vor dem Karriereende. Damals hatte sie gerade vier Jahre Pause hinter sich, zwei bedingt durch ein Burn-out, zwei weitere bedingt durch eine Knieverletzung. Die völlige Erschöpfung kam mit 18, als sie den Junioreneuropameistertitel in der Tasche hatte und auf dem besten Weg zu einer internationalen Profikarriere war. Sehr ehrgeizig sei sie gewesen, sensibel auch. Es gab Probleme mit den Trainern, die ebenso ehrgeizig waren und sehr oft laut wurden. Trotzdem wollte sie neben dem harten Training noch Germanistik studieren. Und irgendwann wollte sie nie wieder Judo machen und nie wieder Leistungssportlerin sein. Drexler verschenkte alle ihre Kimonos, danach ging sie zwei Jahre nicht einmal laufen.

In der Philosophie des Judo gibt es eine Weisheit, die besagt, dass ein Judoka durch seine innere Haltung niemals aufhört, Judo zu praktizieren, auch wenn er nicht im Dōjō ist. 2006 fühlte Drexler,dass für sie der Zeitpunkt gekommen war, in den Dōjō zurückzukehren. Damals begriff sie auch, dass sie als eine von wenigen in der privilegierten Position war, eine Sportart, die sie liebte, professionell ausüben zu können. Ihre Olympiaqualifikation durch einen siebnten Platz und einen dritten Platz bei Weltmeisterschaften freut sie deshalb besonders. „Jeder Erfolg zählt jetzt doppelt“, sagt Drexler und lächelt entspannt.

Feministische manifeste. An frauenfeindliche und abschätzige Bemerkungen hat sich Hilde Drexler im Laufe ihrer Karriere gewöhnt: „Sexismus im Sport ist nach wie vor allgegenwärtig. Jeder, der etwas anderes behauptet, lügt.“ Früher sei sie schon ausgerastet,  wenn sich Sportskollegen am Frühstückstisch über fußballspielende Frauen lustig gemacht haben. Heute sieht sie die Dinge gelassener, meint, sie sei abgestumpft: „Es kostet einfach zu viel Energie. Wenn du immer zurückredest, machen sie dich doch noch mehr fertig.“ Von typischen Klischees, die Burschen kampfsporttreibenden Mädchen unter die Nase reiben, kann Drexler ein Lied singen: Lesbisch, aggressiv und dominant seien lange Zeit die drei wichtigsten Eigenschaften gewesen,die Männer  glaubten, bei ihr erkannt zu haben.

Um sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen, hat sie irgendwann einfach nicht mehr erzählt, dass sie Sportlerin ist. „Dann haben sie mich halt gegoogelt und es wurde wieder nichts“, erzählt sie und kann heute darüber lachen. Mit Mädchen, sagt sie, habe sie nie Probleme gehabt: „Nicht einmal die geschminktesten Tussis haben mich je beleidigt. Im Gegenteil, eigentlich bewundern die mich immer.“ Darüber freut sich Drexler und wird dennoch zur Pessimistin, wenn sie an die Zukunft des österreichischen Damenjudosports denkt. Es brauche viel mehr tolerante, intelligente Männer im Judozirkus, die bereit sind, in der Frauenförderung mitzuarbeiten. Sonst werde es „normal“ bleiben, dass die Zuschauerränge bei Meisterschaften schon vor dem letzten Kampf leer sind, wenn der ein Frauenkampf ist. „Wo sind diese toleranten, intelligenten Männer?“, fragt sie sich und philosophiert über feministische Manifeste, die sie später schreiben will, wenn sie ihre Karriere beendet hat und „ganz sicher“ Germanistik studiert.

Verzögerte Erinnerung

  • 28.09.2012, 00:24

Etwa 8000 tschechische Roma fielen zwischen 1939 und 1944 dem Holocaust zum Opfer. Über einen Kampf ums Gedenken, bei dem kein Ende in Sicht ist.

Etwa 8000 tschechische Roma fielen zwischen 1939 und 1944 dem Holocaust zum Opfer. Über einen Kampf ums Gedenken, bei dem kein Ende in Sicht ist.

20 Kilometer nördlich von Brünn liegt Hodonín. Mitten im böhmisch-mährischen Plateau gelegen, windet sich - von Süden kommend - eine Landstraße zu der kleinen, versteckt gelegenen Gemeinde hinauf. Verlässt man Hodonín nordöstlich auf derselben Straße, gelangt man nach etwa 500 Metern zu einer Abzweigung, die in den Wald hineinführt. Wer an dieser Stelle abbiegt, kommt zu einem umzäunten Areal, das, auf einem Abhang gebettet und von Bäumen umgeben, von der Straße aus nicht sichtbar ist. Hinter dem Zaun befinden sich ein großes Haus und mehrere kleine Holzhütten. In der Mitte eine etwas größere Baracke mit gemauerten Schornsteinen, daneben ein Swimmingpool. Keine Menschenseele. Vor dem Zaun ein großer Stein mit goldener Inschrift.

Zwischen Mai und August 1943 wurden aus Hodonín 849 Menschen in Lastwägen direkt nach Auschwitz II (Birkenau) deportiert. Im Protektorat Böhmen und Mähren war Hodonín eines von zwei „Zigeunerlagern“, in denen gemäß der NS-deutschen Reichsverordnung „Bekämpfung der Zigeunerplage“ Frauen, Männer und Kinder inhaftiert waren, die als „Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ oder „nach Zigeunerart Umherziehende“ klassifiziert wurden. Im mährischen Hodonín und dem böhmischen Lager Lety leisteten die InsassInnen unter einem rigorosen Strafregiment und verheerenden hygienischen Bedingungen Zwangsarbeit. Es brachen Epidemien aus, Hunderte starben an Typhus und Fleckfieber. Etwa 8000 tschechische Roma, deren Namen in Listen erfasst wurden, kamen nach Auschwitz. Knapp 1000 überlebten, 600 kehrten in ihre Heimat zurück.

SPÄT EINGESTANDENE SCHULD. Da der Holocaust in den Schulbüchern der ČSSR, der tschechoslowakischen sozialistischen Republik, gänzlich ausgespart wurde, war es auch lange Zeit ein Tabu, über die Verfolgung von Angehörigen der Roma-Minderheit zu sprechen. Gedenken fand bis zur Revolution 1989 ausschließlich im geheimen Kreis der Betroffenen statt, daran änderte sich auch in der Tschechoslowakei nach der Wende zunächst nichts. Der Knalleffekt kam 1994, als Paul Polansky, ein amerikanischer Hobbyhistoriker, den tschechischen Staat der Vertuschung eines Völkermords bezichtigte. Eine Gruppe ehemaliger Dissidenten griff Polanskys Anschuldigungen auf und erhob Anklage gegen die Tschechische Republik. Erstmals wurde die tschechische Bevölkerung, und nicht, wie zuvor, die deutschen Nazis, offen mit der Frage der Schuld und der MittäterInnenschaft konfrontiert. Die Untersuchungen ergaben, dass an jeglichen Elementen der Verfolgung - von der Administration bis zu den Erschießungskommandos in den Lagern - durchwegs tschechische BeamtInnen beteiligt gewesen waren. Unter den Überlebenden und jenen geschätzt 300.000 slowakischen Roma, die heute in Tschechien leben, überwog ab diesem Zeitpunkt die Angst, Opfer rassistischer Übergriffe zu werden: Insbesondere nach der Gründung der Republik erklomm der Hass gegen Roma als lebendiges Relikt einer ungeliebten Ära neue Höhen. Die meisten Betroffenen der NS-Verfolgung, die als ZeitzeugInnen für historische Recherchen helfen wollten, baten um Anonymität. Dennoch wurde 1998 das „Komitee für die Entschädigung des Roma-Holocaust“ gegründet, dessen Präsident Čeněk Růžička, Sohn eines Überlebenden des KZ Lety, seither der wichtigste Ansprechpartner auf Seiten der Roma ist. 2001 erhielten erstmals auch Roma Entschädigungszahlungen, die Tschechien seit Ende der 1990er an Holocaust-Opfer zahlte. Der öffentliche Diskurs um die Erinnerung kam erst nach dem EU-Beitritt Tschechiens ins Rollen, als im Brüsseler Sitz des EU-Parlaments die Ausstellung „Lety - Die Geschichte eines verschwiegenen Völkermords“ gezeigt wurde. Initiator war Milan Horáček, gebürtiger Tscheche und Europaabgeordneter für die deutschen Grünen. In Tschechien entpuppte sich der amtierende konservative Präsident Václav Klaus als Vertreter einer revisionistischen Position, der äußere Umstände (Flecktyphus-Epidemie in einem Lager für „Arbeitsscheue“ des Protektorats) für den Tod von Lagerinternierten machte. Dieses Paradigma fiel, als der damalige sozialdemokratische Premierminister Jiří Paroubek öffentlich zu Protokoll gab, dass das ehemalige Lager wohl tatsächlich ein KZ gewesen sei. Die Ausstellung wurde daraufhin in den Tschechischen Senat verlegt, und Paroubek setzte mit seinem Besuch eine symbolische Geste der Anerkennung.

DAS SYMBOL LETY. Wer in Tschechien Lety hört, denkt jedoch sofort an die sich heute dort befindende Schweinemast. In den vergangenen Jahren konnte die tschechische Regierung das Versprechen, die Farm den Besitzern abzukaufen und dem Komitee zur Errichtung eines Mahnmals zur Verfügung zu stellen, dazu nutzen, mit der antiziganistisch gefärbten Einstellung der Mehrheitsbevölkerung zu spielen. Als 2008 der Kauf des Areals kurz bevorstand, verlautbarte Premier Paroubek, man wolle die angeblich benötigten 25 Millionen Dollar doch lieber in das Bildungsniveau sozial benachteiligter Roma-Kinder investieren. Seit einigen Jahren fragt das Europäische Parlament regelmäßig nach „Fortschritten“ in der Sache Lety. Der Grund dafür ist, dass eine Resolution des Europäischen Parlaments, die allgemeine Standards für einen menschenwürdigen Umgang mit der europäischen Roma- und Sinti-Minderheit definierte, als einzige konkrete Forderung an einen konkreten Mitgliedsstaat die Schließung der Farm enthielt.

Um von Lety abzulenken, bemühte sich die tschechische Regierung um eine „Ersatzleistung“, was 2009 den Lagerort Hodonín zurück auf die Bildfläche brachte. Es sollte ein „internationales Forschungs- und Ausbildungszentrum“ für Schulklassen auf dem Arsenal entstehen. Doch auch drei Jahre später sucht man dieses vergebens. Nur der Gedenkstein gibt etwaigen BesucherInnen ein sicheres Indiz, dass sie hier überhaupt richtig sind. Seitens der Mediensprecherin des Museums heißt es auf Anfrage, dass man „mit dem Projekt schon seit Längerem nichts mehr zu tun“ habe. „Bitte wenden Sie sich an das Pädagogische Museum in Prag.“ Der Verantwortliche in Prag kann zu seiner eigenen Arbeit keine nähere Auskunft geben, man beschäftige sich aber intensiv mit den Plänen für eine Gedenkstätte.

EUROPÄISCHE WILLKÜR? Die Sturheit im Umgang mit Lety und die zeitweilige Ignoranz gegenüber Forderungen der Hinterbliebenen fügt sich gut in ein Bild Tschechiens als Land ein, dessen Probleme von der wachsenden Zahl gewaltsamer rassistischer Übergriffe bis zur selbstverschuldeten Ohnmacht gegenüber einer verelendeten und zusehends sozial isoliert lebenden Minderheit reichen. Was dabei schnell übersehen wird: „Zigeunerlager“ gab es nicht nur in Tschechien. Und: Antiziganismus ist ein europäisches Problem, das alle EU-Mitgliedstaaten betrifft. In Österreich wurde zuletzt wegen des Verbots des sogenannten „bandenmäßigen Bettelwesens“ über die Kriminalisierung einer ohnehin stigmatisierten Bevölkerungsgruppe - nämlich jener der Roma und Sinti - diskutiert. Im burgenländischen Lackenbach waren nach dem „Anschluss“ 2300 Roma unter KZ-ähnlichen Bedingungen inhaftiert. 1941 erfolgte die Deportation von 5000 Burgenland-Roma in das Ghetto Łódź in Polen. Niemand überlebte. Weitere 2900 wurden 1943 direkt nach Auschwitz deportiert. In Lackenbach steht schon lange ein Mahnmal. Ob es jemand kennt?

Verzögerte Erinnerung

  • 13.07.2012, 18:18

Etwa 8000 tschechische Roma fielen zwischen 1939 und 1944 dem Holocaust zum Opfer. Über einen Kampf ums Gedenken, bei dem kein Ende in Sicht ist.

20 Kilometer nördlich von Brünn liegt Hodonín. Mitten im böhmisch-mährischen Plateau gelegen, windet sich - von Süden kommend - eine Landstraße zu der kleinen, versteckt gelegenen Gemeinde hinauf. Verlässt man Hodonín nordöstlich auf derselben Straße, gelangt man nach etwa 500 Metern zu einer Abzweigung, die in den Wald hineinführt. Wer an dieser Stelle abbiegt, kommt zu einem umzäunten Areal, das, auf einem Abhang gebettet und von Bäumen umgeben, von der Straße aus nicht sichtbar ist. Hinter dem Zaun befinden sich ein großes Haus und mehrere kleine Holzhütten. In der Mitte eine etwas größere Baracke mit gemauerten Schornsteinen, daneben ein Swimmingpool. Keine Menschenseele. Vor dem Zaun ein großer Stein mit goldener Inschrift.

Zwischen Mai und August 1943 wurden aus Hodonín 849 Menschen in Lastwägen direkt nach Auschwitz II (Birkenau) deportiert. Im Protektorat Böhmen und Mähren war Hodonín eines von zwei „Zigeunerlagern“, in denen gemäß der NS-deutschen Reichsverordnung „Bekämpfung der Zigeunerplage“ Frauen, Männer und Kinder inhaftiert waren, die als „Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ oder „nach Zigeunerart Umherziehende“ klassifiziert wurden. Im mährischen Hodonín und dem böhmischen Lager Lety leisteten die InsassInnen unter einem rigorosen Strafregiment und verheerenden hygienischen Bedingungen Zwangsarbeit. Es brachen Epidemien aus, Hunderte starben an Typhus und Fleckfieber. Etwa 8000 tschechische Roma, deren Namen in Listen erfasst wurden, kamen nach Auschwitz. Knapp 1000 überlebten, 600 kehrten in ihre Heimat zurück.

SPÄT EINGESTANDENE SCHULD. Da der Holocaust in den Schulbüchern der ČSSR, der tschechoslowakischen sozialistischen Republik, gänzlich ausgespart wurde, war es auch lange Zeit ein Tabu, über die Verfolgung von Angehörigen der Roma-Minderheit zu sprechen. Gedenken fand bis zur Revolution 1989 ausschließlich im geheimen Kreis der Betroffenen statt, daran änderte sich auch in der Tschechoslowakei nach der Wende zunächst nichts. Der Knalleffekt kam 1994, als Paul Polansky, ein amerikanischer Hobbyhistoriker, den tschechischen Staat der Vertuschung eines Völkermords bezichtigte. Eine Gruppe ehemaliger Dissidenten griff Polanskys Anschuldigungen auf und erhob Anklage gegen die Tschechische Republik. Erstmals wurde die tschechische Bevölkerung, und nicht, wie zuvor, die deutschen Nazis, offen mit der Frage der Schuld und der MittäterInnenschaft konfrontiert. Die Untersuchungen ergaben, dass an jeglichen Elementen der Verfolgung - von der Administration bis zu den Erschießungskommandos in den Lagern - durchwegs tschechische BeamtInnen beteiligt gewesen waren. Unter den Überlebenden und jenen geschätzt 300.000 slowakischen Roma, die heute in Tschechien leben, überwog ab diesem Zeitpunkt die Angst, Opfer rassistischer Übergriffe zu werden: Insbesondere nach der Gründung der Republik erklomm der Hass gegen Roma als lebendiges Relikt einer ungeliebten Ära neue Höhen. Die meisten Betroffenen der NS-Verfolgung, die als ZeitzeugInnen für historische Recherchen helfen wollten, baten um Anonymität. Dennoch wurde 1998 das „Komitee für die Entschädigung des Roma-Holocaust“ gegründet, dessen Präsident Čeněk Růžička, Sohn eines Überlebenden des KZ Lety, seither der wichtigste Ansprechpartner auf Seiten der Roma ist. 2001 erhielten erstmals auch Roma Entschädigungszahlungen, die Tschechien seit Ende der 1990er an Holocaust-Opfer zahlte. Der öffentliche Diskurs um die Erinnerung kam erst nach dem EU-Beitritt Tschechiens ins Rollen, als im Brüsseler Sitz des EU-Parlaments die Ausstellung „Lety - Die Geschichte eines verschwiegenen Völkermords“ gezeigt wurde. Initiator war Milan Horáček, gebürtiger Tscheche und Europaabgeordneter für die deutschen Grünen. In Tschechien entpuppte sich der amtierende konservative Präsident Václav Klaus als Vertreter einer revisionistischen Position, der äußere Umstände (Flecktyphus-Epidemie in einem Lager für „Arbeitsscheue“ des Protektorats) für den Tod von Lagerinternierten machte. Dieses Paradigma fiel, als der damalige sozialdemokratische Premierminister Jiří Paroubek öffentlich zu Protokoll gab, dass das ehemalige Lager wohl tatsächlich ein KZ gewesen sei. Die Ausstellung wurde daraufhin in den Tschechischen Senat verlegt, und Paroubek setzte mit seinem Besuch eine symbolische Geste der Anerkennung.

DAS SYMBOL LETY. Wer in Tschechien Lety hört, denkt jedoch sofort an die sich heute dort befindende Schweinemast. In den vergangenen Jahren konnte die tschechische Regierung das Versprechen, die Farm den Besitzern abzukaufen und dem Komitee zur Errichtung eines Mahnmals zur Verfügung zu stellen, dazu nutzen, mit der antiziganistisch gefärbten Einstellung der Mehrheitsbevölkerung zu spielen. Als 2008 der Kauf des Areals kurz bevorstand, verlautbarte Premier Paroubek, man wolle die angeblich benötigten 25 Millionen Dollar doch lieber in das Bildungsniveau sozial benachteiligter Roma-Kinder investieren. Seit einigen Jahren fragt das Europäische Parlament regelmäßig nach „Fortschritten“ in der Sache Lety. Der Grund dafür ist, dass eine Resolution des Europäischen Parlaments, die allgemeine Standards für einen menschenwürdigen Umgang mit der europäischen Roma- und Sinti-Minderheit definierte, als einzige konkrete Forderung an einen konkreten Mitgliedsstaat die Schließung der Farm enthielt.

Um von Lety abzulenken, bemühte sich die tschechische Regierung um eine „Ersatzleistung“, was 2009 den Lagerort Hodonín zurück auf die Bildfläche brachte. Es sollte ein „internationales Forschungs- und Ausbildungszentrum“ für Schulklassen auf dem Arsenal entstehen. Doch auch drei Jahre später sucht man dieses vergebens. Nur der Gedenkstein gibt etwaigen BesucherInnen ein sicheres Indiz, dass sie hier überhaupt richtig sind. Seitens der Mediensprecherin des Museums heißt es auf Anfrage, dass man „mit dem Projekt schon seit Längerem nichts mehr zu tun“ habe. „Bitte wenden Sie sich an das Pädagogische Museum in Prag.“ Der Verantwortliche in Prag kann zu seiner eigenen Arbeit keine nähere Auskunft geben, man beschäftige sich aber intensiv mit den Plänen für eine Gedenkstätte.

EUROPÄISCHE WILLKÜR? Die Sturheit im Umgang mit Lety und die zeitweilige Ignoranz gegenüber Forderungen der Hinterbliebenen fügt sich gut in ein Bild Tschechiens als Land ein, dessen Probleme von der wachsenden Zahl gewaltsamer rassistischer Übergriffe bis zur selbstverschuldeten Ohnmacht gegenüber einer verelendeten und zusehends sozial isoliert lebenden Minderheit reichen. Was dabei schnell übersehen wird: „Zigeunerlager“ gab es nicht nur in Tschechien. Und: Antiziganismus ist ein europäisches Problem, das alle EU-Mitgliedstaaten betrifft. In Österreich wurde zuletzt wegen des Verbots des sogenannten „bandenmäßigen Bettelwesens“ über die Kriminalisierung einer ohnehin stigmatisierten Bevölkerungsgruppe - nämlich jener der Roma und Sinti - diskutiert. Im burgenländischen Lackenbach waren nach dem „Anschluss“ 2300 Roma unter KZ-ähnlichen Bedingungen inhaftiert. 1941 erfolgte die Deportation von 5000 Burgenland-Roma in das Ghetto Łódź in Polen. Niemand überlebte. Weitere 2900 wurden 1943 direkt nach Auschwitz deportiert. In Lackenbach steht schon lange ein Mahnmal. Ob es jemand kennt?

Rita Korunka studiert Politikwissenschaft an der Uni Wien.