Elisabeth Mittendorfer

„Unser Veränderungsdrang wird sich nicht abstellen lassen“

  • 04.05.2013, 18:42

Vom 14. bis 16. Mai finden die ÖH-Wahlen statt. Im Gespräch mit progress ziehen Martin Schott (FLÖ), Angelika Gruber (VSStÖ), Janine Wulz GRAS) und Christoph Huber (FEST) vom Vorsitz-Team Bilanz über die vergangenen zwei Jahre.

Vom 14. bis 16. Mai finden die ÖH-Wahlen statt. Im Gespräch mit progress ziehen Martin Schott (FLÖ), Angelika Gruber (VSStÖ), Janine Wulz GRAS) und Christoph Huber (FEST) vom Vorsitz-Team Bilanz über die vergangenen zwei Jahre.

progress: Ihr müsst bald das Feld für die neue Exekutive räumen. Was waren für euch die schönsten und schwierigsten Momente der vergangenen zwei Jahre?

Gruber: Einer der schönsten Momente für mich war, als wir das Forum Hochschule (Alternativer Hochschulplan, Anm. d. Red.) fertig hatten und präsentieren durften.

Wulz: Für mich war der vergangene Frühling schwierig, als es harte Angriffe gegen mich gegeben hat (Anm. d. Red.: im Zuge der Diskussion um das Café Rosa). Am schönsten fand ich die Begeisterung der Studierenden, die bei ÖH-Projekten wie Hochschulen im Nationalsozialismus mitgewirkt haben.

Schott: Schönster Moment war, als ich gewählt wurde. Am meisten enttäuscht hat mich der verlorene Kampf für die Wiedereinführung der Direktwahl.

Huber: Ich bin ja erst seit Dezember im Vorsitz-Team. Mich freut vor allem zu sehen, dass es eine nächste Generation von Menschen gibt, die motiviert und mit Elan dabei ist.

progress: Die Beteiligung an den ÖH-Wahlen ist mit rund 30 Prozent immer sehr gering. Denkt ihr, dass die ÖH als Interessensvertretung der Studierenden dennoch legitim ist?

Schott: Die Wahlbeteiligung ist definitiv zu gering. Trotzdem gibt es Unis und Standorte, wo viele Studierende wählen. Das hängt wahrscheinlich mit der ÖH-Arbeit vor Ort zusammen und damit, was die Studierenden von der ÖH mitbekommen. Es gibt auch Standorte, die sich einigeln und ein bisschen Angst vor den Studierenden haben. Die wollen sich dann hauptsächlich selbst erhalten und lassen nicht alle mitmachen, die wollen. Wenn Studierende das Gefühl haben, dass die ÖH etwas Elitäres und Abgehobenes ist, dann wird bei ihnen nichts ankommen.

Wulz: Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass es – im internationalen Kontext betrachtet, fast nirgends eine so stark verankerte Studierendenvertretung gibt wie in Österreich. Für uns selbstverständliche Dinge, wie beispielsweise, dass wir Stellungnahmen zu Gesetzen schreiben und ein Stimmrecht im Senat haben, müssen sich andere StudierendenvertreterInnen in Europa erst mühsam erkämpfen.

Huber: Problematisch ist, dass es eine ÖH nach drei Gesetzen gibt. Unis, FHs und PHs werden jeweils separat geregelt. Hier müsste der Gesetzgeber handeln und ein einheitliches Gesetz schaffen.

progress: Bei Forum Hochschule hat die ÖH ein alternatives Konzept für den Hochschulplan entworfen und dabei auch komplexe Formeln zur Errechnung des Finanzbedarfs der Hochschulen erarbeitet. Eva Blimlinger, Rektorin der Akademie der bildenden Künste, hat in einem Interview mit derStandard.at den Ansatz der ÖH als ökonomistisch und zu wenig visionär bezeichnet. Wie seht ihr das?

Gruber: Der ÖH wird immer Utopie und Realitätsferne vorgeworfen. Mit diesem Konzept haben wir das Gegenteil bewiesen. Gerade wenn es um die Finanzierungsfrage geht, bin ich zutiefst von diesem Modell überzeugt. In einer Budgetierung braucht es Transparenz.

Wulz: Die Kritik richtet sich weniger an das Modell an sich, sondern wirft die Frage auf, wie viel Realpolitik eine ÖH machen muss. Natürlich kann man als ÖH ein Bildungssystem fordern, das grundsätzlich anders ist. Das ist bei Forum Hochschule in allen anderen Kapiteln ja auch passiert. Für uns ist es notwendig, etwas auf den Tisch legen zu können, das jetzt umsetzbar ist. Das soll aber nicht heißen, dass wir nicht genauso Ideen haben, wie eine utopische Uni in 100 Jahren aussehen könnte.

Gruber: Aber auch die beste Utopie kommt nicht ohne Geld aus. Ich finde unsere Forderung, dass sich das Budget nach den Studierenden richtet und mitwächst, sehr visionär.

progress: Wie wahrscheinlich ist es, dass die nächste Exekutive wieder in dieser Konstellation zusammenarbeitet? Gibt es Fraktionen, mit denen ihr eine Koalition ausschließt?

Huber: Eine Zusammenarbeit mit dem RFS wird von uns allen ausgeschlossen. Meiner Einschätzung nach kann es nach der Wahl in dieser Konstellation weitergehen. Eine Alternative wäre, dass eine der vier Fraktionen mit der AG koaliert. Die hat aber aus meiner Sicht in den letzten zwei Jahren nicht mit Verlässlichkeit gepunktet.

Schott: Das ist Sache meiner NachfolgerInnen. Außer dem RFS werden wir aber nach der Wahl niemanden von Gesprächen ausschließen. Dass es mit der AG in puncto Zugangsbeschränkungen schwierig werden kann, ist kein Geheimnis. Andererseits gibt es eine Koalition mit der AG an einem lokalen Standort.

Wulz: Ich empfehle meinen NachfolgerInnen, in einer ähnlichen Konstellation weiterzuarbeiten. Die vier Fraktionen haben in den vergangenen zwei Jahren für einen freien Hochschulzugang und soziale Absicherung gekämpft. Es gibt einen breiten Konsens darüber, wofür die ÖH stehen muss. Die AG hingegen arbeitet in Richtung einer elitären Hochschule. Damit ist für mich vollkommen klar, dass es mit der AG niemals möglich sein wird, inhaltlich gemeinsam an einem Strang zu ziehen.

progress: Ab dem Wintersemester müssen viele Studierende – darunter zum Beispiel ausländische Studierende – wieder Studiengebühren bezahlen. Durch den Beschluss der Studienplatzfinanzierung wird in 28 Studienfächern die Mindestzahl der StudienanfängerInnen gesetzlich festgelegt. Was sagt ihr zu diesen Maßnahmen?

Wulz: Wären wir nicht zum Verfassungsgerichtshof gegangen und hätten mit einer Klage über eine Million Euro gedroht, wäre es viel schlimmer gewesen. Ginge es nach Töchterles Plan, hätten wir flächendeckende Studiengebühren von mindestens 500 Euro für alle Studierenden und Zugangsbeschränkungen an allen Unis. Mit der Salami-Taktik, die diese Regierung angewandt hat, wurden einige Verschlechterungen nach und nach beschlossen, aber das Worst-Case-Szenario konnte verhindert werden.

Schott: Weder Zugangsbeschränkungen noch Studiengebühren sind wirklich eingeführt worden. Bei den Studiengebühren gilt nun wieder die gleiche Regelung wie zuvor. Dass ausländische Studierende doppelt bezahlen müssen, ist eine Katastrophe. Die Reform der Studienplatzfinanzierung findet außer der Regierung niemand gut. Wir haben versucht, unser Angebot von Konzepten lautstark zu kommunizieren. Offensichtlich aus Angst vor unserer Kompetenz ist das Ministerium daran aber nicht interessiert.

progress: Was wird eurer Prognose nach bildungspolitisch in den nächsten Jahren in Österreich passieren?

Wulz: Das hängt davon ab, was politisch passiert. Existiert weiterhin ein ÖVP-Wissenschaftsministerium, kann es nur schlimmer werden.

Vor allem seit dem Universitätsgesetz 2002 wurden die Mitsprachemöglichkeiten für Studierende zurückgedrängt, die Familienbeihilfe gekürzt, die Studieneingangs- und Orientierungsphase eingeführt und die Zugangshürden verschärft. Es wurden im Halbjahrestakt Verschlechterungen beschlossen, die dazu dienen, möglichst viele Menschen aus den Hochschulen auszuschließen.

Schott: Ich glaube noch immer daran, dass die Politik irgendwann einsehen wird, dass im Hochschulraum – egal mit welchem System – mehr Geld benötigt wird.

progress: Seid ihr traurig oder froh darüber, dass die Exekutivperiode bald vorbei ist?

Gruber: Es war sehr viel Arbeit, aber auch eine tolle Erfahrung. Ich freue mich aber schon darauf, wieder Vollzeitstudierende zu sein und mein Studium beenden zu können.

Wulz: Es ist beides. Wir haben jetzt zwei Jahre durchgearbeitet und es ist an der Zeit, einmal eine Pause einzulegen und etwas anderes zu machen. Wenn ich mir aber vorstelle, dass dieser Lebensabschnitt nun vorbei ist, bin ich schon auch ein bisschen traurig.

Huber: Hier arbeiten über 80 Leute ehrenamtlich. Da findet man Freunde, die man fast jeden Tag sieht. Von heute auf morgen aufzuhören, ist dann ein Abschied mit einem weinenden Auge.

Schott: Ich freue mich auf ein Leben mit weniger Geschwindigkeit und darauf, nicht immer sofort zu allem etwas sagen können zu müssen.

Wulz: Ich freue mich darauf, mein Handy wieder auszuschalten (Zustimmung und Gelächter von allen).

progress: Was möchtet ihr euren NachfolgerInnen mit auf den Weg geben?

Gruber: Einen langen Atem (lacht).

Wulz:  Nicht zu vergessen, für wen sie das machen. Man ist in der Bundesvertretung oft auf einer Ebene, die von einzelnen Leuten ziemlich weit weg ist. Trotzdem sollte man sich vor Augen halten, dass es darum geht, dass jedeR Einzelne studieren kann. Oder, dass eine einzelne Person eine Prüfung angerechnet bekommt, mit der sie ihren Abschluss machen kann.

progress:  Strebt jemand von euch eine Karriere in der Politik an?

Wulz: Ich werde mein Leben lang politisch aktiv bleiben, denn das war ich auch, bevor ich in der ÖH war. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mir das jemals wieder antun werde, in so einer Funktion zu leben und damit auf vieles andere zu verzichten.

Gruber: Der Veränderungsdrang wird sich bei uns vieren nicht abstellen lassen. Es ist wirklich toll, wenn ein eigener Vorschlag mit ins Gesetz aufgenommen wird – und sei es nur eine Kleinigkeit. Es ist wichtig, dass junge Menschen nicht verdrossen aus der ÖH rausgehen und denken, dass Politik anstrengend ist, sondern sehen, dass Politik wirkt.

progress:  Die Aktionsgemeinschaft hat vor kurzem gefordert, ÖH-Ausgaben über 100.000 Euro vom Wissenschaftsministerium kontrollieren zu lassen. Was haltet ihr davon?

Huber: Wenn man überlegt, dass die ÖH eine verankerte Körperschaft ist, die sowieso schon interne Aufsichtsgremien und Grenzen hat und Beschlüsse auf verschiedenen Ebenen braucht, ist diese Forderung komplett wahnsinnig. Man müsste dann immer den politischen Gegenspieler anbetteln, um Geld ausgeben zu dürfen.

Gruber: Ich finde es gefährlich für eine Interessensvertretung, die schlagkräftig agieren soll. Das ist wie eine Zwangsjacke für sich selbst. Man wird handlungsunfähig, wenn der Minister, den man in vielen Situationen kritisiert, der Kritik zustimmen müsste. Außerdem schießt die Forderung am Ziel vorbei: Schon jetzt müssen alle Rechtsgeschäfte über rund 7000 Euro im Wirtschaftsausschuss, in dem sowieso alle Fraktionen mit Klubstatus vertreten sind, beschlossen werden. Die Kontrolle ist also schon gegeben – auch die durch die politische Gegnerin.

Schott: Die Forderung ist eine Wahlkampfforderung, die nicht sehr sauber formuliert ist. Die AG fordert eine Genehmigung von Rechtsgeschäften über 100.000 Euro. Außer der Überweisung von Studierendenbeiträgen an die lokalen Vertretungen gibt es aber auch jetzt keine Rechtsgeschäfte über 100.000 Euro. In Hinblick auf die Diskussion um das Café Rosa kommt die Forderung wahrscheinlich gut an. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir mit diesem offensichtlichen Misstrauen umgehen, denn es steckt nun einmal etwas dahinter. Es ist Aufgabe der ÖH, Geld so einzunehmen und auszugeben, dass niemand auf die Idee kommt, eine solche politische Forderung zu stellen.

Foto: Luiza Puiu

Foto: Luiza Puiu

 

Toastbrot und Champagner

  • 01.04.2013, 15:57

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Heute Wien, morgen New York. Nächste Woche Shooting auf einer karibischen Insel. Freie Zeiteinteilung, keine Verpflichtungen und viel Geld. Und am Abend treffen sie die hippsten Leute auf verrückten Partys. Das Leben von FotografInnen scheint leicht und frei. Sarah Böswart ist Fotografin – aber ihr Leben sieht anders aus. Eigentlich hat sie alles richtig gemacht: Top Ausbildung, Praktika  und auch einige Preise hat sie gewonnen. Trotzdem findet die 23Jährige, wie viele andere in der sogenannten Kreativwirtschaft,  keine bezahlte Arbeit.

Viele junge Menschen wollen GrafikerInnen, FotografInnen oder JournalistInnen werden. Es sind die Vorstellungen eines  Easy-going-Lebensstils, von lockeren Hierarchien, flexiblen Arbeitszeiten und der Drang nach Selbstverwirklichung, die Leute in die  Kreativbranche ziehen. Dafür sind sie bereit, vieles zu opfern und einige Hürden zu nehmen. Und das, obwohl sie wissen, dass  sie damit niemals materiellen Reichtum anhäufen werden. „Arm, aber sexy“ – klingt verlockend, ist es aber nicht: Wie hart der Kampf  ums finanzielle Überleben in diesen Branchen ist, wird den meisten erst bewusst, wenn das Geld am Ende des Monats nicht mal mehr für das Notwendigste reicht.
Sahel Zarinfard ist Jungjournalistin des Jahres 2012 und gründete das Onlinemedium paroli. Foto: Johanna Rauch
Arbeit in der Freizeit. Böswart hat ein Mal in ihrer Karriere Glück gehabt: Sie bekam eine Stelle als freie Mitarbeiterin im Museum für  Moderne Kunst. Sie hat Fotos retouchiert, die Ausstellungsstücke fotografiert und die Bilder archiviert. „Wir hatten einmal  Originalnegative vom Aktionskünstler Günther Brus. Da hätte ich fast geweint vor Freude“, erzählt sie. Für Böswart war die Arbeit im  Museum ein Traumjob: „Ich würde es sofort wieder machen.“ Verdient hat sie für 20 bis 25 Arbeitsstunden in der Woche  durchschnittlich 340 Euro im Monat. Daneben hat sie ihre Ausbildung an der Graphischen abgeschlossen. Dort gilt  Anwesenheitspflicht. Die Jobs für das Museum hat sie am Abend erledigt. Weil sie  ihrer Familie nicht noch mehr auf der Tasche liegen wollte, pendelte sie jeden Tag von ihrem Elternhaus in St. Pölten nach Wien. Freizeit hatte sie keine. Sahel Zarinfards  Tagesablauf sieht ähnlich aus: Sie steht auf, arbeitet und geht schlafen. Wie viele Stunden die 24Jährige, die kürzlich zur  Jungjournalistin des Jahres gewählt wurde, tatsächlich recherchiert und an Texten schreibt, kann sie nicht sagen. Es sind aber sicher  mehr als 40. Früher hat sie Nebenjobs gemacht, um schreiben zu können. Heute kann sie ihr Leben durch ihre  journalistische Tätigkeit finanzieren. Zwar lebt sie immer noch in einer WG, hat kein Auto und fährt nur selten auf Urlaub – jeden Cent zweimal umdrehen muss sie aber nicht mehr: „Ich hätte mir nie gedacht, mit Schreiben überhaupt Geld verdienen zu können.“  Hauptsächlich stammt Zarinfards Einkommen von ihrer Tätigkeit als Pauschalistin beim Wirtschaftsmagazin cashflow. Inihrer  Freizeit widmet sie sich ihrem Herzensprojekt paroli. Gemeinsam mit vier anderen JungjournalistInnen hat sie das Onlinemedium im  März 2012 gegründet. „Wir wollen uns mit paroli austoben und es als Spielwiese für neue journalistische Formen nutzen“, sagt  sie.
„Viele KünstlerInnen genieren sich für ihre Nebenjobs“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor an der Angewandten in Wien. Foto: Johanna Rauch
Angebot und Nachfrage? Mit einem künstlerischen Job überleben zu können, war nie einfach: „Musiker waren in keiner Epoche  begehrte Schwiegersöhne“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor für Design, Grafik und Werbung an der Angewandten in Wien.  Zuerst arbeiteten KünstlerInnen als ErfüllungsgehilfInnen des Adels. Den HofmalerInnen und -musikerInnen ging es gut, alle  anderen konnten kaum überleben. Mit der Aufklärung kam der Kunst zunehmend die Aufgabe zu, die Herrschenden kritisch zu  hinterfragen – auch damit ließ sich nicht gut Geld verdienen. Und heute? Heute lässt sich das Problem auf eine Grundregel der  Wirtschaft herunterbrechen – auf Angebot und Nachfrage. Weil es so viele GrafikerInnen, FotografInnen und JournalistInnen ibt,  drückt der Konkurrenzkampf die Preise für die Kreativarbeit. „Viele werden über einen Hungerlohn nie hinauskommen. Nur einige  wenige werden sich durchsetzen“, erklärt Stoeckl. Einige dieser Berufe sind zusätzlich von der fortschreitenden Digitalisierung betroffen. Früher waren FotografInnen TechnikerInnen – ohne Fachwissen in der Chemie und teure Geräte war es nicht möglich, ein  Foto auf Papier zu bringen. Im Jahr 1888 erfand Kodak die Kamera für „jedermann“ und warb mit dem Slogan „You press the button,  we do the rest“. „Seit damals geht es mit den Fotohonoraren bergab“, sagt Stoeckl. Sich als FotografIn sein Brot zu verdienen, ist  schwieriger geworden; fast alle brauchen zusätzlich Nebenjobs. Aber auch das ist nichts Neues – schon immer haben sich  KünstlerInnen ihre Leidenschaft mit anderer Arbeit finanziert. In den USA sei es laut Stoeckl ganz normal, dass TänzerInnen  nebenbei Taxi fahren und FotografInnen kellnern, um über die Runden zu kommen. „Es scheint mir ein speziell mitteleuropäisches  Phänomen, dass sich KünstlerInnen für ihre Nebenjobs genieren. Für mich hat das nichts Verwerfliches.“

Bei paroli gehe es laut Zarinfard auch nicht primär ums Geld. Es gehe darum, Mut zu beweisen und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Darum, unabhängig zu sein. Trotzdem gibt sie zu, dass das hohe Arbeitspensum ihre Freizeit einschränkt und an der Substanz zehrt. Sie muss viel für die Verwirklichung ihres Traums opfern. Ausgebeutet fühlt sie sich dennoch nicht: „Ich bin gerne  Journalistin und sehe die Arbeit nicht als Belastung.“ Böswart geht es anders. Sie ist das prekäre Leben leid. Sie will nicht mehr  erschöpft nach Hause kommen, ohne zu wissen, ob sie jemals mit dieser Arbeit ihr Leben bestreiten wird können. Investiert hat sie  genug: Zeit in ihre Ausbildung, Herzblut in ihre Leidenschaft, die Fotografie, und viel Geld in ihr Equipment. 6000 Euro hat ihre  Kamera mit Objektiven gekostet; dafür hat sie ihren Bausparer aufgelöst. Einkünfte konnte sie daraus fast keine generieren: „Alle  um mich herum haben etwas weitergebracht und ich habe trotz Ausbildung und einer 6000 Euro teuren Kamera nichts geschafft. Ich  habe das Gefühl, als hätte ich meine ganze Kreativität  ausgekotzt.“ Heute will Böswart nicht mehr von der Fotografie leben: Sie  will nicht ihre eigene Chefin sein, wenn das bedeutet, sich gnadenlos selbst ausbeuten zu müssen, um irgendwie durchzukommen.

Fassade vs. Realität. Dennoch wählen viele junge Leute dieses prekäre Leben und gehen das Risiko der Armut ein. Denn das  Prekariat des Künstlers und der Künstlerin unterscheidet sich deutlich von der Armut des Bettlers und der Bettlerin, wie die  Schriftstellerin Katja Kullman in ihrem Buch Echtleben beschreibt: Sie erklärt, wie man sich möglichst lange von einer Packung  Toastbrot ernährt, um Geld zu sparen. Dieses wird dann beim Feiern mit FreundInnen hinausgeworfen, um die soziale Fassade  aufrechtzuerhalten. „KünstlerInnen gehen im Gegensatz zu BettlerInnen einer Tätigkeit nach, für die es Anerkennung gibt – sei es  auch nur von wenigen. Sie können sich selbstverwirklichen“, erklärt Stoeckl. Auf einer Party sind FotografInnen und MusikerInnen  eben angesagter als HilfsbuchhalterInnen – auch, wenn sie nicht davon leben können.

Aber lohnt es sich überhaupt, Geld in die  universitäre Ausbildung von Leuten zu investieren, die am Ende ohne Mindestsicherung nicht überleben können? Bis zum  Studienabschluss kostet einE StudentIn den Staat laut Universitätsbericht 2011
im Schnitt 106.788 Euro. Universitäten sind eben ildungseinrichtungen und keine Ausbildungseinrichtungen,  sagt Stoeckl: „Sonst könnten sie ja Orchideenfächer wie Ägyptologie auch niemals rechtfertigen. Sie werden gelehrt, weil Interesse daran besteht und  nicht, weil es so einen großen Bedarf gibt. Das entspricht nicht unserem Universitätssystem.“ Dass an den Kunstunis und in den kreativen Ausbildungen etwas falsch läuft, streitet er aber nicht ab. Das hat auch Böswart zu spüren bekommen: „Sie hoffen halt  jedes Jahr, dass der/ die Eine dabei ist, der/die sich durchsetzen wird“, sagt sie. Den Abschluss absolvieren in der Fotografieklasse der Graphischen aber jedes Jahr rund 30 AbsolventInnen.

Von den Studierenden wird erwartet, möglichst einzigartig und elitär zu wirken. Wer sich beispielsweise der Wirtschaft „anbiedert“  und statt abstrakten Kunstwerken, für die er/sie zwar künstlerische Anerkennung, aber kein Geld erntet, Porträts malt, um seinen/ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird an den Kunstunis Spott ernten. „Dabei sagen einige LehrerInnen bei uns selbst, dass sie nur unterrichten, weil sie von ihrer Kunst nicht leben können“, erzählt Böswart. Solidarität und einzelinteressen. Außerdem fördert das Eliten-Denken den Konkurrenzdruck: JedeR will besser als der/die andere sein, keineR will seinen/ihren Erfolg teilen.  Dabei wäre es aus Stoeckls Sicht das Wichtigste, zusammenzuarbeiten: „Wenn sich einE WerberIn, einE GrafikerIn und einE  FotografIn zusammentun, können sie größere Aufträge annehmen und sind psychisch viel stabiler.“ Diese Solidarität fehlt aber in  vielen Kunstund Medienbereichen. Manchmal aber besiegt der  Unmut die konträren Einzelinteressen: So haben Zarinfard und ihre KollegInnen zum Start von paroli in einem offenen Brief die prekären Arbeitsbedingungen von jungen JournalistInnen angeprangert und damit für Aufsehen gesorgt: Der Brief wurde von rund 800 UnterstützerInnen unterzeichnet. Man  wollte aufzeigen, dass  ArbeitgeberInnen heranwachsende JournalistInnen benachteiligen und ihnen den Einstieg ins Berufleben erschweren. Dabei handle es sich laut Zarinfard um ein System- und nicht bloß um ein Individualproblem. Als Reaktion auf den Brief folgten Gespräche mit  der Gewerkschaft und dem Verband Österreichischer Zeitungsverleger (VÖZ), die in eine öffentliche Podiumsdiskussion mündeten. 

Die Chancen, dass sich die Situation verbessert, schätzt Zarinfard trotzdem gering ein. „Ich denke, dass es nun ein   Problembewusstsein in den Chefetagen gibt, ein wirkliches Interesse, etwas zu ändern, aber nicht.“ Jedenfalls hat die Aktion  bewiesen, dass das kollektive Prekariat mehr Aufsehen erzeugt als das für die Kreativjobs symptomatische EinzelkämpferInnentum. 

Minderjährig, allein und auf der Flucht

  • 23.12.2012, 19:24

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

„Mein Zimmer aufräumen und mich mit Freunden treffen“, antwortet Amel* auf die Frage, was sie an diesem Samstag noch vorhat. Aus der Küche strömt der Geruch von gebratenen Zwiebeln, laute Popmusik dröhnt durch den Gang. Ein paar Jugendliche sind gerade damit beschäftigt, das gemeinsame Essen vorzubereiten. Im angrenzenden Aufenthaltsraum tippt ein Mädchen auf der Tastatur eines Laptops, ein anderes malt ein Bild. Doch bereits beim Betreten des Hauses in der Braunspergengasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Wohngemeinschaft für Jugendliche handelt. Eine weiße Kamera, die vor dem Eingang montiert ist, überwacht das Geschehen vor dem Gebäude. Bevor der Portier das Öffnungssignal für die Haustüre freigibt, nimmt er eine Gesichtskontrolle vor.

Seit 2005 befindet sich in diesem Haus die WG Refugio, eine Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die von der Caritas betreut wird. Hier finden Jugendliche, die zumeist auf sich allein gestellt aus unterschiedlichen Krisenregionen der Welt nach Österreich gekommen sind, bis zur Volljährigkeit ein neues Zuhause. Eine von ihnen ist die 16-jährige Amel, die mit ihren beiden Brüdern aus Afghanistan geflüchtet ist. Seit einem halben Jahr leben alle drei in der Wohngemeinschaft. Amel trägt ein lockeres Kopftuch aus durchsichtigem Stoff, ihre langen schwarzen Haare sind zu einem losen Zopf zusammengebunden. Trotz der kalten Jahreszeit trägt sie türkise Flipflops aus Plastik.

Taliban-Terror. Beim Reden löst sich eine Seite des Kopftuches immer wieder und fällt auf ihre rechte Schulter. Amel rückt es behutsam zurecht. „Für die Taliban sind wir keine richtigen Moslems, weil meine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat und ich zur Schule gehen durfte“, sagt sie. „Die Taliban wollen, dass sich die Mädchen fürchten und das Haus nicht verlassen.“ Sie  verschränkt ihre Arme, schlägt ihre Beine übereinander und erzählt, dass sie gemeinsam mit Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule war, als zwei Personen auf Motorrädern neben ihnen Halt machten. Sie begannen Flüssigkeit auf die Mädchen zu spritzen. Im ersten Moment dachte Amel, es sei ein Jungenstreich und man wolle sie mit Wasser necken. Doch dann sah sie überall Blut, ihre  Haare und Teile ihres Körpers brannten.

Seit diesem Tag wagte auch sie es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Während Amel von ihrem Heimatland erzählt, gerät ihr Redefluss immer wieder kurz ins Stocken. Ihr Blick ist dann suchend und ihr Mund formt sich zu einem schüchternen Lächeln. „Es  tut mir leid, aber manchmal vergesse ich Dinge auch einfach“, sagt sie. Das Regime der Taliban beschreibt Amel als ein  gnadenloses, gegen das Polizei und Regierung machtlos sind. Angst und Terror sind täglicher Begleiter der meisten AfghanInnen. Amels Vater war als Geschäftsmann in der Holzindustrie tätig und arbeitete mit den AmerikanerInnen zusammen. Die Taliban haben ihn und einen ihrer Brüder getötet. Kurz darauf ist ihre Mutter nach Europa geflüchtet, wo sie sich heute aufhält, weiß niemand. Da ihre Brüder den ganzen Tag arbeiteten, war Amel ab diesem Zeitpunkt immer alleine zu Hause. Die Angst, getötet oder entführt zu werden, war allgegenwärtig.

Wenig später half ein Onkel, der in Kabul lebt, die restlichen Habseligkeiten der Familie zu verkaufen, um an Geld für eine Flucht zu kommen. Wie lange diese tatsächlich gedauert hat, weiß Amel nicht mehr. „Ich denke es waren drei bis vier Monate, aber ich bin mir nicht sicher. Wir haben in dieser Zeit nicht darüber nachgedacht, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir haben einfach nur  gebetet“, sagt Amel.

So wie Amel und ihren Brüdern geht es vielen. Im Jahr 2011 haben laut Angaben des Bundesministeriums für Inneres (BMI) mehr als 1100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Österreich erreicht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan und  Somalia. Die Jugendlichen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder Vertreibung. Im Jahr 2012 wurde bis September bereits jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. „Das sind alles Überlebende, die es  hierher schaffen“, sagt Elina Smolinski, Betreuerin in der WG Refugio. Gerade Jugendliche seien in einer sehr verletzlichen Situation,  wenn sie alleine unterwegs sind – besonders die Mädchen. Bis sie es nach Österreich schaffen, sind sie oft monatelang unterwegs.

Doch was im Moment fehlt, sind ausreichend geeignete Unterbringungsplätze für die Jugendlichen. Zwar hat sich die Situation für  unbegleitete Minderjährige laut Smolinski seit der Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen im Jahr 2004 verbessert, das Problem sei aber, dass es in den vergangenen Jahren immer Schwankungen gegeben habe. Darum ist es auch nie vorhersehbar,  wie viele Plätze benötigt werden.

Erstaufnahme. In der WG Refugio leben momentan acht Mädchen und acht Jungen. Alle besuchen Deutschkurse oder Schulen.  Früher hatte die Caritas zwei Wohngemeinschaften in Wien, eine musste jedoch geschlossen werden, weil Wien die Quotenplätze   übererfüllt hat. „Dass die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht einmal annähernd ausreichend sind, sieht man an der momentanen Situation in Traiskirchen“, sagt Smolinski. Dorthin kommen die Jugendlichen, bevor sie an die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgeteilt werden. Im Moment müssen in Traiskirchen über 500 unter 18-Jährige ausharren,  ohne Zugang zu sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuung. Darunter auch unter 14-Jährige, obwohl der  Grundversorgungs- Koordinationsrat im Dezember 2011 festgehalten hat, dass unbegleitete Flüchtlinge unter 14 Jahren nicht in die Erstaufnahmezentren Traiskirchen oder Thalham überstellt werden sollten. Stattdessen sollen sie in Heimen oder Wohngemeinschaften in jenem Bundesland untergebracht werden, in dem sie angehalten wurden und die von den dort ansässigen Jugendwohlfahrtsträgern betrieben werden.

Auch Amel hat drei Monate in Traiskirchen verbracht. Eine Zeit, an die sie sich nicht gerne zurückerinnert, denn „Traiskirchen ist hart.“ Sie erzählt von überbelegten Zimmern, Konflikten mit anderen Flüchtlingen, zu wenig Essen und einer unzureichenden medizinischen Versorgung.

Fremdbestimmtes Alter. Außerdem wurde für Amel in Traiskirchen ein neues Geburtsdatum festgelegt. Nach einer Reihe medizinischer Untersuchungen wurde ihr Alter auf 16 Jahre angesetzt. Laut eigenen Angaben ist sie erst 15. Trotzdem respektiert sie die Entscheidung: „Mir ist es egal, ob ich 15, 16, 17 oder 18 Jahre alt bin, solange ich hier die Möglichkeit bekomme, ein gutes Leben zu führen“, sagt sie und erzählt, dass sie selbst viele Menschen in Österreich viel jünger schätzt. „In Afghanistan arbeiten Kinder schon im Alter von acht Jahren, darum sehen sie im Gesicht auch viel älter aus.“

Smolinski erzählt, dass die Altersbegutachtung für die Jugendlichen eine große Belastung sei. „Sie erleben das als sehr einschüchternd. Es manifestiert sich dadurch, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Außerdem sei es für einen jungen Menschen, der  viele Veränderungen durchgemacht hat und auf der Suche nach seiner Identität ist, verunsichernd, wenn vom Staat ein neues Geburtsdatum festgelegt werde. Auch Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich stellt die Brauchbarkeit der Methode  in Frage und zweifelt an ihrer ethischen Vertretbarkeit. „Wir haben mehrmals vorgeschlagen, dass in diese rein medizinische, physische Untersuchung auch soziale, gesundheitliche und psychologische Aspekte hineingebracht werden“, sagt Langthaler. Eine Volljährigkeitserklärung hat zudem erhebliche Konsequenzen für eineN MinderjährigeN. Beispielsweise darf er/sie nicht mehr in  einer Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Viele müssen dann ihre Ausbildung abbrechen und werden in abgelegene AsylwerberInnenheim überstellt, wo es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Kein Schutz. Obwohl unbegleitete minderjährige Flüchtlinge rechtlich besser gestellt sind und besser betreut werden, stehen die Chancen auf permanentes Asyl schlecht. Bislang wurde ihnen zumeist ein subsidiärer Schutz gewährt, eine Art zeitlich befristetesAsyl, um das immer wieder neu angesucht werden muss. Doch auch dieses wird laut Langthaler in letzter Zeit immer seltener ausgestellt. Abschiebungen nach Afghanistan oder Somalia können aber nicht durchgeführt werden, weil die Botschaftenkeine Heimreisezertifikate ausstellen. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge schlecht versorgt und ohne Chance auf eine Arbeit oder eine andere Beschäftigung in Österreich bleiben. Auch Amel hat bereits ihren Antrag auf Asyl eingereicht, bisher aber keine Antwort bekommen. Eigentlich müsste das Bundesasylamt innerhalb der ersten sechs Monate eine Entscheidung treffen. Diese Frist wird laut Smolinski aber kaum eingehalten.

Durchschnittlich beträgt die Wartezeit auf die erste Entscheidung ein bis zwei Jahre, sie mündet meist direkt in ein Berufungsverfahren. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, sind die meisten Flüchtlinge, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind, bereits volljährig. Die lange Wartezeit schürt die Ängste der Jugendlichen. „Ich habe Angst, aus dem Land geworfen zu werden und dann zu sterben oder an einen 60-jährigen Mann verkauft zu werden“, sagt Amel.

Zwei Klassen. Neben den lang andauernden Verfahren gibt es auch bei der finanziellen Unterstützung Handlungsbedarf. Die Tagsätze für die Betreuung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde seit dem Jahr 2004 nicht angehoben. Für Smolinski existiert zwischen österreichischen Jugendlichen ohne Eltern und unbegleiteten minderjährigen  Flüchtlingen noch immer eine Ungleichbehandlung. „Da gibt es klar eine Zweiklassengesellschaft“, so Smolinski. Das bestimme auch den Alltag der Jugendlichen, denn sie leben an der Armutsgrenze. Doch kein Grund für Amel, den Mut zu verlieren. Trotz allem sagt sie: „Das Leben ist so schön. Für mich ist es hier, als würde ich eine neue Familie bekommen.“

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin Elisabeth Mittendorfer ist freie Journalistin in Wien.

Eine Mär von der Gleichberechtigung

  • 13.11.2012, 06:19

Plädoyer für ein antimilitaristisches Europa. Ein Kommentar von Elisabeth Mittendorfer.

Plädoyer für ein antimilitaristisches Europa. Ein Kommentar von Elisabeth Mittendorfer.

Im Jänner 2013 soll in Österreich bei einer Volksbefragung über die Zukunft der Wehrpflicht für Männer entschieden werden. Bereits im Vorfeld wurde dadurch auch die Diskussion um vermeintliche Geschlechtergerechtigkeit durch die Wehrpflicht losgetreten: Werden Männer durch die einseitige Wehrpflicht diskriminiert? Ist es legitim, im Sinne der Gleichberechtigung den Wehrdienst oder einen Ersatzdienst für Frauen zu fordern?

 Derzeit regelt der Artikel 9a im Bundes-Verfassungsgesetz die Wehrpflicht nur für Männer. Frauen können freiwillig Dienst im Bundesheer als Soldatinnen leisten und haben das Recht, diesen Dienst zu verrichten. Die Debatte um die Wehrpflicht für Frauen ist nicht neu: Bereits im Jahr 2010 wurde die Forderung nach einer Änderung dieses Gesetzestextes im Rahmen der Diskussion um die Abschaffung der Wehrpflicht zur Sprache gebracht. Der oberösterreichische Kameradschaftsbund, ein Verband von Alt-Soldaten, sammelte Unterschriften für ein Volksbegehren zur Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen. Die erforderlichen 8032 Unterstützungserklärungen konnten aber nicht aufgebracht werden.

Bundespräsident Heinz Fischer sagte damals in einem Interview, dass er sich eine Wehrpflicht für Frauen vorstellen könne, sobald alle Ungleichbehandlungen zwischen Männern und Frauen abgebaut seien. SPÖ- Frauenministerin Heinisch-Hosek will über eine Wehrpflicht für Frauen erst reden, wenn die Lohnschere geschlossen und unbezahlte Arbeit gerecht verteilt ist.

Mit dem Argument „Wenn Frauen gleichberechtigt sein wollen, dann sollen sie auch zum Heer gehen“ wird vor allem im Dunstkreis von Männerrechtlern immer wieder aufgewartet. So ist die Wehrpflicht für Frauen auch eine der politischen Forderungen der Männerpartei. Einen Vorstoß in diese Richtung wagte im September auch der oberösterreichische FPÖ-Chef Manfred Haimbucher, indem er sich für eine Ausweitung der allgemeinen Dienst- und Wehrpflicht auf Frauen aussprach, um in diesem Bereich Gleichberechtigung herzustellen. Die Vorsitzende des SPÖ-Landtagsklubs in Oberösterreich, Gertraud Jahn, reagierte prompt mit einer Aussendung, in der sie klarstellte, dass eine „zusätzliche Dienstpflicht für Frauen keinesfalls in Frage kommt“. Ihre Begründung dafür lautete, dass Frauen nach wie vor die meiste ehrenamtliche Arbeit bei sozialen Diensten leisten würden.

Diejenigen, die für einen verpflichtenden Frauenwehrdienst eintreten und dabei das Argument vorbringen, dass Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten haben sollten, vergessen nur allzu gerne, dass Österreich diesbezüglich noch immer erheblichen Nachholbedarf hat. Das zeigt auch der Gender Gap Report 2011, eine internationale Studie, in der die Gleichstellung der Geschlechter analysiert wird. Besonders schlecht abgeschnitten hat Österreich in Bezug auf die Gehaltsschere zwischen Männern und Frauen: In nur 19 Ländern der Welt ist sie noch größer. Neben dem niedrigeren Einkommen und der generellen Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt kommt hinzu, dass Frauen weniger Pension bekommen, sie Dienstjahre durch etwaige Karenzen verlieren und im 21. Jahrhundert noch immer den Großteil der – unbezahlten – Sozialaufgaben im privaten Bereich verrichten.

Angeborene Friedfertigkeit? Darüber hinaus ging es bei der einseitigen Wehrpflicht für Männer – historisch gesehen – nicht darum, Frauen zu bevorzugen. Lange Zeit wurde das Thema Frauen im Militär tabuisiert. Man traute Frauen schlichtweg nicht zu, den Staat zu verteidigen und verwehrte ihnen den Dienst an der Waffe. Traditionell wird Frauen nachgesagt, von Natur aus friedfertiger und körperlich nicht für militärische Handlungen geeignet zu sein. Gegen diese Vorurteile kämpfte Alice Schwarzer in dem Aufsatz Frauen ins Militär?, der im Jahr 1978 in der EMMA erschien. Darin sprach sie sich für den Zugang von Frauen zum Militär aus, wofür sie – unter anderem von feministischer Seite – scharf kritisiert wurde. Schwarzer begründete ihre Forderung damit, dass die einseitige Wehrpflicht letzten Endes auch ein Instrument dafür sei, die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu definieren und zu verfestigen. Frauen den Zugang zum Militär zu verwehren, sei folglich gleichbedeutend damit, sie nicht in Machtpositionen zu lassen. Dabei machte Schwarzer aber auch klar, dass sie selbst von Wiederaufrüstung, Kasernendrill und Waffengeprotze schon immer schockiert gewesen sei. Zwei Jahre später äußerte sich Schwarzer in dem Aufsatz PRO Frauen ins Militär (ebenfalls in der EMMA erschienen) wieder zur Thematik. Neben den bereits bekannten Argumenten erklärte sie in diesem Aufsatz aber auch, dass der Zugang von Frauen zur Bundeswehr keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herstellen würde, da in unserer Gesellschaft Frauen noch immer wesentlich mehr Pflichten hätten als Männer. Diese irrtümliche Annahme nannte sie eine Milchmädchenrechnung.

Trotz Schwarzers Einsatz sollte es in Deutschland noch elf Jahre dauern, bis auch Frauen freiwillig den Dienst an der Waffe antreten durften. Der Europäische Gerichtshof entschied im Jahr 2001, dass der Ausschluss vom Dienst an der Waffe gegen den gemeinschaftlichen Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen verstoße. Im österreichischen Bundesheer sind Frauen seit 1998 zugelassen. Trotzdem gab es mit Stand September 2012 nur 369 Soldatinnen beim österreichischen Heer. Bei 15.812 BerufssoldatInnen macht das einen weiblichen Anteil von 2,3 Prozent.

Ein Auslaufmodell. Fakt ist: Die Wehrpflicht ist ein Auslaufmodell. Neben Österreich existiert sie nur noch in drei weiteren EU-Staaten – Finnland, Zypern und Griechenland. Die hauptsächlichen Tätigkeiten des Bundesheeres sind heute vor allem im Bereich der Katastrophenhilfe angesiedelt.

Auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext scheint die Vergrößerung des Bundesheeres, zu welcher die Frauenwehrpflicht unweigerlich führen würde, nicht gerade wünschenswert. Denn das Bundesheer ist letzten Endes Militär, das für Kriegseinsätze benötigt wird. Diese zu verhindern und Abrüstung zu forcieren, sollte unser aller Anliegen sein. Generell sollte aus einer antimilitaristischen Perspektive heraus niemand – weder Mann, noch Frau – dazu gezwungen werden, einen Wehrdienst ableisten zu müssen. Auch als Ersatz einen verpflichtenden Sozialdienst leisten zu müssen, ist kritisch zu hinterfragen, da der Zivildienst im Moment rechtlich nur durch einen Sonderstatus als Wehrersatzdienst legitimiert ist. Wird die Wehrpflicht nach der Volksbefragung tatsächlich abgeschafft, ist ein verpflichtender Sozialdienst als Zwangsarbeit im Sinne des Artikels 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu interpretieren und damit klar verfassungswidrig.

Die simple Frage „Frauenwehrpflicht – ja oder nein?“ greift in Anbetracht der oben angeführten Argumente zu kurz. Fazit ist: Die Einführung einer Wehrpflicht für Frauen wird nicht zur Gleichberechtigung führen. Im Gegenteil – sie würde den Prozess der Angleichung von Rechten und Pflichten zwischen Männern und Frauen verlangsamen und den Frauen eine zusätzliche Last aufbürden.

Letzten Endes kann Gleichberechtigung auf allen Ebenen nur in einem demokratischen und friedlichen Europa geschaffen werden. Auch die verpflichtende Wehrpflicht für Frauen wird diesen langsamen Prozess kaum beschleunigen können, sondern ihn eher noch bremsen.

Irgendwo dazwischen

  • 30.09.2012, 21:20

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

„Wann lässt du dich operieren?“ – „Nimmst du Hormone oder so?“ Diese Fragen werden Jolly (siehe Porträt, Anm.), Student_in der  Materialwissenschaften in Jena, häufig gestellt, wenn er_sie mit anderen Personen darüber spricht, dass er_sie trans* ist. Beim Thema Transgender haben die meisten eine Metamorphose von Frau zu Mann oder umgekehrt vor Augen. Trans* beziehungsweise Transgender ist aber ein Überbegriff, den einerseits Menschen verwenden, die sich auch mit Begriffen wie Transsexuelle, FTM (Female to Male) oder MTF (Male to Female) beschreiben und sich damit klar als Mann beziehungsweise Frau identifizieren. 

Andererseits gibt es viele Personen, die sich erst gar nicht in dieses Schema einpassen wollen, und für die eine geschlechtliche „Uneindeutigkeit“ Grundlage ihres trans*-Seins bedeutet. Die Frage, wo Transgender anfängt und aufhört, lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. „Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit, nämlich Geschlechternormen teilweise abzulehnen und sich selbst nicht mit dem Geschlecht zu  identifizieren, das einem nach der Geburt zugeordnet wurde“, sagt Jolly.

Status Quo. In Österreich ist seit einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahre 2009 der Operationszwang für  Trans*Personen gefallen. Das heißt, dass eine geschlechtsanpassende Operation für eine Personenstandsänderung, durch die das gelebte Geschlecht offiziell anerkannt wird, nicht mehr verpflichtend ist. Diese Änderung muss beim Standesamt des Geburtsortes  beantragt werden. Allerdings lässt der Gesetzestext noch immer Raum für Interpretationen, weshalb bezüglich  Personenstandsänderungen keine Rechtssicherheit besteht. Eine Ablehnung des Ansuchens liegt im Ermessen des oder der jeweiligen BeamtIn. Je nach Bundesland gibt es hier Unterschiede. „Es geht in Wien und in Salzburg relativ problemlos, in Kärnten und der Steiermark gibt es ziemliche Schwierigkeiten“, erklärt Andrea von TransX, einem Verein für Transgender-Personen.

Kranke Klassifikation. Eine weitere Hürde bei der Personenstandsänderung ist für viele Trans*Personen die Forderung nach einem psychiatrischen Gutachten, in dem explizit die Diagnose „Transidentität“ gestellt wird. Laut der WeltgesundheitsorganisationWHO sind Trans*Personen krank. Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden. Im Diagnosekatalog ICD (International Classificationof Disease) wird Transsexualität als eine „Persönlichkeits- und Verhaltensstörung“ geführt, wodurch Trans*Personen pathologisiert werden. „Viele Transgender-Personen finden es diskriminierend, dass sie die Krankheitswertigkeit nachweisen müssen. Wenn eine Transgender-Person den Personenstand dem anpassen will, was er_sie empfindet, und dann den ganzen Zinober machen muss, fühlt er_sie sich natürlich nicht gut“, sagt Angela Schwarz von der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen. Die Pathologisierung garantiert im Moment jedoch, dass beispielsweise genitalanpassende Operationen von der Krankenkasse übernommen werden. „Die Sorge ist, dass, wenn die Einstufung als Krankheit weg ist, medizinische Systeme nicht mehr zahlen wollen“, sagt Schwarz.

Dabei gäbe es durchaus internationale Richtlinien für die Behandlung von Transgender-Personen – die sogenannten Standards Of Care – die von der WPATH, der internationalen Gesellschaft für Transgender Gesundheit, formuliert wurden. Doch anstatt diese anzuerkennen, wird in Österreich eine Kommission eingesetzt, die eigene Empfehlungen entwickelt.

Recht auf freie Namenswahl. Ein weiterer Missstand in Österreich ist, dass es derzeit nicht möglich ist, einen Vornamen zu wählen, der dem staatlich zugewiesenen Geschlecht widerspricht. Im Bundesgesetzblatt Nummer 195/1988 steht in Paragraph drei  geschrieben, dass die Änderung des Vornamens nicht bewilligt werden darf, wenn dieser „nicht dem Geschlecht des Antragsstellers entspricht“. Bisher können Menschen, die in einem anderen Geschlecht leben wollen als dem, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden ist, ihren Vornamen folglich erst dann offiziell tragen, wenn eine Personenstandsänderung bewilligt worden ist. Dafür brauchen sie aber jenes psychiatrische Gutachten, das ihnen eine psychische Störung bescheinigt. Damit werden Menschen für krank erklärt, obwohl diese weder den Wunsch noch Bedarf nach medizinischer Behandlung haben. „Das ist vor allem für die Personen eine Hürde, die gerade damit beginnen, im anderen Geschlecht zu leben“, sagt Heike Keusch vom Vorstand des Vereins TransX. Daher fordert TransX das Recht auf freie Namenswahl. Das heißt, dass die Geschlechtszugehörigkeit beim Namen nicht mehr zwingend sein soll. Bislang stelle sich die Politik in dieser Causa aber völlig quer.

Zwar können die Personen für sich selbst – etwa im Alltag – ihren Namen wechseln, aber bei offiziellen Angelegenheiten bleibt der unpassende Name bestehen. Eine Option für eine Namensänderung ist im Moment die Wahl eines geschlechtsneutralen Vornamens. Das kostet in etwa 500 Euro, die sich nicht jedeR leisten kann. Aus verschiedenen Gründen kann diese Gebühr erlassen werden. „Ein weiterer Grund für einen Erlass wäre für uns, dass eine Transgender- Person einen geschlechtsneutralen Vornamen haben will“, erklärt Schwarz.

Ähnliche Situation. In Deutschland ist eine Namensänderung nur nach einer einjährigen Psychotherapie und der Vorweisung von zwei verschiedenen Gutachten möglich. Ein Preis, den Jolly nicht bezahlen will, auch wenn er_sie gerne den im Pass eingetragenen Namen ändern möchte: „Wenn sich die Regelung nicht verbessert, dann würde ich lieber darauf verzichten und den schmalen Grat  dazwischen für mich selbst finden, als dieses Prozedere über mich ergehen zu lassen. Dabei geht’s für mich auch ums Prinzip und die Anerkennung, dass es so, wie es jetzt ist, gar nicht geht.“ Progressiver ist da Argentinien: Dort wurde vor kurzem ein  fortschrittliches Transgender-Gesetz  verabschiedet, mit dem eine Namensänderung und Geschlechtseintragung in Dokumenten nur mehr  einen Gang zum Amt braucht. Für Jolly ist das eine klare Lebensverbesserung. Trotzdem stellt er_sie klar: „Solange die gesellschaftliche Akzeptanz nicht da ist, sind alle gesetzlichen Regelungen nur halb so viel wert.“

Coming-Out. Laut Andrea haben sich die Reaktionen auf Coming-Outs im familiären Umfeld in den vergangenen Jahren verbessert, weil die Leute besser aufgeklärt seien: „Dass die Eltern und Verwandten in der Regel nicht glücklich sind, ist klar. Die ganz großen Katastrophen habe ich in den letzten Jahren aber nicht mehr erlebt.“ Dass es für Familienangehörige dennoch oft schwierig ist, mit der Situation umzugehen, hat auch Jackie erlebt. Er*sie schreibt in Wien derzeit an ihrer*seiner Masterarbeit
und ist in einer katholisch geprägten Familie aufgewachsen, die eine sehr konservative Vergangenheit hat: „Meine doch eher aufgeschlossene Mutter meinte, ich solle mit meiner Identität nicht hausieren gehen und dass meine Großeltern ‚das’ nichtverkraften würden. Und weil ich meine Mutter mag, hab ich das dann im Dorf nicht so rumerzählt, weil sie im Endeffekt diejenige ist, die dem Dorf dann ausgesetzt ist und nicht ich.“ „Die Leute fallen nicht mehr in Ohnmacht, wenn sie Transen sehen“, sagt Andrea, die bei TransX in der Beratung tätig ist und lacht.

Offene Diskriminierung würde es in unserer Gesellschaft kaum mehr geben – unterschwellig jedoch sehr wohl. Das bekommen viele Trans*Personen vor allem im Berufsleben zu spüren. „Ich habe in der Firma getransed und dann nicht mehr Fuß fassen können und  bin dann fünf Jahre lang herumgeschoben worden, bis ich aufgegeben habe“, erzählt Andrea. Rund 50 Prozent können laut Heike  Keusch ihren Job behalten. „Das geht aber oft mit viel Bauchweh und anderen Geschichten einher“, sagt sie. Laut Schwarz sind Bildung und Aufklärung in diesem Zusammenhang wesentliche Aufträge. Die Haltung „Ich verstehe nicht, warum dieser Mann plötzlich eine Frau sein will, und weil ich es nicht verstehe, kann ich darüber stänkern“ ist ihrer Meinung nach sehr wohl noch  verbreitet. Auch Jolly stößt auf der Uni des Öfteren auf diese Art von Unverständnis: „Das Problem beispielsweise bei meinen Kommiliton_innen ist, dass ich versucht habe, Gespräche zu führen und von ihnen keine Bereitschaft da war, auch nur ansatzweise darüber zu reden“, erzählt er_sie.

Verfolgung. Als großes Thema in Zusammenhang mit Transgender sehen Keusch und Andrea in Zukunft die Betreuung von Trans*Personen, die in Österreich um Asyl ansuchen, weil sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer Transsexualität verfolgt werden. Ein bekannter Fall ist jener von Yasar Öztürk, die in der Türkei von der Polizei misshandelt wurde. Ihre Abschiebung konnte zwar verhindert werden, ein positiver Asylbescheid fehlt aber bis heute. „Dabei geht es nicht nur darum, dass diese Leute Asylstatus bekommen, sondern dass diese Leute, wenn sie in der Grundversorgung sind, in Wien leben können, da sie in Flüchtlingsheimen außerhalb ebenfalls mit Diskriminierung zu kämpfen haben“, erklärt Schwarz.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Viele Trans*Personen sehen sich nicht als strikt männlich oder weiblich, sondern bewegen sich in einem Feld dazwischen. „Zweigeschlechtlichkeit an sich ist kein großartiges Konzept“, sagt Jolly. „Für mich bedeutet Trans*, dass ich mich selbst nicht als eines der beiden von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechter definieren möchte.“ So von anderen Menschen wahrgenommen zu werden, gestalte sich aber auch als schwierig, weil die Möglichkeit, weder als „Frau“ noch als „Mann“ verstanden zu werden, in deren Köpfen gar nicht existiere. „Die Leute tun sich leichter, wenn sie andere in zwei Schachteln einordnen können. Wenn es in die Bandbreite der Identitäten geht, wird es schwierig“, sagt Schwarz. „Dass für manche die Zuordnung zu einem Geschlecht unerträglich ist, ist zu akzeptieren. Wie man das jetzt im Detail umsetzen kann, weiß ich aber  nicht“, fährt sie fort. Die kritische Frage, in welchen offiziellen Papieren das Geschlecht überhaupt aufscheinen muss, stellt Schwarz ebenso wie Jolly.

Dennoch hält Schwarz es für unwahrscheinlich, dass es im westeuropäischen Rechtssystem etwas anderes als Mann und Frau geben  wird. „Geschlechtsidentitäten völlig auszuheben, wäre ein bisschen wie das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil es im  negativen Sinne Diskriminierung auf Basis des Geschlechts gibt. Diese wäre dann nicht mehr feststellbar. Außerdem ist Geschlecht für viele schon auch ein Teil der Identität. Es wäre nicht in Ordnung, das als null und nichtig wegzuwischen.“ Abseits der  Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung, freier Personenstandsänderung und freier Wahl des Vornamens geht es bei der  Verbesserung der Lebensrealitäten von Trans*Personen auch um eine gesellschaftliche Veränderung. Die Geschlechtsidentitäten von  Personen als ihre eigene Wahl zu akzeptieren und anzuerkennen, sei dabei der erste Schritt, meint auch Jolly: „Das Wichtigste ist, dass sich Leute darauf einlassen können. Dass sie Identitäten auch mal akzeptieren, auch wenn sie diese gerade nicht  nachvollziehen können. Dass sie beispielsweise gewünschte Pronomen verwenden und versuchen, den anderen Namen zu verwenden und darin zu denken.“

* Die Verwendung von Personalpronomen in unterschiedlichen Schreibweisen entspricht den Selbstbezeichnungen der Interviewten.

Info: Jeden zweiten und vierten Donnerstag wird von 20:00 bis 22:00 Uhr von TransX persönliche Beratung in der Rosa Lila Villa angeboten. Nähere Informationen gibt es unter www.transx.at.

Nach der Haft ist vor der Haft

  • 27.09.2012, 01:49

Der Neubeginn nach einer längeren Gefängnisstrafe ist schwierig. Resozialisierungsmaßnahmen sollen helfen, ehemalige Häftlinge wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Realität innerhalb und außerhalb der Mauern sieht aber anders aus.

Zehn Jahre lang die gleiche Routine: Aufstehen um sechs Uhr, Frühstück, Arbeitsdienst oder schlichtes Zeittotschlagen. Menüplan bis Kleiderwahl – alles ist geplant und fremdbestimmt. So sieht das Leben in Haft für derzeit mehr als 8700 Menschen in Österreich aus. Doch plötzlich ist alles ganz anders, die Entlassung steht bevor, von nun an ist man wieder auf sich selbst gestellt. Beinahe so schwierig wie das Leben hinter Mauern ist die Neuorientierung danach.
Das Gefängnis steht im klassischen Sinn für Bestrafung und sichere Verwahrung von RechtsbrecherInnen – ein wichtiger Aspekt ist aber auch die Resozialisierung von Häftlingen. Diese wird gegenüber Sicherheitsfragen allerdings oft vernachlässigt. So sieht das auch Arno Pilgram, wissenschaftlicher Leiter des außeruniversitären Wiener Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie: „Es ist natürlich das Risiko für die Vollzugsverwaltung wesentlich größer, kurzfristig bei der Sicherheitsverwirklichung zu versagen, als für ein Versagen bei der langfristigen Resozialisierung zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Flucht etwa ist leichter vorwerfbar und medial skandalisierbar.“

Sicherheit an erster Stelle. Für den Staat steht Sicherheit im Vordergrund, für die Häftlinge sieht es aber ganz anders aus. Im Idealfall beginnt Resozialisierung bereits am ersten Tag der Haft. Laut dem Strafvollzugsgesetz steht jedem Häftling ein Vollzugsplan zu. Dieser legt fest, an welchen Schwächen gearbeitet und welche Ziele erreicht werden sollen. Unter anderem sind eine psychotherapeutische Behandlung, aber auch individuelle Maßnahmen wie zum Beispiel Fremdsprachenkurse oder Computerkurse vorgesehen.
Am besten funktioniere die Umsetzung dieser Ziele bei mittleren Haftstrafen von drei bis fünf Jahren. Schwieriger sei es bei längeren Haftstrafen, weil deren Ende für die Justiz oft schwer vorhersehbar sei, so Pilgram. Bei Menschen, die über zehn Jahre inhaftiert werden, wird so ein Vollzugsplan oft gar nicht erstellt: „Bei Leuten, die unbestimmt angehalten werden, passiert in der Regel zunächst gar nichts. Bei lebenslang Verurteilten schaut man, wie man sie über die Tage bringt, ohne dass sie sich etwas antun oder für den Vollzug zu schwierig werden.“
Dabei wäre ein Vollzugsplan gerade für Menschen mit längerer Haftstrafe wichtig; immerhin müssen im Moment rund 2000 Häftlinge mehr als fünf Jahre im Gefängnis verbringen. Generell besteht für alle Inhaftierten nach dem Strafvollzugsgesetz Arbeitspflicht. Dafür erhalten sie ein Gehalt nach dem HilfsmetallarbeiterInnen-Kollektivvertrag, allerdings werden 75 Prozent dieses Lohns vom Gefängnis einbehalten. Übrig bleiben durchschnittlich fünf Euro pro Tag, wovon die Häftlinge die Hälfte sofort und die Hälfte später erhalten.
Die Realität in Österreichs Gefängnissen sieht allerdings anders aus, erzählt Julia Schütz*, die im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Campus Wien ein vierwöchiges Praktikum im Sozialen Dienst der Justizanstalt Garsten absolviert hat: „Es ist schon möglich, drinnen zu arbeiten oder eine Lehre zu absolvieren, aber die Plätze sind beschränkt. In Garsten haben rund 50 Prozent der Leute gar nichts gemacht – die warten einfach. Wenn du dann aber 15 Jahre untätig warst, ist es extrem
schwer, wieder Fuß zu fassen.“ Tatsächlich absolvieren in der größten Strafvollzugsanstalt Österreichs in Stein nur sechs von 100 Häftlingen eine Ausbildung.

Das Leben danach. Fuß zu fassen, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden – das sind in den ersten Wochen in Freiheit die wichtigsten Schritte zurück ins Leben. Dabei hilft Andreas Zembaty von der Organisation neustart. Dort arbeiten 550 BewährungshelferInnen und 950 ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Vor allem nach langen Haftstrafen kann ein Neubeginn schwierig sein, berichtet Zembaty: „Die Menschen drinnen werden zu einem Strafvollzug heranerzogen, der mit den Problemen draußen nichts zu tun hat. Das ist wie bei einem Vogel, dem man das Fliegen in einem Käfig lernen möchte. Dann macht man die Tür auf und wundert sich, dass der Vogel zu Boden stürzt.“ Jeder Schritt im Gefängnis ist vorgegeben, in Freiheit müssen alltägliche Routinen wieder neu gelernt werden. Denn das Leben im Gefängnis hat auch im Umgang miteinander nur wenig mit realen Bedingungen zu tun. Zembaty spricht von der Bildung einer eigenen Gefängnissubkultur, in der strafbare Handlungen an der Tagesordnung stehen: „Gerade in großen Justizanstalten wie Stein oder Garsten sind Häftlinge oft damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Wem muss ich drohen? Mit wem muss ich mich arrangieren? Das sind Verhaltensweisen, die draußen unbrauchbar sind.“ Diese abzulegen, ist harte Arbeit. Die Resozialisierung beginnt meist erst nach der Entlassung.
„Das primäre Ziel des Gefängnisses ist sozialer Ausschluss, Wegschließen, nicht Resozialisierung. Erst wenn sich das Ende der Haft nähert, wird über Resozialisierung nachgedacht“, erklärt Kriminalsoziologe Pilgram. Tatsächlich kommen auf eineN JustizwachebediensteteN nur drei Häftlinge, während einE BewährungshelferIn 45 ehemals Inhaftierte betreuen muss. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Arbeit der SozialarbeiterInnen von neustart mit ihren KlientInnen. Oft kommt es zu Rückfällen, besonders bei langen Haftstrafen. Wenn keine Betreuung in Anspruch genommen wird, liegt die Rückfallsquote bei etwa 80 Prozent und das in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung. Bei einer Begleitung durch neustart sinkt die Quote auf 40 Prozent. Diese in Anspruch zu nehmen, ist allerdings nicht verpflichtend. Nur auf Bewährung Entlassene müssen Betreuungstermine wahrnehmen. Allerdings beobachtet der Sozialarbeiter Zembaty bei WiederholungstäterInnen häufig ein Abschwächungssyndrom: „Das heißt, dass auf ein strafrechtlich schwerwiegendes Delikt oft ein leichteres folgt. Zum Beispiel wird aus schwerer Körperverletzung Diebstahl.“
Zembaty, der bereits über 500 KlientInnen betreut hat, ist überzeugt, dass sich Rückfälle im momentanen Strafvollzug nicht gänzlich verhindern lassen. Dazu gebe es zu wenig Handlungsspielraum, trotz engagierter JustizbeamtInnen. Diese Erfahrung hat auch Schütz in Garsten gemacht: „Ich hatte das Gefühl, dass die Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Jede kleine Veranstaltung muss erst vom Bundesministerium genehmigt werden. Das dauert oft ewig und erschwert kreative Ansätze.“ Das mache die Arbeit mit Häftlingen nicht selten frustrierend.
Und der Job als SozialarbeiterIn lässt diese auch an persönliche Grenzen stoßen. Das leugnet auch Zembaty nicht: „Es gibt auch Situationen, wo man einfach verzweifelt ist und nach Hause geht und heult.“ Trotzdem wiegen die Erfolgserlebnisse stärker: „Man muss bereit sein, diese Rührung auf sich zu nehmen und die eigene Betroffenheit zu leben. Um in der Arbeit mit Menschen wirksam zu sein, muss ich mich auch als Mensch einbringen.“

Muss Strafe sein? In einem Punkt sind sich WissenschaftlerInnen und SozialarbeiterInnen einig: Es gibt Verbesserungsbedarf beim Strafvollzug und der anschließenden Resozialisierung. Die Betreuung hinter den Mauern wird durch Überbelegung und nicht vorhandene finanzielle Mittel erschwert. „Belagszahlen zu reduzieren, ist kein kriminalpolitisches Credo. Es lässt sich beobachten, dass immer neue soziale Probleme mit Strafrecht und Haft gelöst werden sollen, ohne Rücksicht darauf, was das für Justiz und Vollzug bedeutet“, bestätigt Pilgram.
Zembaty von neustart wünscht sich generell einen offeneren Vollzug. Denn kein Strafvollzug der Welt könne die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen und gleichzeitig Menschenrechte wahren. Deshalb setzt neustart auf diversionelle Erledigungen. Das bedeutet, dass auch Alternativen vor dem Gerichtsverfahren wie ein Ausgleich oder ein TäterIn-Opfer-Gespräch stärker genutzt werden sollen.
„Wir wissen, dass der Rückfall dort am größten ist, wo am strengsten gestraft wird.“ Daher hält Zembaty es sowohl für humaner als auch ökonomisch sinnvoller, Alternativen zur klassischen Haft zu suchen. Denn am Anfang jedes Falls sollte die Frage stehen: Muss Strafe überhaupt sein?
Der Strafvollzug in der Schweiz gilt als liberal. Hier überlegt man, welche Strafe den besten Zweck erfüllt. In der Haft selbst werden die Defizite der Strafgefangenen analysiert und es wird gezielt daran gearbeitet. Wann eine Entlassung auf Bewährung in Frage kommt, entscheidet der Vollzug und nicht die/der RichterIn. Die Rückfallquoten sind dementsprechend geringer.
„Wenn man schon früh ambitionierte alternative Maßnahmen setzt, erspart man sich letztlich einen Vollzug, der bei allem Engagement nicht optimal sein kann“, zeigt sich Zembaty überzeugt. In Österreich wird erst langsam mit diesen Alternativen earbeitet, der elektronische Hausarrest – auch Fußfessel genannt – ist ein umstrittenes Pilotprojekt. „In den 70er-Jahren gab es von sozialdemokratischem Optimismus geprägt die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft“, erklärt der Kriminalsoziologe Pilgram. Doch diese Aufbruchsstimmung war schnell vorüber. Auch Zembaty glaubt nicht an die Verwirklichung dieser Idealvorstellung: „Man wird nicht ganz auf den Strafvollzug verzichten können. Es gibt Leute, für die haben auch wir keine bessere Idee.“
Kritisch sehen aber beide, dass sich das Gefängnis heute wieder mehr in Richtung Verwahrungsanstalt entwickelt. Dadurch werden die Häftlinge immer stärker aus dem Sichtfeld der Gesellschaft gedrängt. Fachhochschulstudentin Schütz kann dem zustimmen: „Mir kommt es so vor, als wäre die Gesellschaft damit zufrieden, dass Menschen hinter Mauern gesperrt und von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Es interessiert niemanden, was dahinter geschieht oder auch nicht.“

Barbara Wakolbinger und Elisabeth Mittendorfer studieren Journalismus und Medienmanagement an der FH in Wien.

* Name auf Wunsch geändert.

Der Ausverkauf der Studierendenwohnheime

  • 20.09.2012, 17:17

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Ein langer Gang führt in den Gemeinschaftsraum des vierten Stocks im Studierendenheim Haus Döbling im 19. Wiener Gemeindebezirk. Farbe blättert von den Wänden, der Boden ist abgenutzt und fleckig. Drei Sofas stehen um einen Tisch gruppiert, die Bezüge sind aufgeplatzt, das Futter quillt heraus. In einem Kobel in der Mitte des Gangs befindet sich die Gemeinschaftsküche. Vier Kochplatten, ein Kühlschrank für den gesamten Stockbereich. Eine bunte Fotowand zeigt ehemalige und aktuelle BewohnerInnen. Auf beiden Seiten des Gangs liegen die Einzelzimmer der Studierenden, zehn Quadratmeter groß und mit dem Notwendigsten ausgestattet. Zur Mittagszeit öffnen sich die ersten Türen, man trifft sich auf Kaffee und Kipferl. „Die wahren Werte des Haus Döbling liegen im Inneren. Es schaut zwar schirch aus, aber die Gemeinschaft ist das Wertvolle“, sagt Lisa, die seit 2009 hier wohnt. Die Vorsitzende des Heimausschusses setzt sich zusammen mit einigen anderen BewohnerInnen für ihr Haus Döbling ein. Denn Teilen des Hauses aus den 1970er-Jahren droht der Abriss. Vierzig Jahre lang wurde das Gebäude nicht renoviert, jetzt ist es nicht mehr renovierfähig. „Die haben das Haus mutwillig heruntergewirtschaftet“, sagt Michael, der stellvertretende Vorsitzende des Heimausschusses. Zwar sei die Renovierung im Gemeinderat bereits beschlossen gewesen, 2009 hob die SPÖ den Beschluss jedoch wieder auf. Die alten Gebäudeteile sollen abgerissen werden, an ihrer Stelle plant die Stadt den Bau von Genossenschaftswohnungen.

REGIERUNGSKLAUSUR LOIPERSDORF. Grund dafür könnte die Streichung der Sanierungsförderung für Studierendenwohnheime bei der Regierungsklausur in Loipersdorf im Oktober 2010 sein. Aufgrund dieses Beschlusses fällt die Unterstützung des Bundes bei Sanierungsvorhaben und Neubauten von Wohnheimen weg. Problematisch ist das vor allem, weil es den Heimen, die als gemeinnützige Organisationen agieren, bisher nicht erlaubt war, Rücklagen für allfällige Sanierungen zu bilden. Jetzt bleibt vielen Trägerorganisationen von Studierendenwohnheimen nichts anderes übrig, als die Heime zuzusperren oder die Preise drastisch zu erhöhen. Insgesamt wohnen in Österreich laut Studierendensozialerhebung 2009 32.000 Studierende in Wohnheimen, etwa zehn Prozent aller Studierenden in Österreich. Sie zahlen dafür durchschnittlich 245 Euro monatlich, ein Viertel weniger, als sie für Wohnungen ausgeben müssten.

Das Haus Döbling gehört der Wien Holding, einem Tochterunternehmen der Stadt Wien. Als das Haus als nicht mehr renovierungsfähig eingestuft wurde - im Büro des Stadtrates Ludwig spricht man von Baufälligkeit und Ungeziefer, wurde beschlossen, das Baurecht an die Gesiba, ebenfalls eine Tochtergesellschaft der Stadt Wien, zu verkaufen. Laut den Studierenden im Haus Döbling zu einem Preis von 152 Euro pro Quadratmeter. Kein schlechtes Geschäft mitten im Nobelbezirk Döbling. Zwar sehe das Baurecht vor, dass wieder ein Studierendenheim errichtet werden muss, die Stadt Wien als Eigentümer konnte das Grundstück jedoch mit Zustimmung der Heimleitung des Haus Döbling umwidmen, erzählen die engagierten HeimvertreterInnen. Die Studierenden befürchten Konflikte mit den zukünftigen BewohnerInnen der geplanten Genossenschaftswohnungen. Denn die Gebäude teilen sich einen Innenhof, den die Studierenden vor allem in der warmen Jahreszeit gerne nutzen.

Die Geschäftsführerin der base 19, die das Haus Döbling betreibt, Michaela Lindenbauer, erklärt die Situation so: „Die Streichung ist ein großer Einschnitt in die Planung von Sanierungs- oder Bauvorhaben. Wir bekommen für die Sanierung überhaupt keine Bundesförderung oder sonstige Förderungen mehr. Das Geld für die Sanierung müssen wir über ein Wohnbaudarlehen der Stadt Wien aufbringen.“ Ein Teil der Sanierungskosten komme außerdem vom Verkauf des Teilgrundstücks, auf dem die alten Gebäude stehen. Bis Sommer 2013 sollen die verbleibenden Wohneinheiten fertig renoviert sein, erst dann werden die alten Gebäude abgerissen.

EIN DORF IN WIEN. Aber die BewohnerInnen hängen an dem alten Heim, vor allem aufgrund der guten Gemeinschaft. „Das Heim ist wirklich was Besonderes. Vor allem das soziale Zusammenleben“, sagt Lisa. Michael stimmt zu: „Wir sind ein Dorf in Wien.“ Aber auch die günstigen Preise machen das Wohnheim beliebt: 200 Euro Zimmerpreis für zehn Quadratmeter, Betriebskosten und Internet inklusive, machen das Haus Döbling zu einem der günstigsten Studierendenwohnheime in Wien. Da nimmt man gerne ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf. Mit diesen billigen Preisen wäre es nach dem Abriss vorbei. Momentan kostet ein bereits renoviertes Zimmer im Gebäudeteil D schon 299 Euro. Als Alternative für die Studierenden in den abrissreifen Teilen bietet das Heim eine Ausweichmöglichkeit in den neuen Gebäudeteil - diese Variante können aber nur langjährige HeimbewohnerInnen beanspruchen, denn um das Heim zu leeren, vergebe die Heimverwaltung nur noch befristete Plätze, so die Studierenden. Zusätzlich werden Erasmus-Studierende eingemietet. „Seit einiger Zeit kommen hauptsächlich Erasmus-Studierende ins Heim. Das ist zwar gut für die Internationalität, aber schlecht für das soziale Leben, weil die lieber feiern, als sich für das Heim zu engagieren“, erzählt Lisa. Noch ist ungeklärt, ob die Preise für die alteingesessenen BewohnerInnen bei einer Umsiedlung in den neuen Trakt steigen werden.

DIE PREISE WERDEN STEIGEN. Lindenbauer rechnet mit einem Anstieg der Preise, denn das Sanierungsdarlehen müsse auch wieder zurückgezahlt werden. Zusätzlich fallen Kosten für die Möblierung an, die bisher der Bund getragen hat. „Das Haus Döbling ist momentan deshalb so günstig, weil ein enormer Sanierungsbedarf besteht. Eine Preiserhöhung wird kommen müssen. Mehr als 300 Euro wird ein Zimmer aber auch zukünftig nicht kosten.“ Aber nicht nur das Haus Döbling wird teurer. Da Sanierungen in Zukunft durch Kredite finanziert werden müssen, werden die Preise zeitversetzt steigen, erklärt Bernhard Tschrepitsch, Generalsekretär der Akademikerhilfe, die rund 20 Wohnheime betreibt. Die ÖH rechnet damit, dass das Benützungsentgelt mittelfristig um rund zehn bis 20 Prozent teurer wird.

In den Studierendenheimen der WIHAST steht die Preiserhöhung schon fest. Um fünf bis acht Prozent werden die Zimmer ab Herbst teurer, erklärt Martin Strobl, stellvertretender Generalsekretär der WIHAST-Heime. Auf lange Sicht schätzt er die Lage jedoch dramatischer ein: „Damit können wir die Häuser schwer sanieren, beziehungsweise Neubauten finanzieren.“ Strobl hält es für möglich, dass Zimmer in Studierendenheimen in Zukunft sogar über 400 Euro kosten könnten. Wenn dann die Studierenden auf den Wohnungsmarkt drängen, würden auch dort die Preise drastisch ansteigen.

In Salzburg hat das Studentenwerk kreativ kalkuliert: Aufgrund einer Vorausplanung über 40 Jahre, die alle anstehenden Sanierungen berücksichtigt, müssen die Studierenden jetzt nur eine Preiserhöhung von 23 Euro statt den geplanten 60 Euro in Kauf nehmen. Die Erleichterung bei den BewohnerInnen sei groß, erzählt Georg Leitinger, Geschäftsführer des Salzburger Studentenwerks. „Unser Ziel war es, günstigen Wohnraum für Studierende zu erhalten. Wir holen das Geld von den Banken, nicht von den Studierenden. Denn die 23 Euro wandern als Rücklage auf ein separates Konto, das jederzeit von den BewohnerInnen einsehbar ist.“ Weil über 40 Jahre geplant wurde, muss der Betrag nicht an den Index angepasst werden und bleibt somit gleich, da die Bank eine Verzinsung garantiert. Das sei in der Stadt Salzburg besonders wichtig, da es kaum leistbaren Wohnraum für Studierende gebe, sagt Leitinger. Denn einerseits fehlen die großen WG-geeigneten Altbauten, andererseits sind kleinere Wohnungen unerschwinglich. Das hat zur Folge, dass Salzburg den zweitgrößten Anteil an Studierendenheimen hat. 18 Prozent wohnen hier in Heimen, viele andere müssen pendeln.

ZURÜCK NACH DÖBLING. Im Haus Döbling leben im Moment 860 Studierende. 360 von ihnen müssen sich nach einer anderen Wohngelegenheit umsehen. Das Büro des Wohnbaustadtrats Michael Ludwig weist auf Ausweichmöglichkeiten hin: In der Gasgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk, in der Kandlgasse im Siebten oder in dem geplanten Heim in der im Bau befindlichen Seestadt Aspern. Aber die Studierenden schätzen vor allem die gute Lage des Hauses Döbling. Fünf Minuten sind es von hier zur Wirtschaftsuniversität, zur Universität für Bodenkultur und auch die Hauptuniversität ist nicht weit. Von den Ausweichmöglichkeiten im 22. Bezirk sind die Studierenden nicht begeistert: „Wer will denn dort hin? Da fährst du ja überall ewig hin.“ Ähnlich sieht das auch Tschrepitsch von der Akademikerhilfe. Seiner Meinung nach fehle das Commitment, das Studierende dazu berechtigt, sozialverträglich und zentrumsnah zu wohnen. „Nur weil der Grund an der Stadtgrenze billig ist, ist das noch lange kein Grund, Studierende in die Peripherie abzuschieben.“ Seit etwa zwei Jahren bietet die Stadt Wien auch die Wohnungsaktion für Studierende an. Wer unter 26 Jahren ist und mindestens ein Jahr in einem Studierendenwohnheim gewohnt hat, kann sich von der Stadt Wien ein einmaliges Wohnungsangebot für eine Kleinwohnung von bis zu 35 Quadratmetern unterbreiten lassen. Der Haken an der Sache: Es gibt Wartezeiten von ein bis eineinhalb Jahren. Ähnlich sieht es vermutlich bei den oben genannten Ausweichheimen aus. Zwar schätzt das Sozialreferat der Österreichischen HochschülerInnenschaft, dass alle Studierenden, die in Wien einen Heimplatz suchen, auch einen bekommen. Jedoch sind vor allem Heime in Universitätsnähe oder Innenbezirkslage begehrt. Hier gibt es ebenfalls Wartelisten.

LOKALAUGENSCHEIN KLAGENFURT. Das Haus Döbling ist kein Einzelfall. Während die großen Heimträgerorganisationen wie zum Beispiel die STUWO, die sich durch Genossenschaftswohnungen querfinanziert, größere Überlebenschancen haben, sieht die Lage bei kleinen Heimen düster aus. So auch im Mozartheim in Klagenfurt. Dort sollen bis August 2012 die 145 HeimbewohnerInnen ihre Zimmer räumen, das günstigste Heim in Klagenfurt muss seine Türen schließen. Ähnlich wie im Haus Döbling wurde auch hier seit den 1970er-Jahren nicht mehr renoviert. Eigentlich wäre hier die Sanierung bereits geplant gewesen. Der Bund hätte von den Gesamtkosten von rund 1,5 Millionen Euro 900.000 übernommen, erzählt Hermann Riepl, der Geschäftsführer der Volkshilfe Kärnten, die das Heim betreibt. Doch mit dem Sparpaket Loipersdorf fiel dieses Vorhaben ins Wasser. Das Land war nicht bereit, die Kosten zu übernehmen. Am Faschingsdienstag 2012 bekam Riepl daher völlig überraschend ein E-Mail: Das Land Kärnten kündigt den Vertrag mit der Volkshilfe. Ein Grund dafür ist auch der enorme Verlust, den das Land mit dem Heim erwirtschaftet. Die jährliche Miete von 265.000 Euro, die das Land dem Eigentümer des Gebäudes, der Landesimmobiliengesellschaft (LIG) bezahlen muss, ist zu teuer. So viel kann die Volkshilfe mit den Benützungsgebühren der Studierenden nicht einnehmen. Das Heim steht vor dem Aus. Geschäftsführer Riepl hält diese Kündigung weder für frist- noch formgerecht. Laut Studentenheimgesetz haben Erstsemestrige das Recht, zwei Jahre lang im Heim zu wohnen. Die letzten Studierenden wären somit erst im Herbst 2013 kündbar, noch gibt es keine Alternativlösung. Das Land Kärnten sucht derzeit einen neuen Heimbetreiber, der auch die Sanierungskosten trägt. Ob sich dieser finden lässt, bleibt offen, genauso wie die rechtliche Situation der HeimbewohnerInnen. Diese Suche läuft noch bis Juni 2012, findet sich dann kein Betreiber, wird das Gebäude zum öffentlichen Verkauf ausgeschrieben. Das könnte bedeuten, dass aus einem Studierendenwohnheim private Wohnungen werden. Der Geschäftsführer des momentanen Hausbesitzers LIG, Rene Oberleitner, hält diese Variante durchaus für möglich. Bisher hatte der Bund durch die Förderung der Heime ein Mitspracherecht bei der Platzvergabe, die vor allem nach sozialen und örtlichen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel dem Einkommen der Eltern, erfolgte. Da diese Förderung nun weggefallen ist, können die Heime nach eigenen Kriterien Plätze vergeben und müssen, um auch in Zukunft kostendeckend arbeiten zu können, privatwirtschaftlicher agieren. Das könnte eine Verlagerung von Benützungsverträgen zu klassischen Mieten bedeuten. Schon jetzt fällt bei manchen Neubauten der soziale Gesichtspunkt weg.

„WIR BLEIBEN.“ Um ihr Sozialleben fürchten auch die Studierenden im Haus Döbling. Für die neuen Zimmer ist jeweils eine Kochnische vorgesehen. Gemeinsames Kochen im Stockwerk wird es dann nicht mehr geben. „Wir merken schon jetzt, dass es im neu renovierten Gebäudeteil kein aktives Stockleben mehr gibt. Die Leute lernen sich erst auf den Heimpartys kennen. Viele sieht man gar nicht“, sagt Lisa. Die Studierenden wehren sich: Protestfeste, Flyerverteilen oder ein Herbergsgesang für zukünftig obdachlose Studierende. Neben den öffentlichen Protesten in Wien und Klagenfurt versuchen die Studierenden des Haus Döbling auch auf rechtlichem Weg, gegen den Abriss ihres Heimes vorzugehen. Denn die Heimverwaltung hätte mit ihrem Beschluss die Informationsrechte der BewohnerInnen verletzt, die von dem Abriss aus der Zeitung erfahren haben. In Paragraph acht des Studentenheimgesetzes heißt es: „(2) Der Heimträger hat die Heimvertretung über alle wesentlichen Angelegenheiten, die das Studentenheim betreffen, zu informieren bzw. über Verlangen umfassend Auskunft zu geben.“ In den Heimstatuten des Haus Döbling sei laut Heimvertretung zusätzlich ein Mitspracherecht der Studierenden verankert. Soeben ist die Bildung eines Schlichtungsausschusses nach dem Studentenheimgesetz abgeblitzt, der sich in dieser Sache für nicht zuständig erklärt hat. Jetzt bleibt nur noch der zivilgerichtliche Weg, der teuer und aufwändig wäre - ohne Garantie auf Erfolg. Denn im Studentenheimgesetz sind keine Konsequenzen für einen Verstoß gegen dasselbe angeführt. Der Abriss im Sommer 2013 scheint nicht mehr abzuwenden.

Inzwischen ist der Mitbewohner Lauschi zur Kaffeerunde im Haus Döbling dazugestoßen: „Die müssen uns schon wegtragen“, sagt er: „Wir haben uns für den Sommer 2013 auf jeden Fall nichts vorgenommen.“

Sicher, sauber, unerwünscht

  • 13.07.2012, 18:18

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Die Lifttür geht auf und vor Matthias und Jo klebt eine Kackwurst in einer Lache Urin am Kellerboden. Wer macht sowas, fragen sich die beiden. Wenige Schritte weiter steht ein schwarzer Rucksack, daneben ein Paar Lederschuhe. Auf einem Prospekt liegen ordentlich aufgelegt zwei Spritzen und ein paar blutige Taschentücher.

Es ist nicht das erste Mal, dass in diesem Haus in der Millergasse nahe dem Westbahnhof einE SuchtkrankeR übernachtet hat. Immer wieder passiert das in Wien; zuletzt berichtete der Falter von einem ähnlichen Fall in der Novaragasse im zweiten Bezirk. Auch Hamid* kennt diese Situation – aber aus einer anderen Perspektive: Früher hat er selbst oft in Kellern übernachtet, in Telefonzellen gespritzt: „Wo hätte ich hingehen sollen? Ich war Tag und Nacht unterwegs und wollte meinen Schmerzen entkommen.“ Die Frauen und Männer aus der Straßendrogenszene suchen einen ruhigen Ort, um sich einen Schuss zu setzen. Oft bleiben gebrauchte Spritzen und Kanülen oder sogar Fäkalien in Kellern, Telefonzellen oder öffentlichen Toiletten zurück. So ein Fund kann mehr als unangenehm sein: Wer sich mit einer Spritze sticht, kann sich noch ein paar Stunden nach ihrem Gebrauch mit HIV infizieren – mit Hepatitis C sogar bis zu drei Tage lang.

Mit einem Konsumraum könnte diese Situation verbessert werden: Dort können Suchtkranke unter medizinischer Aufsicht Drogen nehmen und das Spritzbesteck sicher entsorgen. Sie bieten KonsumentInnen menschenwürdige und hygienische Bedingungen für ihren Drogenkonsum und schützen Unbeteiligte vor Infektionen. SozialarbeiterInnen und Krankenpflegepersonal sind ständig vor Ort, um im Notfall eingreifen zu können. Dadurch sinkt die Zahl der Drogentoten, Infektionen mit HIV und Hepatitis gehen zurück und es wird weniger im öffentlichen Raum konsumiert. In Deutschland und der Schweiz gibt es Konsumräume bereits seit Jahrzehnten, in Österreich hingegen fehlt ein solches Angebot.

Lokalaugenschein Berlin. An den Wänden stehen sechs kleine Tische, davor jeweils ein Sessel. Über jedem Platz hängt ein Spiegel. Ein gelber Mistkübel, Feuerzeug und Schere gehören ebenfalls zur Ausstattung eines jeden Tisches. Die Wände sind aus Hygienegründen zur Hälfte gefliest, der Rest ist in einem freundlichen Orange gestrichen. Ein wenig erinnert der Raum in der Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg an einen Friseursalon. Sein Verwendungszweck ist ein anderer: Es handelt sich um einen Drogenkonsumraum. Derzeit gibt es in Berlin zwei solche Räume sowie ein Drogenkonsummobil, das an unterschiedlichen Orten der Stadt Halt macht.

Das Suchthilfezentrum SKA mit Konsumraum gibt es in Kreuzberg seit Jänner. Die Einrichtung liegt ungefähr 15 Gehminuten vom Kottbusser Tor, einem zentralen Treffpunkt der Berliner Drogenszene, entfernt. Hier können DrogenkonsumentInnen nicht nur unter hygienischen Bedingungen konsumieren, sondern auch Spritzen tauschen, sich medizinisch behandeln und juristisch beraten lassen. Außerdem können sie ihre Wäsche waschen, duschen, essen oder einfach nur Zeit im Aufenthaltsraum verbringen.

Zielgruppe von Konsumräumen ist vor allem die offene Straßenszene, der in Berlin etwa 800 Leute angehören. Viele KlientInnen sind arbeitslos, haben keine fixe Unterkunft und kein soziales Netz, das ihnen Rückhalt bietet. Meist sind die Drogen Selbstmedikation, um Probleme zu vergessen. In Einrichtungen wie in der Reichenberger Straße gibt es kein „du musst clean werden“, um das Angebot nutzen zu dürfen. Durch eine „akzeptierende“ Form der Drogenarbeit soll eine soziale und medizinische Grundversorgung gesichert werden, um später mit den KlientInnen ein Betreuungsverhältnis aufbauen zu können.

Zunächst muss die Hilfe aber angenommen werden. Einen Monat nach der Eröffnung in der Reichenberger Straße nehmen vorerst nur wenige das Angebot in Anspruch. „Wir wissen aus Erfahrung, dass Projekte wie dieses eine lange Anlaufzeit haben. Es muss sich erst herumsprechen, dass und wo es uns gibt“, sagt Sozialarbeiter Dennis Andrzejewski von der SKA. Die Abkürzung steht für Streetwork, Koordination und Akzeptanz. Letztere wird solchen Einrichtungen nicht immer entgegengebracht.

Die NachbarInnenschaft. Früher befand sich das Suchthilfezentrum in unmittelbarer Nähe zum Kottbusser Tor, bis im Jahr 2009 der Mietvertrag nicht mehr verlängert wurde und die Einrichtung einer Spielautomatenhölle weichen musste. Zweieinhalb Jahre hat die Suche nach einer neuen Unterkunft gedauert. Der Kontakt zu den KonsumentInnen ist dabei weitgehend abgebrochen: Ohne fixen Raum erreichte die SKA 96 Prozent weniger KlientInnen. Als man die Reichenberger Straße ins Auge fasste, wurde dort eine BürgerInneninitiative gegen den Drogenkonsumraum gestartet. Nach einer ersten, gut besuchten Informationsveranstaltung zum Thema seien nur noch wenige der kritischen Geister zu einem weiteren offenen Abend gekommen, so Andrzejewski. „Eine Drogenhilfeeinrichtung macht Probleme sichtbar, aber zieht sie nicht an“, aber aus Sicht des Sozialarbeiters besteht viel Unwissenheit: Die Leute hätten Angst, dass der Konsumraum DealerInnen und Suchtkranke anziehe und Kinder zum Drogenkonsum verführe. Laut einer Evaluation des zweiten Konsumraums in Berlin, der Birkenstube, trifft das nicht zu: Bei derartigen Einrichtungen gibt es keine Szeneverlagerung vor den Raum und auch die Kriminalität im Grätzel steigt nicht. Trotzdem haben einige AnrainerInnen weiterhin Probleme mit dem Projekt. „Letzte Woche hat jemand den Aufsteller vorm Eingang umgetreten“, erzählt Andrzejewski.

Zurück nach Wien. Diese ablehnende Haltung gibt es auch in Wien. Der Ganslwirt ist die wohl bekannteste Drogenberatungsstelle der Stadt. Wie in Berlin gibt es dort eine multiprofessionelle Betreuung: Von der Grundversorgung über Spritzentausch und rechtliche Beratung bis hin zur Substitutionstherapie – nur konsumieren dürfen die KlientInnen nicht. Bedarf wäre aber durchaus da: Die Wiener Straßenszene besteht aus 300–500 Menschen, täglich werden im Ganslwirt und seiner Nebenstelle, dem TaBe-NO 7.000 Spritzen getauscht. Obwohl es im Vergleich zu der Anzahl der getauschten Spritzen relativ wenig Beschwerden gibt, scheint die Gesellschaft die Sucht nach illegalen Drogen noch nicht als Krankheit akzeptiert zu haben: KonsumentInnen werden als „Junkies“ oder „Giftler“ stigmatisiert und wie Kriminelle behandelt. „Bei Sucht handelt es sich um eine chronische Krankheit. Sie ist behandelbar, aber nicht immer heilbar und die KonsumentInnen sind nicht selbst schuld“, erklärt Christine Tschütscher, Geschäftsführerin des Vereins Dialog, der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung in Österreich. Der Weg aus der Sucht ist ein langwieriger Prozess: „Abstinent zu werden, ist dabei nicht der erste Schritt. Die Person und ihre Lebenssituation muss zuerst stabil sein“, so Tschütscher. Um Entzugserscheinungen zu verhindern und die KonsumentInnen aus der Beschaffungskriminalität zu holen, werden Substitutionstherapien verschrieben. So wird auch das Risiko eingedämmt, dass die Ware verschmutzt ist oder eine Infektion stattfindet. „Substituierte KlientInnen können ein ganz normales Leben führen. Eine/r ihrer KollegInnen könnte substituiert sein, Sie würden es nicht merken.“ Etwa 7.700 Menschen werden im Moment in Wien substituiert. In Berlin sind es „nur“ 4.000. Und das, obwohl in beiden Städten 10.000–12.000 Opiatabhängige leben. „Deutschland hat trotz massiver Opiat-Probleme erst zehn Jahre nach Österreich mit der Substitution begonnen und anfangs auch nur die Schwerstkranken behandelt“, erklärt die Wiener Drogenkoordination.

Was fehlt. Eines kann ein Substitut nicht ersetzen: Den Kick, den nur die Nadel bringt. Einige brauchen Jahre, um loszukommen. Andere schaffen es nie. Die Initiative Drogenkonsumraum ist überzeugt davon, dass ein Konsumraum in Wien diesen Menschen helfen würde. Ihre Mitglieder kennen die Probleme der Szene aus erster Hand: SozialarbeiterInnen, StreetworkerInnen, Angehörige und KonsumentInnen, darunter auch Hamid. Seit mittlerweile drei Jahren macht er eine Substitutionstherapie, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn: „Drei Jahre und vier Monate ist er alt“, erzählt er stolz. Damals, als er noch an der Nadel hing, hätte er lieber einen Konsumraum genutzt, als die Häuser fremder Leute.Ein solches Angebot wird es in Wien trotzdem noch länger nicht geben. „Das Problem ist zu klein, als dass es einen Schulterschluss der Interessensgruppen gibt“, erklärt Alexander David, Drogenbeauftragter der Stadt Wien. Die Politik müsste zustimmen und die Justiz den Konsumraum gesetzeskonform machen. Außerdem müsste die Polizei ein eigenes Konzept entwerfen, wie mit Suchtkranken im Areal um den Konsumraum umgegangen wird und die Medien müssten diesen Prozess mittragen. Kurzum: Es müsste einen gesellschaftlichen Konsens geben. Der fehlt bisher in Wien: „Am Platzspitz in Zürich lungerten täglich rund 2.000 KonsumentInnen herum, da konnte niemand mehr wegsehen. Am Karlsplatz waren es an warmen Tagen ungefähr 200. Die Konsumräume in der Schweiz und in Deutschland sind aus einer Notoperation am verpfuschten Patienten entstanden, durch jahrelange verfehlte Drogenpolitik. Das gab es in Wien nie“, so David. Die Szene am Karlsplatz, die gibt es auch nicht mehr. Man habe sie aufgelöst, um eine ganz bestimmte Form von offenem Drogenhandel zu unterbinden. Die „Kinder vom Karlsplatz“ seien durch den Ganslwirt und TaBeNo aufgefangen worden.

Die Initiative Drogenkonsumraum teilt diese Meinung nicht: „Wir haben Rückmeldungen von StreetworkerInnen, dass viele Betreuungsverhältnisse zerbrochen sind. Die Szene wurde aus diesem öffentlichen, touristischen Umfeld vertrieben. Die Konsequenzen müssen die KonsumentInnen tragen.“ Auch seien nicht alle Konsumräume aus einer „Notoperation“ heraus entstanden: „Für Zürich mag das stimmen, aber in Ländern wie Kanada und Australien sind die Räume später entstanden und unter anderen Voraussetzungen.“ In einem sind sich David und die Initiative aber einig: Die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt – in der öffentlichen Meinung sind KonsumentInnen immer noch kriminell und nicht chronisch krank. „Aber wer, wenn nicht der Drogenbeauftragte sollte Verantwortung übernehmen, diese Meinung zu kippen?“, heißt es seitens der Initiative.

* (Name geändert)

Link: Initiative Drogenkonsumraum Wien: http://i-dk.org