Joël Adami

force, power and violence

  • 10.04.2015, 12:55

Sechs Dinge über Gewalt, die du noch nicht wusstest.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.


unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen.


thermonukleare Metaphernexplosion
Sollte es in naher Zukunft in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, wird manchen Medien die sprachliche Munition ausgehen. So werden jedes Jahr im Jänner bereits im Vorfeld die Proteste gegen den FPÖ-„Akademikerball“ als „Chaos“, „Krawalle“, „Ausschreitungen“ beschrieben, es wird vor „Gewaltexzessen“ gewarnt und nach den Protesten werden dann gar „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeifabuliert. Diese verbale Aufrüstung wurde heuer auch von der Forderung der Bezirkshauptfrau des 1. Wiener Gemeindebezirkes nach einem Bundesheereinsatz in der Innenstadt begleitet. Wer sich Bilder von Städten wie Kobanê oder Aleppo, wo tatsächlich Bürger_innenkrieg herrscht, ansieht, wird relativ schnell erkennen, dass es sich bei Demonstrationen, an deren Rand Mistkübel umgeworfen (und wieder aufgestellt) und Fensterscheiben zerbrochen werden, mitnichten um Ereignisse handelt, die man als „Krieg“ bezeichnen könnte.


„bürgerkriegsähnliche Zustände“

ohne Graustufen
Die „erotische“ Romanreihe „Fifty Shades Of Grey“ von E. L. James ist von den Bestsellerregalen in die Kinos gewandert und feierte auch dort Erfolge. Während die Buchreihe von einigen als sexuelle Befreiung gefeiert wurde, hagelt es gerade aus der BDSM-Szene Kritik: Der beschriebene Sex sei zwar BDSM-Praktiken nachempfunden, die dargestellte Beziehung sei jedoch durch Missbrauch gekennzeichnet. Während in der BDSM-Szene Vertrauen, Konsens und sogenannte Safe-Words (Wörter, die im Vorhinein ausgemacht werden und „Stop“ oder „Nein“ bedeuten) eine wichtige Rolle spielen und das Ausleben gewisser Kinks überhaupt erst möglich machen, kommen diese Aspekte in James’ Roman überhaupt nicht vor. Nein-Sagen wird von der Romanfigur Grey konsequent ignoriert und gewalttätige Praktiken wie Stalking und Gaslighting werden glorifiziert und als sexy dargestellt. Laut einer Studie der Michigan State University haben Fifty-Shades- Leserinnen* ein höheres Risiko, in einer missbräuchlichen Beziehung zu leben, was zusammen mit dem Bild, das das Buch von BDSM vermittelt, zu einer Normalisierung häuslicher Gewalt führen könnte.


Monopol
In modernen Demokratien herrscht das sogenannte „Gewaltmonopol“ des Staates. Dieser Begriff stammt vom deutschen Soziologen Max Weber und drückt aus, dass die Mitglieder einer Staatsgemeinschaft darauf verzichten, selbst Gewalt auszuüben, um ihre Rechte durchzusetzen. Einzig die (meist demokratisch legitimierte) Exekutive hat das Recht, mittelbare (physische) oder unmittelbare Gewalt anzuwenden, um „Recht und Ordnung“ durchzusetzen. Lange Zeit galt dieses Gewaltmonopol in jedem Bereich, außer einem: der Familie (vgl. nächste Box). Aber auch Staaten geben gerne Stückchen und Scheibchen ihres Monopols ab: Private Sicherheitsfirmen oder gar Söldner_innen übernehmen Aufgaben des Staates und schrecken dabei – oft nicht ganz legal – vor Gewaltanwendung nicht zurück. Ein besonders schwerwiegender Fall ist das Militärunternehmen Blackwater (heute Academi). Im letzten Irakkrieg haben dessen Mitarbeiter_innen in mehreren Fällen Zivilist_innen getötet und Gefangene misshandelt. In Europa gibt es eine einzige legale Privatarmee: Die Atholl Highlanders stehen im Dienst des schottischen Duke of Atholl und sind heute eine Tourismusattraktion.


ungeschützt
Nicht alle sind gleichermaßen vor Gewalt geschützt. Während dies bei Eigentum und weißen Männern wenig Probleme bereitet, gibt es Personengruppen, die unverhältnismäßig oft Gewalt erleben. Zum Beispiel Kinder: Eltern hatten in Österreich bis 2000 (!) das Recht, zur „Erziehung“ Gewalt gegen ihre Kinder zu verüben. Auch gegen Gewalt in der Ehe, die meist von Männern ausgeht, gibt es erst seit 1997 ein eigenes Schutzgesetz, das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. In diesem Jahr beschloss die EU eine Kampagne zur „vollständigen Ächtung von Gewalt gegen Frauen“. Auch Gewalt gegen trans*Menschen ist traurige Normalität: Das Transmurder Monitoring Project der NGO Transgender Europe, das systematisch Hassmorde an trans*Menschen analysiert, hat seit Projektbeginn im Jänner 2008 über 1.600 Morde an trans*Personen gezählt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Mehr im Dossier Gewalt:
Gespenstische Gewalt  Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.
8 Monate  Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.
Kein Asyl ohne Erektion  Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.
The internet is for hate  Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.
Achtung, Triggerwarnung!  Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.
Was bedeutet Gewalt für dich? Sechs Studierende zum Gewaltbegriff in unserer Umfrage.


 

Von Spar – Streetlife

  • 15.12.2014, 11:21

 

Plattenrezension

Katja: Genau zehn Jahre nach ihrem gefeierten, gehypten und untergegangenen Album „Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative“ (allein der Name!) haben sich Von Spar nach langem Irrweg zusammengerissen und eine echte Überraschung hingelegt. Nach zwei unanhörbaren Zwischenveröffentlichungen und dem damit in Zusammenhang stehenden Abgang von Sänger Thomas Mahmoud – sei es der Grund oder die Begründung – gibt es mit „Streetlife“ endlich die Versöhnung. Was 2004 noch sehr im Zeichen von Punk, Elektro, Kapitalismuskritik und Parolenpop stand, ist nun einem sehr sanften, unaufgeregten Klang gewichen. Gleich beim Opener „Chain of Command“ zieht es einer*m aber die Gänsehaut über den Körper, so ein kluger Diskodancer! Da ist endlich der Soul angekommen. Diese Band hat ein Happy End verdient.

Joël: Ätherische Männerstimmen mäandern fröhlich über leicht melancholischen Elektropop. Das hört sich – vor allem nach der vollen Dröhnung Haftbefehl – doch ganz gut an. Früher hätte man solche Musik sicher unter dem Label „prog rock“ eingeordnet, aber heute erfindet ja jede Band ihr eigenes Genre. Je länger das Album läuft, umso mehr geraten die Stimmen in den Hintergrund und die restlichen Instrumente kommen ins Zentrum. Das Ganze plätschert hübsch und würde sich hervorragend eignen, um Weltraumreisen in psychedelischen Science-Fiction-Filmen zu untermalen. Unverhofft singt dann nach längerer Pause in „Try Though We Might“ wieder jemand und dann klingen Von Spar wie eine bessere Popband, die man wahrscheinlich eher nicht im Radio hören wird. Dafür sind Tracks wie „Duvet Days“ die ideale Begleitung für lange, monotone Autobahnfahrten, wenn im Radio nur „Driving Home for Christmas“ läuft. Den Eltern kann man die Platte auch schenken. Vor allem wenn die öfters von ihren Drogenerfahrungen auf Pink Floyd-Konzerten erzählen, werden sie an „Streetlife“ sicher ihre Freude haben.

Katja Krüger studiert Gender Studies und Politikwissenschaften an der Uni Wien, Joël Adami studiert Umwelt- und Bio-Ressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Plattenkiste: „Russisch Roulette“

  • 11.12.2014, 10:45

Plattenrezension / Zweimal hingehört

 

Plattenrezension / Zweimal hingehört

Katja: Es ist kaum drei Monate her, da habe ich noch zwei freche Jugendliche vor meiner Tür verscheucht, weil sie extrem sexistischen Hip Hop laut auf ihrem Handy gespielt haben. Heute schreibe ich über Haftbefehls neues Album „Russisch Roulette“ – wo mach’ ich da den Unterschied? Tatsächlich eine sehr schwierige Frage. Haftbefehl ist ein typisch deutscher Gangsterrapper mit allem, was inhaltlich und stilistisch dazugehört: Er fickt links und rechts alles, was er nicht mag inklusive deiner Mutter, hat selbstverständlich eine kriminelle Vergangenheit, über die er gern erzählt, und fährt einen fetten Mercedes. Trotzdem können sich in diesem Jahr die Feuilletonist*innen auf ihn einigen. Weil er so real ist? Weil er so gleichfalls intensiv vom Selbstmord seines Vaters und dem letzten Koksdeal rappt? Ich kann es nicht beantworten. „Russisch Roulette“ ist ein handwerklich präzises Album. Soviel weiß ich.

Joël: Ich weiß ja immer noch nicht, wer denn jetzt dieser Babo ist. Das neue Album des „Wort des Jahres“-Bekanntmachers Haftbefehl scheint zumindest auf Twitter einige Anhänger*innen zu haben. Hören die das alle „ironisch“ oder ist die Musik tatsächlich so gut, dass man – falls das möglich sein sollte – über den sexistischen Sprachgebrauch hinwegsehen kann? Manche Tracks („Saudi Arabi Money Rich“) klingen dann doch eher wie kreativ produzierter Kirmestechno, über den Hafti halt seine „Ich ficke x“-Fantasien sprechsingt. Beim Titel „Ich rolle mit meinem besten“ hatte ich Hoffnungen auf einen schönen Drogentrack, leider handelt es sich um eine Musik gewordene Folge von „Top Gear“. Immerhin: Wenn wir nicht so genau hinhören, lässt sich „Lass die Affen aus’m Zoo“ als gewalttätige Animal-Liberation-Hymne („Lass die Pittis aus’m Käfig / Lass die Affen aus’m Zoo“) verstehen. Zur Veranschaulichung des Realness-Diskurses im Hip Hop (siehe Seite 28) taugt das Album allemal, kaufen würde ich es aber nicht unbedingt.

Katja Krüger studiert Gender Studies und Politikwissenschaften an der Uni Wien, Joël Adami studiert Umwelt- und Bio-Ressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Bio-Dinosaurier-Sackerl

  • 11.12.2014, 10:39

Naturschutz ist wichtig, da sind sich fast alle einig. Nur: Was genau soll da eigentlich geschützt werden?

 

Naturschutz ist wichtig, da sind sich fast alle einig. Nur: Was genau soll da eigentlich geschützt werden?

Statt Plastiksackerln gibt es in manchen Supermärkten Taschen mit Aufdrucken wie „Umweltschutz ist für mich natürlich!“ zu kaufen. Dieses schlechte Wortspiel zeigt eine Reihe von Problemen auf, die uns begegnen, wenn wir uns näher mit dem Thema Umwelt- oder Naturschutz beschäftigen. Das Sackerl aus Kunststoff sei nicht umweltfreundlich und es sei vor allem nicht natürlich, im Gegensatz zu der Stofftasche oder dem biologisch abbaubaren Ersatzsackerl aus Maisstärke. Dabei besteht das Plastiksackerl genauso aus organischem Material wie das Stärkesackerl, nämlich aus Erdöl, das vor Jahrmillionen noch Dinosaurier und Urzeitpflanze war. Und bis aus der Maisstärke ein Einkaufssackerl werden kann, durchläuft sie viele komplizierte technische Prozesse – ähnlich wie das Erdöl, bevor es ein Plastiksackerl wird.

Mit diesem einfachen Beispiel wird klar, dass die Trennung zwischen dem „Natürlichen“ und dem „Künstlichen“ nicht so simpel ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Zwar können wir uns beim Plastiksackerl darauf einigen, dass Erdöl eine endliche Ressource ist, die Herstellung viel Energie verbraucht, das Sackerl nicht verrottet und aus diesen Gründen abzulehnen ist. Aber was ist denn so schlimm daran, wenn in der Natur unzersetzte Plastiksackerl herumliegen?

Die meisten werden wahrscheinlich antworten, dass das Sackerl da nicht hingehört, weil menschliche Dinge nun einmal nicht in die Natur gehören. Es gibt viele verschiedene Definitionen davon, was „Natur“ ist, eins haben sie aber fast alle gemein: Sie gehen von der Abwesenheit des Menschen aus. Die Umweltpsychologinnen Susan Clayton und Susan Opotow definieren Natur oder „naturnahe Umgebung“ als jene Teile der Umwelt, bei denen der Einfluss des Menschen sehr gering und nicht augenscheinlich ist.

Wenn wir über Naturschutz reden, klingt das sehr oft so, als würden wir die Natur vor den Menschen beschützen

wollen. Dabei ist das meiste von dem, was wir heute als unsere „natürliche Umwelt“ wahrnehmen, von Menschen gemacht. Wer in Österreich in die Natur fährt, um wandern zu gehen, fährt in eine künstlich geschaffene Kulturlandschaft, die genauso „natürlich“ (oder eben unnatürlich) wie Disneyland ist.

Wildnis unerwünscht. Das gilt aber nicht nur für den Wanderweg, den Klettersteig oder die Skipiste. Auch Naturschutzgebiete bestehen sehr oft aus Landschaften, die erst durch Bewirtschaftung entstanden sind. Ein Beispiel hierfür wäre die Perchtoldsdorfer Heide, ein Natura 2000-Schutzgebiet am südlichen Rand Wiens: Heute werden dort Trockenrasen geschützt, die zum allergrößten Teil erst durch die Nutzung der Flächen als Ackerlandschaft entstanden sind. Damit sich in der Heide weiterhin Ziesel, Smaragdeidechsen und an Nährstoffarmut angepasste Pflanzen wie die Kuhschelle wohlfühlen, müssen die Trockenrasen gepflegt werden. Freiwillige entfernen deshalb Sträucher und junge Bäume, zusätzlich wird der Rasen durch Schafe beweidet. Ohne diese Maßnahmen würde die Heide innerhalb weniger Jahre verbuschen und bald (bis auf sehr wenige Hügelkuppen) wieder einen Teil des Wienerwaldes bilden. Die Natur wird hier also nicht nur vor Hundekot und Mountainbiker*innen, sondern vor allem vor sich selbst geschützt. Die natürliche Sukzession, also die Abfolge von verschiedenen Pflanzengemeinschaften, die letztendlich in einem Hochwald und damit einer echten Wildnis mündet, ist im Naherholungsgebiet nicht erwünscht.

An der Perchtoldsdorfer Heide zeigt sich, dass Naturschutz oft nicht heißt, eine metaphorische Glasglocke über ein Gebiet, das als schützenswert gilt, zu stülpen, sondern es menschlicher Anstrengungen bedarf, damit es „natürlich“ bleibt. Oder eher: Damit die Landschaften so bleiben, wie wir Menschen sie haben wollen.

Hallo Anthropozän! Es gibt auf der Erde keinen Flecken mehr,der noch nicht vom Menschen beeinflusst wäre. Selbst in der Antarktis waren schon 1889, Jahre vor den großen Antarktisexpeditionen, Spuren menschlichen Lebens zu finden: Blei aus australischen Minen konnte etwa in Eisbohrkernen nachgewiesen werden. Der Ozean ist voll mit Plastikteilen, die Atmosphäre voll mit dem CO2 unserer Verbrennungsmotoren, auf der ganzen Erde lässt sich radioaktiver Staub, der von Atomwaffentests stammt, finden und sogar den Weltraum um unseren Planeten herum haben wir vermüllt. Die menschlichen Aktivitäten sind so gravierend, dass sie als „Anthropozän“ eine klar erkennbare geologische Schicht bilden werden. Zu diesem Schluss kam auch die Geological Society of London, seit dem heurigen Sommer steht der Begriff auch im Oxford English Dictionary. Die Erkenntnis, wie wenig „Natur“ auf unserem Planeten noch vorhanden ist, mag auf den ersten Blick niederschmettern, auf den zweiten Blick kann sie jedoch befreiend sein: Wir gestalten unsere Umwelt seit tausenden von Jahren, gleichzeitig ändert sich diese ständig. Wir sind bei unseren Entscheidungen über Naturschutz also nicht daran gebunden, was „natürlich“ wäre, denn „Natur“ ist ein soziales Konstrukt. Wir haben also in einem gewissen Rahmen Gestaltungsfreiheit.

Es gibt verschiedene Zugänge und Motivationen, mit denen Naturschutz gerechtfertigt wird: Grob können materialistische,

moralische, ästhetische und wissenschaftliche Motivationen unterschieden werden. Als ökologischwissenschaftlich werden Zugänge beschrieben, denen es um ein größtmögliches Verstehen der Strukturen, Funktionen und Beziehungen in der Natur geht. In politischen Diskursen überwiegen oft materialistische Motivationen – hier bedienen sich die Menschen der natürlichen Ressourcen und müssen sich vor negativen Aspekten wie Krankheiten, Katastrophen

und wilden Tieren schützen. Das ist immer noch ein oft gezeichnetes Bild, das sich auch in medialen Bedrohungsszenarien wie „Wildtiere in der Stadt“ (Marder fressen Autos auf) oder „fremde Arten wandern ein“ (asiatische Pflanzen breiten sich in „unserer“ Natur aus) niederschlägt. Die Natur muss hier vor fremden („ausländischen“!) Einflüssen geschützt und Ressourcen müssen nachhaltig genutzt werden: Dieser Schutz dient aber immer dem Überleben des Menschen. Diese Denkweise überwiegt auch beim Kampf gegen den Klimawandel, der ja gemeinhin als „Klimaschutz“ bezeichnet wird. Welches Klima wir genau schützen oder behalten wollen, hängt nicht mit einer bestimmten „natürlichen“ Idealvorstellung zusammen, sondern mit dem, was wir mit großer Wahrscheinlichkeit überleben können und was bezahlbar ist. Spätestens wenn zur Abwendung einer größeren Katastrophe Geo-Engineering als letzte Rettung vorgeschlagen wird, wird klar, dass vor allem unsere jetzige Lebensweise gesichert werden soll. So schlagen zum Beispiel manche Wissenschaftler*innen vor, Schwefelpartikel in die Atmosphäre über den Polen einzubringen. Damit ließe sich zwar die globale Erwärmung verringern, es würde allerdings vermehrt zu sauren Niederschlägen kommen – wahrscheinlich das Todesurteil für die arktische Taiga.

Tiefe Ökologie. Diesen Argumentationsmustern stehen moralische Aspekte entgegen. Die Liebe zur Natur oder die ethische Verpflichtung, die belebte und unbelebte Umwelt wegen ihres intrinsischen Wertes zu schützen, werden hier besonders betont. Dies geht manchmal auch mit einer Kritik an der Natur/Mensch-Dichotomie einher. Die „Deep Ecology“ ist in den 1970ern in Skandinavien als Gegenbewegung zu einer „flachgründigen Umweltbewegung“ entstanden und vertritt die Ansicht, dass alle Lebewesen das gleiche Recht auf Leben haben. Dieser „biosphärische Egalitarismus“ wurde als neue Spielart des Kulturimperialismus kritisiert, weil eine „Wildniserfahrung“ für eine gewisse sozioökonomische Schicht (meist Weiße in „Entwicklungsländern“) bewahrt werden sollte. In den USA findet sich mit dem „Environmental Impact Statement“ ein politisches Instrument, das von „Deep Ecology“ inspiriert scheint und die Auswirkungen sowohl auf kulturelle als auch auf natürliche Umwelten prüft.

Auch im Feminismus existieren Denkrichtungen, die unter dem Label „Ökofeminismus“ zusammengefasst werden und ökologische Fragestellungen mit feministischer Analyse verbinden. Manche finden auch in den Werken der Frankfurter Schule eine moralische Verpflichtung zum Naturschutz und sehnen sich nach einer Wiederverzauberung, die sie in einer intakten Natur finden wollen. Hier finden sich Anknüpfungspunkte zu einem eher romantischen Naturschutzverständnis, das sich aus naturalistischen oder ästhetischen Motivationen nährt. Mit naturalistisch sind hier die Befriedigung, Ehrfurcht und Faszination gemeint, die Menschen beim Kontakt mit der Natur, etwa beim Wandern oder Bergsteigen, empfinden.

Die „Biophilia“-Theorie, die besagt, dass Menschen durch ihre evolutionäre Entwicklung durch die Natur angezogen werden, scheint Recht zu bekommen, wenn man sich fragt, wieso Menschen gerne wandern oder klettern gehen. „Ich mag es grundsätzlich, in der Natur zu sein, weil man da seinen Kopf wieder frei bekommt. Selbst wenn man draußen etwas Anstrengendes macht wie Bergsteigen, fühlt man sich nachher viel frischer und energiegeladener. Ich denke, es ist die Freiheit, die frische Luft, die angenehme Atmosphäre, der schöne Ausblick, das ruhige Gefühl, das man bekommt, wenn man in die Weite einer schönen Landschaft schaut“, erzählt Ina, die an der Universität für Bodenkultur studiert und eine Pfadfinder*innengruppe betreut. Viele der Antworten, die ich bei der Recherche in sozialen Netzwerken bekam, ähneln sich: Vor allem die Stille, Einsamkeit und die gute Luft werden betont. Viele gaben auch an, dass ihnen weit entlegene Berge lieber wären als ein Park – der Ruf der vermeintlichen Wildnis.

Flauschiger Naturschutz. Schützen wir die Natur letzten Endes also, weil sie so hübsch aussieht und wir uns gut fühlen, wenn wir darin spazieren gehen? Es scheint zumindest so, denn auch Naturschutzorganisationen benutzen seit Jahren das Konzept der „Flagship Species“, um ihre Anliegen zu vermarkten. Kampagnen, bei denen süße oder sympathische Tiere geschützt werden sollen, laufen weit besser als „Wir wollen dieses stinkige Moor schützen!“ – obwohl das angestrebte Ziel oft das gleiche ist. Zum Problem kann das werden, wenn Biotope ohne Sympathieträger*innen unter Schutz gestellt werden sollen. Nicht jedes Tier, das wir aus moralischer oder wissenschaftlicher Motivation schützen wollen, lässt sich knuddeln.

Naturschutz ist gegen rechtsextreme Ideologien (Stichwort „Heimatschutz“) genauso wenig gefeit wie vor der Vereinnahmung durch neoliberale Wirtschaftssysteme. Wer die frische Luft und Einsamkeit in den „wilden“ Bergen oder am menschgemachten Trockenrasen genießt, sollte im Hinterkopf behalten, welchen gesellschaftlichen Schichten Naturschutz heute vor allem dient. Eine Überlegung, welche Motivation hinter dem dreisäuligen (ökologisch, wirtschaftlich, sozial) Nachhaltigkeitsparadigma steht, wäre natürlich (!) auch lohnend.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bio- Ressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Von Eichhörnchen und Igeln – Mehrsprachigkeit in Luxemburg

  • 21.10.2013, 16:52

Neben Banken und Tankstellen ist Luxemburg bekannt für seine mehrsprachigen Einwohner_innen, sprechen doch die meisten von ihnen drei bis vier Sprachen. Ist das Großherzogtum ein Eldorado der Vielsprachigkeit?

Neben Banken und Tankstellen ist Luxemburg bekannt für seine mehrsprachigen Einwohner_innen, sprechen doch die meisten von ihnen drei bis vier Sprachen. Ist das Großherzogtum ein Eldorado der Vielsprachigkeit?

Luxemburg hat drei offizielle Sprachen: Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Ihr Gebrauch ist nicht, wie etwa in der Schweiz oder in Belgien, regional begrenzt, sondern hängt sehr stark von den Sprechenden und dem jeweiligen Kontext ab. Luxemburgisch ist eine stark mit dem Deutschen verwandte Ausbausprache, das heißt eine sich momentan weiterentwickelnde Sprache, die aus einem moselfränkischen Dialekt entstanden ist. Deutschsprachige verstehen Luxemburgisch zwar zum Teil, aber spätestens bei Sätzen wie „d' Kaweechelchen an de Kéiseker frupse Quetschegebeess“ (Das Eichhörnchen und der Igel futtern Powidl.) müssen sie passen. Seit 1984 hat Luxemburg ein eigenes Sprachengesetz, in dem Luxemburgisch als Nationalsprache definiert und neben Deutsch und Französisch als Amtssprache eingeführt wurde. Der Text des Gesetzes ist dabei – wie alle luxemburgischen Gesetze – auf Französisch verfasst.  

Neben den Amtssprachen werden in Luxemburg aber auch noch andere Sprachen gesprochen: 45 Prozent der Bevölkerung besitzt keinen luxemburgischen Pass und stammt zum Großteil aus Portugal, Frankreich, Italien, Belgien und Deutschland. Zur Sprachenvielfalt tragen außerdem die vielen europäischen Institutionen, wie etwa der Europäische Gerichtshof oder das Sekretariat des Europäischen Parlaments bei, die vor allem in der Hauptstadt Englisch zu einer viel verwendeten Sprache gemacht haben. Aber nicht alle Sprachen sind gleich gut angesehen.

Segregierende Schule. „Wir sind uns alle einig, dass wir an der Art und Weise, wie Französisch unterrichtet wird, etwas ändern müssen, aber wie, weiß niemand so genau“, schreibt eine Studierende als Kommentar auf einen Artikel mit der Überschrift „Luxemburger Schüler hassen Französisch“ auf Facebook. Das Schulsystem ist derzeit auf Luxemburger_innen ausgerichtet, die Luxemburgisch als Erstsprache sprechen und durch den alltäglichen Medienkonsum auch Deutsch verstehen. Die Alphabetisierung auf Deutsch stellt für sie somit kein großes Problem dar. Dies trifft auf 48 Prozent der Schüler_innen zu. Mehr als die Hälfte hat jedoch Luxemburgisch nicht als Erstsprache, bei einem Viertel ist es Portugiesisch. Schüler_innen beenden mit zwölf Jahren die Volksschule mit dem Wechsel auf Lycée classique (Gymnasium/AHS) oder Lycée technique (Hauptschule). Da in der Volksschule alle Fächer auf Deutsch unterrichtet werden, haben es nicht-luxemburgische Schüler_innen dort schwerer als ihre Kolleg_innen. Aufgrund schlechterer Noten werden sie dann aufs Lycée technique geschickt. Dort ist Deutsch meistens bis zum Abschluss die Unterrichtssprache, während im Lycée classique mit ungefähr 16 Jahren auf Französisch gewechselt wird. Die Folge: Der Großteil der Nicht-Luxemburger_innen hat in vielen Fällen nie die Chance, eine Hochschule zu besuchen, da sie nur wegen ihrer Deutschkenntnisse mit zwölf nicht die Möglichkeit erhalten, den Weg Richtung Hochschulreife einzuschlagen.

Symbol der Nation. Luxemburgisch als Schriftsprache wird kaum unterrichtet, oft wird im Luxemburgischunterricht nur gelesen. Dabei war Luxemburgisch noch nie so beliebt wie heute. Luxemburgischkurse sind regelmäßig ausgebucht, durch soziale Medien wurde auch der schriftliche Gebrauch wieder angekurbelt und eine beliebte spell-checker-App lässt nachholen, was in der Schule versäumt wurde. Die sehr junge Universität Luxemburg bietet seit einigen Jahren einen Master in Luxemburgistik an und forscht aktiv zur Entwicklung der Sprache und zur Mehrsprachigkeit im Großherzogtum.

Bei einer Diskussionssendung im Fernsehen zu den Parlamentswahlen Ende Oktober waren sich alle Parteien einig, dass Luxemburgisch bereits in der Vorschule und im Kindergarten gelehrt werden sollte. Bei der Frage, auf welcher Sprache alphabetisiert werden soll, scheiden sich jedoch die Geister.

Sprachen wird meistens eine verbindende Wirkung zugesagt, aber gerade Luxemburgisch wird von rechten Politiker_ innen gerne als kostbares, aber bedrohtes Symbol der nationalen Identität gesehen, das vehement verteidigt werden muss. Ausdruck davon sind etwa die heftigen Forderungen nach luxemburgischsprachigem Servicepersonal, denn viele der vermeintlich polyglotten Luxemburger_innen sind nicht bereit, ihr Croissant auf Französisch zu bestellen.

Komplexe Dreisprachigkeit. Der Umgang mit den beiden „offiziellen Fremdsprachen“ Deutsch und Französisch ist komplex: Die Bedeutung des Deutschen sank, etwa in der Verwaltung, nach dem Zweiten Weltkrieg rapide, der Ruf des Französischen als Bildungssprache der bürgerlichen, urbanen Gesellschaft war besser. Deutsch blieb als Schriftsprache, insbesondere in der Presse, erhalten, während Einladungen und Briefe an Behörden auf Französisch verfasst werden. Allerdings werden etwa Todes- oder Hochzeitsanzeigen in Zeitungen eher auf Luxemburgisch verfasst, weil sie so persönlicher wirken. Die drei Sprachen sind eigenen Sphären zugeordnet, wobei sich der Gebrauch gerade durch das Internet und den erhöhten schriftlichen Gebrauch von Luxemburgisch ändert. Für das Wechseln der Sprache, gerade bei Unterhaltungen, muss allerdings ein konkreter Grund vorhanden sein, etwa die Anwesenheit eine Person, die des Luxemburgischen nicht mächtig ist.

Menschen, die im Alltag oft die Sprache wechseln müssen, sind da Ausnahmen. Sie neigen sogar oft zu Sprachwechseln innerhalb eines Satzes. Gaston Vogel, bekannter Strafverteidiger in Luxemburg, zieht einen Teil seiner Beliebtheit bei Medienvertreter_innen daraus, dass er seine mit französischen Begriffen ausgeschmückten Sätze mit vulgären luxemburgischen Phrasen unterbricht. „Dat ass mir esou schäissegal, wéi dat mir nëmme schäissegal ka sinn. Ech affrontéieren déi Citatioun mat vill Heiterkeit (Das ist mir so scheißegal, wie es mir nur scheißegal sein kann. Ich begegne dieser Zitation mit viel Heiterkeit)“, antwortete er Ende September auf eine Verleumdungsklage gegen ihn.

Junge luxemburgische Blogger_innen sehen sich mit ihrer Sprachenvielfalt in einer Zwickmühle. Eigentlich wäre es „schäissegal“, welche Sprache sie benutzen: Mit Deutsch, Französisch oder Englisch erreichen sie tendenziell mehr Menschen, aber andererseits: „Wer sollte auf Luxemburgisch schreiben, wenn nicht wir?“

 

Joël Adami stammt aus Luxemburg und studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.   

Seiten