Anne Pohl

Feiern gegen die Gesamtscheiße

  • 23.02.2017, 20:20
Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Der Winter ist vorbei und mit den ersten Sonnenstrahlen tauchen auch die ersten Gedanken an die Festival-Saison auf. Während die einen im Winter auf einen erfüllten Ferienkommunismus zurückblicken konnten, haben andere daheim weiter gearbeitet: am Refugee-Projekt, im Haushalt, haben Demos angemeldet oder ihr Zuhause verteidigt. Der Ärger über den Hedonismus ist nicht neu, auch nicht die Frage, wie links oder subversiv es sein kann, mehrere Tage unter dem Motto „Koksen, Kotzen, Kommunismus“ in einer arrangierten Parallelwelt zu feiern.

Wer ein Festival wie die „Fusion“ besuchen kann und wer nicht, wird durch die hohen Kosten für die Anreise, die Vergabe teurer Tickets im Lotterie- Verfahren und andere Barrieren, wie etwa Stacheldraht, festgelegt: ein weitestgehend junges, weißes Publikum, das unkritisch Federkopfschmuck oder Dreadlocks trägt. Das Statement der Veranstaltenden, „Vier Tage Ferienkommunismus ist das Motto der ‚Fusion‘. (…) Weil es aber keinen Ort nirgends gibt, wo die Menschen frei sind, ist es gerade die Vereinigung der FusionistInnen aller Länder und der Ferienkommunismus, der uns spüren lässt, dass wir mehr wollen, als das, was uns in diesem Leben geboten wird. Nämlich alles und zwar sofort!“, meint eben alles für alle mit bezahltem Ticket. Nun sind der Besuch von Dixie-Klos und Dauerrausch nicht unbedingt eine rühmliche oder produktive Freizeitgestaltung, aber für manche eben Erholung. Gerne werden vermeintliche „Wohlfühllinke“ kritisiert, die bloß zu Festivals und Soli-Partys gehen, nicht aber nicht bei Lesekreisen und Plena auftauchen. Kapitalistische Härte für alle zu fordern, passt gut in eine Zeit, in der die Kritik an einer kalten Ellenbogen-Gesellschaft ins Gegenteil umschwenkt. Mit Begriffen wie „Slacking“, also dem ambitionslosen Herumhängen, oder „Cocooning“, dem angeblichen Rückzug ins Private, wird Kritik geäußert: Der Rückzug in die persönliche „Comfortzone“ und das „Einbubbeln“ seien Probleme, die genauso wie Netzaktivismus überwunden werden müssten. Das glauben nicht nur Berufsberater_innen, sondern auch asketisch orientierte Linke.

[[{"fid":"2381","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Dabei wird eine Revolution wohl auch nicht von jenen ausgelöst, die sich nicht auf Festivals schon morgens mit Pfefferminzschnaps betrinken oder „Pokémon Go“ spielen. Hedonistische und materielle Lebensweisen – als „Opium fürs Volk“ (Lenin) – abzulehnen, vergrößert die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Während das „Antifaschistische Sommercamp“ sicherlich mehr linke ECTS bringt als der Besuch des „Nova Rock“, haben beide gemeinsam, dass dort Kontakte geknüpft und gepflegt werden, Beziehungen, Freundschaften und Projektideen entstehen. Das Versinken in der Party, der Musik, in einem Pulk Menschen, die sich gegenseitig akzeptieren, kann eine einzigartige Erfahrung sein und einen Schutzraum, fern von Alltagsproblemen oder Diskriminierungen, bieten. Ein Festival kann auch sinnlose Gaudi und Besäufnis im Dreck sein, ohne Anspruch auf Verwertbarkeit. Statt dies abzulehnen, sollte ein linker Selbstanspruch lauten, solche Erfahrungen und das gute Leben allen zugänglich zu machen. Denn Burnout ist nicht nur im Job, sondern auch in der aktivistischen oder ehrenamtlichen Arbeit ein Thema.

KAPITALISTISCHE HÄRTE FÜR ALLE. Ohne Bezahlung, dafür mit Gruppendruck und nach dem Motto „Wer macht, hat Recht“, wird auch in der Linken teilweise bis zur Selbstaufgabe gearbeitet. Wer sich durch besonderes Engagement hervortut, verschafft sich Wert und Bedeutung. Das Recht der Macher_innen führt fast unweigerlich auch zu Gatekeeping, also der Macht über Informationsflüsse und Zugang zu Ressourcen. Solche Entwicklungen und Haltungen unterscheiden sich manchmal kaum von ausbeuterischen Strukturen der Arbeitswelt. So wird gegenseitige Mobilisierung zur Regulierung. Wer sich wann, mit wem, auf welcher Demo zeigt oder nicht, wird beobachtet und bewertet, ohne unterschiedliche Abilities oder Arbeitsverhältnisse einzubeziehen oder sich zu fragen, wer sich wieviel Freizeitopfer oder die Fahrkarte zur Projektbesprechung leisten kann. Wie gefährlich das ist, zeigen mehrere Fälle, in denen Polizeispitzel lokale Projekte wie etwa die „Rote Flora“ in Hamburg unterwandern konnten oder (mutmaßliche) Vergewaltiger wie Assange und Jacob Appelbaum wichtige Rollen in aktivistischen Umfeldern einnehmen konnten.

[[{"fid":"2382","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

YO, FUTURE! „Don’t smoke, don’t drink, don’t fuck, at least I can fucking think“, singt Ian MacKaye von der Band Minor Threat im Song „Out of Step“, der zentral bei der Entstehung der asketisch lebenden Straight-Edge-Bewegung (sXe) war. So daneben zugequalmte Kulturzentren, betrunkene Ausfälle und unbefriedigende One-Night-Stands auch sein mögen, der Gegenentwurf zur selbstzerstörerischen Punk-Kultur der 80er („No Future“) klingt im heutigen Kontext, in dem „bewusster“ Konsum und Verzicht im selbstoptimierenden Mainstream angekommen sind, fast wie eine Erhebung über die Rauchenden, Trinkenden und Fickenden. Denen wird, zumindest implizit, die Fähigkeit zum eigenständigen Denken abgesprochen.

Die nüchterne Subkultur argumentiert etwa, dass für die Gestaltung politischer Aktionen ein klarer Kopf von Vorteil sei. Wer vor Demos und Aktionen Alkohol trinkt oder Drogen nimmt, gefährdet sich selbst und andere, das steht in jeder „Demo 1x1“- Broschüre. Ein Handbuch für das richtige Linkssein im falschen gibt es aber glücklicherweise nicht. So ist sXe ein radikaler Versuch, politische Dimensionen des eigenen Konsums oder Verzichts aufzuzeigen. Viele Edger_innen leben zudem vegan und denken beispielsweise durch Antispeziismus oder Unterstützung von Fair-Trade-Produkten Machtverhältnisse in ihren Konsumpraxen mit.

Auch über Esskultur werden Machtverhältnisse, Rassismen und Klassen reproduziert. Wer, was und wie öffentlich essen darf oder nicht, ist nicht erst dann politisch, wenn ein „denn’s“-Biomarkt in die ehemalige „Zielpunkt“-Filiale einzieht oder auf der Straße Fat- und Bodyshaming betrieben werden. Anzunehmen, jede Küche, in der Chia-Samen verwendet werden, wäre Brutstätte für Körperkult oder moralische Überheblichkeit, ist jedoch genauso falsch, wie zu glauben, die Kaufentscheidung für die saisonalen, regionalen Bio-Zucchini, wären ein wirksames Statement. Mögen sich auch einzelne durch ihre Ernährungsform und Lifestyle-Wahl über andere erheben wollen, versuchen die meisten doch schlicht, zu essen, was sie sich leisten können, was ihnen gut tut und für sie selbst ethisch vertretbar ist. Als Verbraucher_in ist kaum zu überblicken, wie Produktions- und Beschäftigungsbedingungen oder Konzernstrukturen wirklich aussehen.

[[{"fid":"2383","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

SAUFEN, SNICKERS, SELF-CARE. Das bekannte Zitat „Mich um mich selbst zu sorgen, heißt nicht, sich gehen zu lassen. Es ist selbsterhaltend und das ist ein Mittel des politischen Kampfs“ von Audre Lorde setzt destruktiven Machtstrukturen das Konzept der „self-care“, also der Selbstfürsorge, und der radikalen „self-love“ entgegen. „Sich nicht gehen lassen“, regelmäßige Mahlzeiten und auch gesunde Ernährung können self-care sein. Für sich selbst zu sorgen, kann aber auch bedeuten, maßlos Junkfood zu essen, wochenlang mit niemandem zu reden und Videospiele zu spielen. Das Saufen auf dem Festival oder die Familienpackung Snickers sind nicht nur selbstschädigend, sie bedienen bloß andere Bedürfnisse als nur die richtige Nährstoffzufuhr. Eigentlich hedonistische Lebens- und Verhaltensweisen werden ent-individualisiert, das (gute) Überleben gilt als revolutionärer Akt: „Selbsterhalt ist Widerstand.“

Selbstfürsorge basiert auf dem Gedanken: Erst, wenn es mir selbst gut geht, kann ich anderen helfen, denen es nicht so gut geht, und habe ich das nötige Rüstzeug, um auch langfristig politisch aktiv sein zu können. Zu den Ursprüngen der „selfcare“- Idee schreibt die feministische Autorin Laurie Penny: „Weite Teile der Linken können noch eine Menge von der Queer-Community lernen, die schon lange die Haltung vertritt, dass für sich selbst und seine Freund_innen zu sorgen in einer Welt voller Vorurteile kein optionaler Bestandteil des Kampfes, sondern auf viele Arten der Kampf selbst ist.“

[[{"fid":"2384","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Nicht umsonst kommen alternative Beziehungskonzepte wie Relationship Anarchy, die Freundschaften und anderen nicht-sexuellen Beziehungen größere Bedeutung zumessen, aus der Community. Enge Freundschaften und Netzwerke können für Queers oder von Rassismus Betroffene lebenswichtig sein. Die klassische monogame Hetero-Paar-Beziehung ist nach wie vor Quell für Unterdrückung und Gewalt: „Durch ihren (früheren) Partner wurde 13 % der Österreicherinnen körperliche/sexuelle Gewalt sowie 38 % der Frauen psychische Gewalt zugefügt – etwa durch Einschüchterung, Kontrolle, Hausarrest oder Herabwürdigung vor anderen Personen.“ Dass die Ehe aber auch eine Schutzfunktion für die Ehepart13 ner_innen und Kinder beinhalten und Absicherung bedeuten kann, wird gerne ignoriert, etwa wenn queere Paare sich dafür rechtfertigen sollen, eine „Ehe für alle“ zu fordern und damit angeblich ein Recht auf Spießbürgerlichkeit einfordern – wenn der rechtliche Status in der Praxis darüber bestimmt, wer etwa am Krankenhausbett Händchen halten darf und wer nicht.

Gegenkonzepte wie Polyamorie oder das Verzichten auf schnellen Sex von Straight Edgern können aber vor allem für Frauen Freiheiten bedeuten. Rebecca Gold fasst in einem Essay zusammen: „Wir können das Patriarchat nicht rückgängig machen ohne Monogamie zu verdrängen“ und schreibt weiter: „In einer nicht monogamen Welt werden Frauen ihr Leben nicht damit verschwenden, nach dem perfekten Mann zu suchen. Intimität wird eine immer präsente Möglichkeit sein, die biologische Uhr wird nicht mehr die Flugbahn bestimmen, die das Leben einer Frau einschlägt, da das Konzept von Familie weniger an biologische Reproduktion geknüpft ist.“ Doch auch Mehrpersonen-Beziehungen schnurren schnell auf eine klassische Familienkonstellation zusammen, sobald Windeln gewechselt werden müssen oder die Festivalsaison ansteht. Um gleiche (reproduktive) Rechte, die Auflösung klassischer Familienbilder, Eifersucht, gerecht verteilte Care-Arbeit und sexuelle Selbstbestimmung oder Kindererziehung ohne Stereotypen geht es im (Beziehungs-)Alltag oft nur am Rande, egal welches Label wir unseren Zwischenmenschlichkeiten verpassen.

[[{"fid":"2385","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Das gute Leben für alle – es darf ruhig bei uns selbst anfangen. Ob der Bio-Apfel, ein Snickers, Polyamorie oder der Lesekreis sich gut anfühlen, bleibt dabei uns überlassen. Der persönliche Lifestyle und die Freiheit, andere Lebensweisen und -konzepte ausprobieren zu können, ist nicht einfach da, sie muss immer wieder verhandelt, behauptet und neu erkämpft werden. Und irgendjemand räumt danach den Müll vom Festivalplatz.

Anne Pohl ist freiberufliche Marketing- und Event- Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Jugend hackt das System

  • 23.02.2017, 19:01
Eine der spannendsten aktuellen Jugendbewegungen hat nur am Rande mit Musik oder Politik zu tun. Jugend-Hackathons und Hackerclubs wie das „CoderDojo“ oder „Jugend hackt“ beschäftigen sich mit Technik und ihren Schnittpunkten zu Kunst und Gesellschaft.

Eine der spannendsten aktuellen Jugendbewegungen hat nur am Rande mit Musik oder Politik zu tun. Jugend-Hackathons und Hackerclubs wie das „CoderDojo“ oder „Jugend hackt“ beschäftigen sich mit Technik und ihren Schnittpunkten zu Kunst und Gesellschaft.

Junge Menschen stellen auf der Bühne eine Willkommens-App für Flüchtlinge, Software für Ampelsysteme, Inhaltsstoff-Scanner für Lebensmittel und intelligente Festival-Playlisten vor. Doch hier präsentieren sich keine Start-up-Unternehmen, sondern zumeist Schüler_innen, die das Ergebnis gerade mal eines Wochenendes Arbeit vorführen. Seit 2013 organisiert der Verein „Open Knowledge Foundation“ (OKF) zusammen mit „mediale Pfade e.V.“ Veranstaltungen speziell für technikbegeisterte Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren. Am Ende der jährlich in Berlin stattfindenden Hackathons soll ein fertiger Prototyp, Code oder ein Konzept vorgestellt werden. In verschiedenen Kategorien, etwa „Design“ oder „Mit Code die Welt verbessern“, wird das beste Projekt prämiert. Erfahrene Mentor_innen begleiten und beraten die Teilnehmenden während der Umsetzung, lassen ihnen aber weitgehend freie Hand.

Dabei ist Hacking mal mehr Spiel, Bastelei und Selbsterprobung, mal ist der Code aber auch die Bedienungsanleitung für das Schaffen einer besseren Welt. Mit Technik begegnen die Jugendlichen gesellschaftspolitischen Themen wie Flucht, Vertreibung und Asyl. Daneben spielen auch klassische Themen der Hackerszene wie Datenschutz und Anonymität eine Rolle, und nicht zuletzt geht es auch darum, junge Talente zu fördern und die Hacker_innen von morgen auszubilden. Die Reihe ist so erfolgreich und die Nachfrage so groß, dass seit einem Jahr Parallelevents auch in zahlreichen anderen deutschen Städten stattfinden.

FÜR EINE BESSERE WELT. Die Idee, Kinder und Jugendliche auch abseits von einem oft defizitären oder zu kurzen Informatikunterricht an den Schulen ans Gerät zu bringen, hat in den letzten Jahren mehrere Initiativen hervorgebracht. Einer der Vorreiter_ innen für Medien- und Technikbildung ist der „Chaos Computer Club“ (CCC e. V.) mit seinem seit 2007 bestehenden Projekt „Chaos macht Schule“. Das Programm, dessen Schwerpunkt vor allem auf informierter Internetnutzung statt bloßem Programmieren liegt, soll bald auch in Wien adaptiert werden. Interessierte Schulleitungen oder Lehrer_innen können sich unter der Adresse schule@c3w.at Hacker und Haecksen für das Klassenzimmer buchen. Viele lokale Hackspaces bieten zudem kostenlose Workshops speziell für Kinder an. Seit 2011 schließen sich außerdem global sogenannte „CoderDojos“ zusammen – Programmier- Clubs, auch für jüngere Kinder ab fünf Jahren, die sich mehrmals im Monat treffen. Seine Gründer rufen dazu auf, das Konzept weiterzutragen und stellen dafür auch ein Handbuch zur Verfügung.

EXPORTSCHLAGER. Das Format Hackathon findet international Anklang. In Österreich findet ein entsprechender Event vom 4. bis 6. November in Linz statt und nächstes Jahr soll es sogar in Südkorea starten. Sonja Fischbauer, die bisher das „Young Coders Festival AT“ leitete, begleitet für den österreichischen OKF-Ableger, das „Open Knowledge Forum“, die Umsetzung: „Anno 2014 hat ‚hacken‘ in Österreich noch alle verschreckt, aber auch hier verändert sich das Image des Wortes weg von etwas Bösem, zu der durchweg positiven Bedeutung, ein kniffliges Problem zu knacken. Wir wollen mit unserer Veranstaltung noch ein bisschen mehr dazu beitragen.“

Damit die Reihe auch in Österreich ein voller Erfolg wird, sucht das Projekt noch Unterstützung: „Für die Veranstaltung suchen wir Mentor_innen aus verschiedenen Sparten: Auch Designer_ innen und Projektmanager_innen können wichtigen Input liefern. Zusätzlich brauchen wir Helfende in allen organisatorischen Belangen. Und natürlich hilft uns jede Spende. Die stecken wir direkt in die Verpflegung, in die Ausstattung und die Unterkünfte für die Jugendlichen“, so Fischbauer weiter.

Wer jedoch nicht direkt mit großen Datensätzen arbeiten oder Apps schreiben möchte, kann unter ähnlichen Voraussetzungen Entwickeln lernen: Die Zahl der Game Jams steigt ständig. Auch hier bewegt man sich spielerisch an den Schnittstellen zwischen Kunst, Technik und gesellschaftspolitischen Themen. Wenn die Hackathons und CoderDojos weiter an Zulauf gewinnen, dürfen wir uns auf eine Generation freuen, die nicht nur Neugier auf die großen Fragen hat, sondern auch die richtigen Werkzeuge in der Hand hält, um sie vielleicht sogar zu lösen.

Interview mit Sonja Fischbauer (OKF AT) und Magdalena Reiter (Jugend hackt AT, Linz)

progress: Warum sollten junge Menschen programmieren und hacken können?
Sonja Fischbauer: Weil sie damit ihre Zukunft selbst gestalten, etwas schaffen können. Coden ist Kreieren – wie Häkeln, nur mit Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Magdalena Reiter: Außerdem ist es von großer Bedeutung, dass wir unsere technologische Zukunft nicht großen Unternehmen überlassen, sondern selbst über entsprechende Kompetenzen verfügen. Technik und Technologie haben einen sehr hohen Stellenwert in unserer Bildung, Arbeit, aber auch in unserer Freizeit eingenommen. Es wird darum für die nächste Generation wichtiger, die Grundprinzipien des Programmierens zu verstehen und im besten Fall auch den eigenen Alltag selbst verändern und gestalten zu können.

Das „Young Coders AT“-Festival wird zu einer Veranstaltung der „Jugend hackt“-Reihe.
Fischbauer: Wir starten dieses Jahr in Linz neu durch, und da sich unsere Veranstaltung inhaltlich immer schon an den Events unserer deutschen Schwesternorganisation orientiert hat, wollten wir das auch im Titel ausdrücken.

Was lernt ihr von den Kindern und Jugendlichen, was hat euch beeindruckt?
Fischbauer:
Ich bin beeindruckt vom großen Wissen mancher Jugendlicher, aber vor allem von ihrer Motivation, sich in ihrer Freizeit zu engagieren. Die gemeinschaftliche Atmosphäre ist zudem etwas ganz besonderes an Jugend-Hackathons.
Reiter: Jugendliche können oft noch ihre konkreten Bedürfnisse artikulieren und die Gründe ihrer Motivation simpel darstellen, ohne dabei die Komplexität zu reduzieren. Das beeindruckt mich sehr. Erwachsene sind da oft viel komplizierter und verlieren gleichzeitig das Auge für die Schönheit der Komplexität.

Was haltet ihr vom Informatikunterricht (IKT) an Schulen?
Fischbauer:
Ich hatte um das Jahr 2000 Informatik als Wahlfach, und ich wünschte, ich hätte mehr gelernt, als nur ein bisschen Visual Basic zu programmieren. Das hat mir damals viel Spaß gemacht, aber ich hätte mehr direkte Förderung gebraucht. So geht’s wohl vielen Mädels. Hier ist für mich die Bildungspolitik stark gefordert. Reiter: Der Informatikunterricht ist momentan natürlich sehr stark von den Lehrer_innen abhängig. Es gibt ganz tolle Pädagog_innen, die aktuelle Entwicklungen verfolgen und das Wissen darüber mitgeben wollen – aber sie sind rar. Im Großen und Ganzen gibt es einfach noch zu wenig Vorstellung darüber, wie bunt und einfallsreich Informatikunterricht oder generell technologieunterstützter Unterricht ausschauen könnte. Damit in der nächsten Generation kein „Digital Gap“ entsteht, müssten wir außerdem schon im Kindergartenalter damit beginnen und schulische und außerschulische Aktivitäten stärker miteinander vermischen.

Anne Pohl hat in Bamberg den HackspaceBackspace e.V. mitgegründet.

Reise in unendliche Langeweilen

  • 18.06.2016, 15:26
T.I.M.E Stories verspricht schon im Vorfeld viel, hat tolle Illustrationen und ein schnittiges Imagevideo.

T.I.M.E Stories verspricht schon im Vorfeld viel, hat tolle Illustrationen und ein schnittiges Imagevideo. Der Karton ist weiß und wertig, clean designed wie ein neues Apple-Produkt. Ein Jackpot für Unboxing-Enthusiast_ innen und Leute, die sich gerne dekorative Dinge ins Regal stellen. Auch die Grundidee klingt ziemlich cool: Wir sind AlienAgent_ innen und können im Rahmen einer kooperativen Mission in verschiedene Wirtskörper und somit Rollen schlüpfen. Bei dem Szenario „Hinter der Maske“ in einem irgendwie historischen, ägyptischen Setting fühlt es sich zudem an, wie eine wilde Kolonialisierungsphantasie. Der Premiumpreis von rund 45 Euro für das Basis-Spiel mit einem einzigen Szenario und 25 Euro für jede neue Geschichte, bisher gibt es drei, ist stattlich. Da jedes Szenario nur einmal gespielt werden kann, sollte diese Zeitreise das Erlebnis unseres Lebens werden. Oder zumindest aufregender als das Schälchen mit Wasabinüssen auf dem Tisch.

Durch lange Rollenspiel-Sessions fühlte ich mich recht gut vorbereitet, als es hieß, das getestete Szenario könnte etwas länger dauern: Ich war gespannt auf den erzählerischen Part. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass jede langatmige „DSA“ Regelwerksdiskussion ein Spaziergang gegen diese Zeitreise ist. Die Charaktere im Spiel bleiben flach und leblos: Möglichkeiten, sie selbst in-Game zu entwickeln oder wirklich einzubeziehen, gibt es keine. Nach einer oder wenigen Runden muss ein neuer Wirt besetzt werden, schnell fährt sich das Spielprinzip fest: Karten werden umgedreht und ausgelegt, die Mission beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass wir uns merken und darüber diskutieren, was auf diesen Karten stand. So entwickeln wir sukzessive das Szenario und decken eine Landkarte auf. Einmal lesen wir eine Beschriftung nicht richtig. Das kostet uns zwei Stunden und zahllose Wiederholungen. Wenn der Weg das Ziel sein soll, ist das Ziel also in der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu suchen. Nach etwa sechs Stunden setzt dann auch eine Art Zeitreise-Flow ein. Alles wird irgendwie nebensächlich außer dem Drang, endlich die Lösung zu finden, um ins Bett gehen zu können. Vielleicht haben wir uns die „aufregenden Geschichten und Abenteuer in verschiedenen Welten“ einfach nicht genug vorgestellt. Zurück bleibt das Gefühl, ein ausgesaugter Wirtskorpus zu sein.

T.I.M.E Stories
http://www.spacecowboys.fr/time-stories
Von Manuel Rozoy, Illustrationen von Benjamin Carré, David Lecossu und Pascal Quidault.
Ab 12 Jahren.
Spieldauer: ca. 90 Minuten

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin und hat das Spieleblog herzteile.org mitgegründet.

„Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.“

  • 16.06.2016, 19:59
Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

progress: Du hast eine krasse Zeit hinter dir.
Claudius Holler: Ich habe mich knapp eineinhalb Jahre durch ein tiefes Tal gemüht, um kurz vorm Anstieg noch mal richtig auf die Nase zu bekommen. Mein Leben war zuletzt wirklich kräftezehrend und entmutigend, schließlich schien es jedoch wieder bergauf zu gehen. Dann drängelte sich auf einmal der Krebs in mein Leben.

Was war vorher los?
Mein Bruder und ich haben 2010 aus unserer Werbeagentur heraus ein eigenes Produkt herausgebracht: 1337Mate. Das wurde mehr und mehr zu unserem Hauptprojekt, weil uns die Arbeit daran endlich wieder erfüllte und Spaß machte. Es lief gut und immer besser. Alles sprach dafür, dass wir langfristig davon leben und dabei sozial wirtschaften könnten. Leider ging völlig unerwartet mitten in der Produktion unser beauftragter Abfüllbetrieb insolvent. Wir reden, vorsichtig geschätzt, von einer sechsstelligen Summe, die wir dabei verloren haben. Geholfen hat uns da niemand, als Start-up stehst du bei sowas oft ganz allein im Regen.

Du hast dich entschieden, deine wirtschaftlichen Probleme und deine Erkrankung öffentlich zu machen. Warum?
Ich fühlte mich hoffnungslos ausgeliefert und sah meine eh schon ramponierte Existenz zerschellen. Krankheiten im Allgemeinen, Krebs im Besonderen, kommen zeitlich immer ungelegen. Ich war zudem auch noch unversichert. Natürlich war allein die Diagnose schon ein krasser Schock, auf Krebs ist kein Mensch vorbereitet. Die Aufnahme des Videos war eine Kurzschlussreaktion. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich veröffentlichen würde. Am nächsten Tag ging ich all-in, ich hatte eh nichts mehr zu verlieren.

Welche konkreten Folgen hatte die Videoaktion für dich?
Die spürbarste Folge war eine komplette Woche im Paralleluniversum. Ich konnte das Ganze nur von außen betrachten, obwohl ich ja Protagonist war. Klar, ich kenne mich ein bisschen in diesem Internet aus und bin ein wenig vernetzt. Das, was direkt nach der Veröffentlichung passierte, hat mich aber komplett überrollt. Tausende kommunizierten mit mir, bedachten mich mit lieben Worten, Genesungswünschen und ließen mich an ihren Geschichten teilhaben. Dazu kam ein multimediales Echo über alle Kanäle hinweg. Am ersten Tag ohne Kamerateam um mich herum war ich erstmal verwirrt. Ganz ehrlich, das war bis zur Operation die bestmögliche Ablenkung. Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.

Wie kommt es, dass in einem Land mit einem sehr guten Gesundheitssystem Leute einfach durch das Raster fallen?
Irgendwann bemerkte die Bundesregierung, dass hunderttausende Menschen ohne Versicherungsschutz sind und suchte nach Abhilfe. Die Lösung durfte aber nichts kosten. Die Versicherungspflicht nahm den Staat dann aus der Verantwortung, jetzt konnte ja keine Person mehr unversichert sein, denn es war verboten. Leider wurde ignoriert, dass Menschen nicht deswegen unversichert sind, weil sie das so lässig finden oder sich bereichern wollen, sondern weil es ihnen schlicht am Geld dafür fehlt. Hast du wenig Geld, ist dein Beitrag im Verhältnis dazu unanständig hoch, weil die prozentualen Beiträge nach unten hin gedeckelt sind. Die politische Lösung hat also vornehmlich eine Schuldenfalle aufgestellt, bei der schnell fünfstellige Summen aufgehäuft werden und zwar bei denen, die eh schon knapp bei Kasse sind.

Also ein kalkulierter Systemfehler?
Dass der kalkuliert ist, will ich nicht mal unterstellen. Aber es ist dreist, dass mit Hilfe der Ich-AG eine politisch gewollte Form der Selbstständigkeit zur Schönung von Arbeitslosenstatistiken dient, die Risiken aber gänzlich auf ein wachsendes Selbstständigen- Prekariat abgewälzt werden. Auch der Trend zum erzwungenen Subunternehmertum, weil Arbeitgeber_innen Festanstellungen umgehen wollen, verstärkt diese Entwicklung. Die nötige Absicherung für schlechte Zeiten und Gesundheitskosten, die sich am realen Einkommen bemessen, fehlen leider. Auch dass Menschen ohne Papiere in der Not keinerlei Hilfe bekämen, ist beschämend für ein so reiches Land wie Deutschland. Mittlerweile gibt es spendenfinanzierte Kliniken, wie die Praxis ohne Grenzen, die explizit für die Versorgung dieser Gruppe gegründet wurden. Die zeigen sich erstaunt, wie viele ihrer Patient_innen Selbstständige sind.

Kommst du mit den vielen traurigen Geschichten klar, die du nun sicher hörst?
Das tue ich, aber mich erschreckt, wie wenig ich ein Einzelschicksal bin. Es ist unwürdig für dieses reiche Land, wie viele Menschen keine ausreichende Krankenversicherung, aber horrende Schulden ans Gesundheitssystem haben. Die Krankheitsgeschichten, einige wesentlich dramatischer als meine, sind derart gebündelt natürlich hart, andererseits war da auch ganz viel Mut und Stärke herauszulesen. Ich kenne mittlerweile über fünfzig Menschen, die auch keine zwei Hoden mehr haben, sogar aus meinem Bekanntenkreis, die bisher nie davon erzählt hatten.

Du konntest dir von den Spenden eine Hodenoperation „leisten“. Hast du jetzt auch genug für die Nachsorge und eine Versicherung?
Ja. Also ich weiß noch nicht, was in diesem Sommer auf mich zukommt. Ein Lymphknoten in der Bauchgegend ist noch kritisch zu beobachten und könnte mit Pech noch mindestens eine Operation oder sogar eine Chemotherapie nach sich ziehen. In jedem Fall bin ich jetzt wieder versichert und wäre dafür gewappnet.

Wie fühlt es sich an, wenn deine Eier plötzlich Schlagzeilen schreiben?
Ich twitterte irgendwann irritiert „Liebes 13-jähriges Ich, das da zwischen deinen Beinen wirst du dereinst vor tausenden Menschen kommunizieren. Und das ist voll okay“. Dann wissen halt fünf Prozent der Menschen in Deutschland von deiner Weichteil- Flickschusterei. Auch das ist okay. Die Reaktionen geben mir recht. Es sind ja weniger meine Eier, um die es geht, sondern das Thema, welches sie transportieren, und das fristete bisher ein tabuisiertes Schattendasein.

Die ganze Welt ist voller Phallussymbole. Und trotzdem werden weder Schwänze in Filmen gezeigt, geschweige denn Schwanzprobleme benannt. Warum?
Wir sind auch und gerade in unserer übersexualisierten Welt maximal verklemmt. Der weltgrößte Macker wird mit seinem Wurmfortsatz hadern. Die ganzen Phallussymbole sind nur billige Proxies, die derbe Männlichkeit simulieren sollen. Verletzlichkeit und Fehlbarkeit zwischen den Beinen sind mit solchen Ängsten verbunden, dass Hege und Pflege vernachlässigt werden. Ein echter Mann schleppt sich nicht zum Arzt und lässt sich erst recht nicht zwischen die Beine fassen. Ich versuche gezwungenermaßen, mich davon frei zu machen.

Ist der kranke Schwanz ein unmännlicher Schwanz?
Erschreckend, oder? Nicht umsonst haben wir ein umfassendes Beleidigungsarchiv, das auf das männliche Geschlechtsorgan und dessen ausbleibende Superkräfte abzielt. Dabei gibt es bei vielen gesundheitlichen Herausforderungen funktionierende Lösungen. Es darf nur nicht darüber geredet werden.

Glaubst du, junge Menschen wissen ausreichend Bescheid über Gesundheitsvorsorge? Für Mädchen ist es ja normal, schon früh in der Gynäkologie vorbeizuschauen, in Teenager- Zeitschriften gibt es Tipps, wie „das erste Mal Frauenarzt“ vorbereitet werden kann, für Jungs gibt es sowas nicht.
Ich habe seit meinem Film mit vielen Männern darüber gesprochen, wie oft sie in ihrem Leben die Urologie besucht haben. Abgesehen von Menschen mit diesbezüglichen Krankheiten, gingen die Antworten von „noch nie“ bis maximal dreimal. Ich glaube, der Sexualkundeunterricht an unseren Schulen, die Aufklärung zu Hause, aber auch das Gesundheitswesen an sich klammern das Thema Anatomie, Funktionalität, Vorsorge und Pflege zu sehr aus. Diese Tabuisierung spiegelt sich unter anderem in erschreckenden Unterhaltungen wider, die ich nach meinem Schritt in die Öffentlichkeit geführt habe. Ich habe einige Personen massiv überreden müssen, mit den von ihnen selbst diagnostizierten – teilweise schmerzhaften – Auffälligkeiten unbedingt in ärztliche Behandlung zu gehen. Die waren voller Angst und verschleppten es teilweise schon mehrere Jahre.

Viele Transgender- oder intergeschlechtliche Menschen bekommen keine adäquate Gesundheitsversorgung. Wenn eine Frau mit einem Penis Probleme hat, wird sie nicht richtig behandelt oder ist sogar Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt.
Hier kommt zur Problematik fehlender Versicherung noch hinzu, dass wir gesellschaftlich immer noch nicht in der Realität angekommen sind. Binäre Geschlechtszuweisung ist auch oder gerade im Gesundheitssystem keine Ausnahme. Ich durfte per Zufall in einem Krankenhaus behandelt werden, das diese binäre Sicht offensichtlich nicht teilt. Ich lernte in meiner Aufenthaltszeit mehrere Transgender-Menschen kennen, die dort (im Rahmen einer Angleichung) zu ihrem Körper fanden.

Nicht alle haben dein Netzwerk und deinen Mut. Was rätst du Menschen in ähnlichen Lagen?
Wir können nicht jeden Einzelfall mit Solidaritäts-Flashmobs auffangen. Das muss gesamtgesellschaftlich und politisch gelöst werden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, diesem Missstand ein wenig Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vieles von meinem Wissen hätte ich mir schon vorher gewünscht. Dass die gesetzliche Grundversorgung zum Beispiel die Behandlung von Krebserkrankungen nicht zwingend einschließt, weil sie nicht akut lebensbedrohlich sind, ist blanker Hohn. Das möchte ich valide aufarbeiten und zusammentragen, so dass Wege aus dieser Zwickmühle heraus sichtbar werden.

Bei deinem Vortrag gibst du unversicherten Menschen den Tipp, zur Behandlung nach Dänemark zu fahren.
Mir selbst waren viele Informationen, auch mangels Auffindbarkeit, nicht bekannt. So können auch Selbstständige über Hartz IV aufstocken und es gibt Wege, die Krankenversicherungsrate abzumildern. Ich bereite gerade die Gründung einer gemeinnützigen GmbH vor, die sich dem Thema „Unversichert“ annimmt. Dort will ich Informationen zusammentragen, wie Betroffene offiziell oder über legale Grauzonen aus ihrer misslichen Lage kommen können. Das werden Hilfestellungen gegenüber Ämtern und Krankenkassen sein, aber auch eine Möglichkeit, politische Forderungen zu platzieren.

Auf Twitter hat jemand geschrieben, dass du wahrscheinlich mehr Reichweite hast als alle staatlichen Gesundheits- und Präventionsprogramme zusammen.
Meine eigene Bekanntheit ist – vor allem gemessen an der Reichweite von #hollerkaputt – recht überschaubar. Sehr populäre Twitter-Accounts teilten meine Geschichte. YouTube selbst war da ein kleiner Hebel, der schnell von den klassischen Medien überholt wurde. Ich komme ja aus der Werbung und darf deswegen auch Plattitüden raushauen: Content is King. Die Themen „Unversichert“ und „Krebs“ waren kritisch und emotional genug, ihre Reichweite selbst zu generieren. Ich habe die Aufmerksamkeit schnell genutzt, um mein Einzelschicksal zurückzunehmen und als Testimonial zu agieren. So etwas fehlt trockenen Kampagnen oft: Authentizität beim Thema.

Das klingt abgeklärt. Wie geht es dir, wenn du offline bist?
Krebs ist ein Arschloch. Dieses Arschloch bestimmt jetzt erstmal hart mein Leben. Ich muss mich damit arrangieren, es ertragen und mich dagegen wehren. Das schlaucht und in manchen Momenten schleichen sich Angst und Trauer heran. Aber dann überrascht mich der Frühling, aus den Boxen rollt der Bass und zur Not ploppt auch mal ein Bier auf. Ich will mich nicht noch weiter runterziehen lassen. Ich bin mir aber sicher, dass da noch ein paar Momente auftauchen werden, in denen ich mich klein, schwach und tieftraurig fühle.

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin. Daneben ist sie freiberufliche Marketing- und Event-Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Good Artists copy, great Companies steal

  • 18.05.2015, 18:03

Das Internet bietet jungen Künstler*innen nicht nur die Möglichkeit, ihr Werk zu präsentieren, sondern auch simple Mittel, es zu vertreiben. Nicht selten bedienen sich große Firmen ungefragt an ihrer Kunst, ohne einen Cent dafür zu bezahlen.

Das Internet bietet jungen Künstler*innen nicht nur die Möglichkeit, ihr Werk zu präsentieren, sondern auch simple Mittel, es zu vertreiben. Nicht selten bedienen sich große Firmen ungefragt an ihrer Kunst, ohne einen Cent dafür zu bezahlen.

Gemma Correll ist Illustratorin und zeichnet Alltagsprobleme, goldene Tampons und niedliche Katzen. So etwas kommt im Internet bekanntermaßen gut an und verbreitet sich über diverse Kanäle entsprechend rasant. Sie bietet in einem eigenen Shop Klamotten, Taschen und Haushaltsgegenstände mit ihren Artworks an, dabei arbeitet sie eng mit Agent*innen und ihrem Management zusammen. Die Professionalisierung hält Firmen wie TaoBao, beautifulhalo oder YesStyle dennoch nicht davon ab, Produkte mit Corrells Motiven ohne ihr Einverständnis zu verkaufen. Auf ihrem Blog schreibt sie dazu: “I feel like I'm at the bottom of a design-foodchain (along with all the other illustrators and artists that this has happened to) when we're the ones thinking of the ideas, only for the bigger companies to steal them and make their own crappy versions. We make pennies, they make billions. It isn't fair.”

Auch große Textilunternehmen wie H&M, Forever21 oder der Hipster-Ausstatter Urban Outfitters schrecken nicht davor zurück, sich online an den Kreationen Anderer zu bedienen. So druckte H&M den Streetart-Slogan “You look nice today” der Künstlerin Tori LaConsay auf Kissenhüllen und Fußmatten, Urban Outfitters Tumblr-Illustrationen auf Shirts. Forever 21 kopiert am liebsten ganze Design- und Schnittmuster und wurde dafür bereits über 50 mal verklagt. Darauf angesprochen schieben die Unternehmen die Verantwortung asiatischen Großhändlern zu - und kommen damit durch.

KOSTENLOSE IDEEN ZU GELD MACHEN. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf Kleidungskonzerne. Ob Tweets auf Kaffeetassen oder Frühstücksbrettchen, Fan-Artworks von Communitys wie Deviantart auf Kissenbezügen oder aufwändig nachgebastelte Taschendesigns und Schmuckentwürfe von Etsy oder DaWanda – die Ideen und Designs von jungen Künstler_innen scheinen für viele Unternehmen ein Selbstbedienungsladen zu sein.

Nicht bloß kopiert, sondern bis ins Detail imitiert und monetarisiert werden auch erfolgreiche Indie-Spiele kleiner, unabhängiger Studios. Die Entwicklung solcher Klone ist für Firmen wie Softgames oder Ketchapp ein lohnendes Geschäftsmodell. Sie kopieren Indie-Hits wie „Monument Valley“ oder „Crossy Roads“, um mit kostenlosen Versionen voller Werbung ein Geschäft zu machen – und ersparen sich zudem Jahre der Entwicklung.

Um die Klone des Puzzlespiels „Threes“ entwickelte sich ein regelrechtes Mem. Mit dem Browserspiel „2048”, der Hommage eines Fans, entstand der erste von hunderten Klonen. Er hatte den Quellcode frei ins Netz gestellt, zahlreiche Adaptionen und kreative Experimente waren die Folge. Gleichzeitig entstand das Fundament für unzählige Kopien mit rein kommerziellen Hintergedanken, die letztendlich den Verkäufen des Originals schadeten.

Freie Lizenzen wie Creative Commons werden immer wieder als ultimative Lösung gegen die restriktiven Begrenzungen durch ein Copyright dargestellt. Tatsächlich entstand eine breite Bewegung – Code wird offen geteilt, Texte und andere Werke unter freien Lizenzen veröffentlicht, das „Recht auf Remix“ ist wichtig für ein weiterhin buntes Internet voller neuer Memes.

WIR SIND DAS PRODUKT. Für Ärger sorgte Flickr, eine der größten Fotocommunities, als das Unternehmen 2014 begann, Fotos von Nutzer*innen als Drucke zu verkaufen, ohne diese am Gewinn zu beteiligen oder auch nur namentlich zu nennen. Durch die manuell einstellbaren und verwendeten CC-Lizenzen ist dieses Vorgehen völlig legal. Dass Kund*innen, die für einen Dienst nicht bezahlen, dessen Produkt sind, wird hier verschärft: Die Kreativen arbeiten gratis für die Unternehmen, indem sie sich gegen restriktive Lizenzen entschieden.

Mit „CC NC“ kann zwar explizit eine kommerzielle Nutzung untersagt werden, das Werk aber zur Vervielfältigung freigegeben werden. Tatsächlich setzt bislang aber niemand die Rechte der Künstler*innen durch, sodass Werke kommerziell genutzt werden, ohne dass deren Schöpfer*innen etwas davon hätten. Die Cultural Commons Collecting Society will dies zumindest für Musiker*innen ändern – und die erste Verwertungsgesellschaft für alternative Lizenzmodelle werden.

Im Kleinen sind wir längst alle betroffen: Unsere Profilfotos dürfen beispielsweise von Facebook, denen auch Instagram gehört, für eigene Werbezwecke verwendet werden. Das ist authentischer und spart Geld für die Gagen von Werbefotograf*innen und die Produktion. Ein Selfie ist eben auch bloß ein Produkt.

 

Anne Pohl macht beruflich was mit Kommunikation und gründet nebenbei Onlineprojekte wie feminismus101.de oder herzteile.org.

The internet is for hate

  • 25.03.2015, 17:59

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Eine junge Frau wird bedroht und muss mehrmals umziehen. Jeden Tag, wenn sie ihre sozialen Netzwerke öffnet, findet sie immer neue, üble Beschimpfungen. Jede ihrer Äußerungen wird verfolgt, längst hat sie mehrmals die Telefonnummer gewechselt. Was für Die feministische Medienwissenschaftlerin Anita Sarkeesian oder die Spiele-Designerin Zoe Quinn nicht erst seit dem misyogynen Videospiel-Shitstorm „Gamergate“ (vgl. progress 4/2014) groteske Normalität darstellt, kann ohne Weiteres für uns alle Alltag werden.

STREUFEUER. Hassrede ist das öffentliche Hetzen gegen Einzelne oder Bevölkerungsgruppen, denen bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel „lesbisch“) oder Zugehörigkeiten (zum Beispiel „jüdisch“) zugeschrieben werden. Im österreichischen Strafrecht erfüllt eine solche Tat den Strafbestand der Verhetzung (§ 283 StGB), wenn die Hassrede „für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar” ist. Eine solche liegt laut Rechtssprechung ab 150 Personen vor. Nirgends lässt sich eine solche Öffentlichkeit und Gleichgesinnte schneller finden als online. Das Gesetz wird durchaus auch gegen Online-Hetze angewendet, so wurde letztes Jahr beispielsweise eine niederösterreichische Pensionistin wegen verhetzender Facebook-Postings über Muslime und Roma zu verurteilt.

Umfang und Ausmaß von Hassrede im Internet lassen sich kaum abschätzen. Auf der „Hate Map“ wurden ein Jahr lang Beleidigungen und ihre Geo-Tags in den USA dokumentiert. In der verwendeten Stichprobe finden sich 150.000 Hasstweets. Dabei wurden nur zehn Begriffe näher untersucht. Sarkeesian allein dokumentierte auf ihrem Blog feministfrequency.com 150 Hasstweets, die sie in einer Woche erhielt.

ORGANISIERTE RATLOSIGKEIT. Im Umgang mit Täter_innen wie Betroffenen sind Gesellschaft und Konzerne ratlos. Die meisten sozialen Netzwerke verbitten sich Hassreden, scheitern aber daran, die eigenen Vorgaben durchzusetzen und auffällige Nutzer_innen auszuschließen. Bei schwammigen Nutzungsregeln darf viel interpretiert und lange gehasst werden. So verwässert zum Beispiel Facebook seine Nutzungsbedingungen, indem Drohungen als Humor ausgelegt werden dürfen: „Allerdings sind eindeutige humoristische oder satirische Versuche, die anderenfalls als mögliche Drohungen oder Angriffe verstanden werden können, zugelassen.“ Auch Youtube bzw. Google hat eher ein merkwürdiges Verständnis von Hassrede: „Der Grat zwischen dem, was als Hassrede bezeichnet werden kann und was nicht, ist schmal. Beachte, dass nicht jede Gemeinheit oder Beleidigung eine Hassrede ist“, heißt es in den FAQs. Die größeren Medien und Tageszeitungen beschäftigen sich dagegen professionell mit Communitymanagement und suchen nach Wegen mit Trollen, Hass und Drohungen umzugehen. So wird mit Accountpflicht, strengeren Moderationen, geleiteten Diskussionen oder Votingfunktionen für Kommentare experimentiert. Vor drastischen Schritten wie Ausschlüssen oder klarer Kante scheuen aber auch sie zurück.

Der laxe Umgang und die so ständig wachsende Masse an Hass im Netz lässt nach Meinung aussehen, was tatsächlich menschenverachtende Anstiftung ist. Wenn davon gesprochen wird, dass beispielsweise eine Satire, die Tabus kennt oder eine scharfe Gesetzgebung bei Hassrede die Meinungs- und Redefreiheit einschränken, wird ausgeblendet, dass Diskriminierung, Hass und Gewalt die Betroffenen längst massiv einschränken. Die deutsche Psychologin Dorothee Scholz arbeitet mit Jugendlichen zu Gewalt und sagt dazu: „Über Sprache wird ein Klima geschaffen, in dem die psychischen Hemmschwellen zur Gewaltausübung gegen bestimmte Personengruppen gesenkt sind. Gewalt gegen jene, die diesen Gruppen angehören, ist in Folge gesellschaftlich akzeptierter und ruft auch weniger Mitgefühl in der breiten Masse hervor.“

HASSPOESIE UND TROLLMÜLLHALDEN. Immer wieder verschwinden Websites, Blogs und Twitteraccounts, und Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Stimme zu erheben – weil sie das Gefühl haben, dem Hass nur noch entgegengschweigen zu können. Julia Schramm ist eine, die sowohl mit persönlichen Shitstorms als auch mit generalisierter Hassrede Erfahrungen machen musste. Seit 2012 sammelt sie diese auf ihrem Blog hassnachrichten.tumblr.com. Als Fachreferentin für Hate Speech informiert sie außerdem bei no-nazi.net über ihre Facetten. „Hate Speech ausgesetzt zu sein ist eine traumatisierende Erfahrung und sollte so behandelt werden. Konkret heißt das: Verstehen, dass eine Verletzung stattgefunden hat und Mitgefühl und Fürsorge sich selbst gegenüber aufbringen. Es heißt aber auch, die strukturelle Ungerechtigkeit, die Hate Speech ist, als solche zu akzeptieren und sich nicht daran aufzureiben. Dann lässt sich auch besser kämpfen. Ich bin froh, dass ich mich dazu entschieden habe, denn Hate Speech ist Gewalt und muss bekämpft werden.“

Da von den Betreiber_innen von Online-Communities kaum oder nur unzureichende Schritte gegen Angriffe oder notorische Menschenfeind_innen zu erwarten sind, wird von User_innen selbst zu Solidarität mit Betroffenen aufgerufen. Doch Hashtag-Ablasshandel allein, der Unterstützung mit Lippenbekenntnissen verwechselt, verbessert die Situation kaum länger als einen Moment. Es profitieren diejenigen, die ohnehin ein dichtes soziales Netz, Zugang zu Hilfe, eine große Reichweite oder eine bedeutsame Stimme haben.

Eine andere Strategie im Umgang mit dem Hass sind seine Dokumentation und das Schaffen einer Gegenöffentlichkeit: Viele zeigen die Angriffe in Blogs oder auf Tumblr, richten eigene Sektionen für Kommentare von Hassposter_innen, sogenannten Trollen, ein oder nehmen sich Zeit für satirische Antworten. Die Plattform hatr.org sammelt Trollkommentare von verschiedenen feministischen Blogs und will damit Werbeeinnahmen generieren. Andere bieten dem Hass sogar die ganz große Bühne: Bei „Hate Poetry“, einer antirassistischen Leseshow, tragen migrierte Journalist_innen zwischen Lachen und Weinen Kommentare und E-Mails vor.

All diese Maßnahmen können helfen, mit persönlichen Angriffen fertig zu werden, dem Hass den Nährboden entziehen können sie jedoch nicht. Denn Hassrede ist kein Netzphänomen, sondern dort bloß ein besonders gut dokumentiertes. Der vermeintliche Deckmantel der Anonymität, der nur das Schlechteste im Menschen hervorbringt, ist vielmehr ein Vorhang, der sich öffnet und aufzeigt, was ohnehin da ist: Eine Gesellschaft, die auf ihre diskriminierenden Strukturen lieber nicht verzichten möchte – das wird man wohl noch sagen dürfen…
 

 

Anne Pohl macht beruflich was mit Kommunikation und gründet nebenbei Onlineprojekte wie feminismus101.de oder herzteile.org.

Lesetipps und Links

In ihrer Broschüre „Geh sterben! – Umgang mit Hatespeech und Kommentaren im Internet“ informiert die Amadeu Antonio-Stiftung mit Betroffenenberichten, Tipps für Communitybetreibende, Erkennungsmerkmale und Infos über Strukturen hinter Hassreden.

International Legal Research Group on Online Hate Speech

Hatespeech-Toolbox der IG Kultur

150 Hasstweets

Hate Map

Satirische Antworten

Hate Poetry

Postkolonial sind wir noch lange nicht

  • 02.12.2014, 15:30

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Zu solchen Fragen lädt, in Anspielung auf das berühmte J.F. Kennedy-Zitat „Ich bin ein Berliner“, die Ausstellung „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ der Galerie SAVVY Contemporary - The Laboratory of Form-Ideas ein. Kuratiert wird sie von dem Pariser Schriftsteller, Dozenten und Kunstkritiker Simon Njami, dessen Schwerpunkt auf zeitgenössischer afrikanischer Kunst liegt.

Zum Auftakt der Ausstellung wählt SAVVY den 130. Jahrestag der Kongokonferenz („Berliner Konferenz“). Auf Einladung von Bismarck teilten ab dem 15.11.1884 vierzehn primär europäische Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Unter Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung besiegelten sie mit der Unterzeichnung der „Kongoakte“ die endgültige Ausbeutung und Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Zynischerweise konnte durch die Konferenz der Frieden unter den Großmächten gesichert werden, entsprechend harmonisch teilten diese sich einen Kuchen, der ihnen nicht gehörte.

What was behind it all? Filipa Cesar - The Embassy (Video). Foto: Kristin Lein

„Kolonialmächte, die sich um die Karte des Afrikanischen Kontinents herum versammelten, wie um ein Schachbrett“ (Kurator Simon Njami)

Als Kennedy seine Botschaft 1963 an das geteilte Berlin richtete, ging es ihm um den Abbau von Grenzen und die Überwindung nationalistischer Beschränkungen. „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ fragt, wie im Angesicht von wachsendem Nationalismus und Rassismus in Europa deutsche Identität und europäische Nationalitäten heute definiert werden können sowie welche historischen und zeitgenössischen Bindungen und Parallelen es zu Afrika gibt. Dabei nimmt sie aktiv den Part des ewig „Anderen“ und Ausgeschlossenen ein, die Ausstellung gehört den Kolonialisierten und ihrer Perspektive.

Sammy Baloji etwa legt für sein Werk „Mémoire“ die Minen der Union Miniére du Haut katanga in Lumbashi und Aufnahmen schwarzer und weißer Kolonialfotografen übereinander und schafft so vielschichtige Fotomontagen. Sie verweisen auf ein Europa, dessen Großmächte in einem Kampf um „Fortschritt und Wachstum“ den Grundstein für die Globalisierung legen, was auch die systematische Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung sowie ihren Ressourcen und Rohstoffen bedeutet. Die deutsche Koloniallobby und Großunternehmer starteten 1884 mit der Einführung sogenannter „Schutzgebiete“, die ihnen die Verwaltung und „Entwicklung“ der betroffenen Gebiete erlaubte. Größenwahnsinnige Projekte wurden angestoßen, auch der Kolonialhandel erlebte damit einen Boom. Assimilation, Versklavung und Massenmorde, wie etwa an den Herero und Nama in Südwestafrika, waren dabei ein bloßer Wirtschaftsfaktor im Streben nach Profit, wissenschaftlich- technischem Fortschritt und dem Auf- und Ausbau der Vormachtstellung.

Mansour Ciss dagegen zeigt mit „Laboratoire Déberlinisation“ seine Vision eines wohlhabenden, friedlichen Afrikas, das souverän über eigene Ressourcen verfügt und frei seine Zukunft gestalten kann. Seine fiktive Währung „AFRO“ nimmt mit bunten Geldscheinen und der „AFRO Express Card“ Gestalt an und zeigt wie die finanzielle und politische Selbstbestimmung aussehen könnte. Sein Projekt soll dabei auch den Dialog zwischen Süd- und Nordafrika und über die aufgezwungenen, künstlichen Reißbrettgrenzen hinaus anregen.

Wenn Keramikteller mit einzelnen Körperteilen darauf trophäenartig aufgehängt werden, kann das als Hinweis auf die bis heute andauernde Exotisierung, Sexualisierung, Verwertung und Kommerzialisierung Schwarzer Menschen, ihrer Körper und Arbeitskraft verstanden werden. Dreizehn davon hat Bili Bidjocka aufgereiht. Seine Dekonstruktion des letzten Abendmahls „Dis-ambiguation“ thematisiert Missionierungen und christliche Doppelmoral.

Solche Lücken im deutschen Kollektivgedächtnis will das Projekt „Colonial Neighbours“ von SAVVY Contemporary füllen, das ein Archiv kolonialer Geschichte und Gegenwart werden soll und auch über die Ausstellung hinaus besteht. Erinnerungsstücke, Alltags- und Gebrauchsgegenstände, wie Fotoalben,Tagebücher, Briefe, Sammelalben werden sowohl digital als auch dinglich gesammelt und dokumentiert. Das Archiv zeigt auf, dass der Kolonialismus nicht „irgendwo weit weg“ stattgefunden hat, sondern eine Praxis und Ideologie war, die von der deutschen Bevölkerung gelebt und geschätzt wurde. Vier Millionen Unterschriften zur Verhinderung aus der Bevölkerung gingen ein, als die Versailler Verträge das Ende der deutschen Kolonien besiegelten.

Blick auf Kunst von Cyrill Lachauer. Bilder im Hintergrund: Ausschnitte aus Mémoire von Sammy Baloji. Foto: Kristin Lein

„Während die Berliner Konferenz die Umrisse des afrikanischen Kontinents modifizierte, änderte sie dabei auch Europa.“ (Kurator Simon Njami)

130 Jahre sind kaum ein weltgeschichtlicher Lidschlag und so zeigen sich kolonialistische Spuren nach wie vor. Eine „Entkolonialisierung“ gab es nie. Möbel und Dekoration im „Kolonialstil“ können im Internet bestellt werden, Cafés begrüßen uns mit „Schwarzen Dienern“ im Eingangsbereich, Logos und Slogans mit rassistischen Karikaturen und dem auch in einer österreichischen Süßspeise noch geläufigen M-Wort prangen in Supermarktregalen. Viele Forschungsinstitute und Museen haben koloniale Wurzeln und stellen noch heute romantisierte Werke rund um „tapfere Entdecker“ und Raubkunst aus. Noch immer sind zahlreiche Straßen und Plätze nach Kolonialherren benannt, der Menschenrechtsaktivist und Politologe Joshua Kwesi Aikins kennt sie. Bei seinen Stadtführungen durch Berlin zeigt er diese Spuren, beispielsweise im „afrikanischen Viertel“ im Wedding oder dem May-Ayim-Ufer in Kreuzberg.

Wer deutsch ist, ist weiß und wer in Deutschland weiß ist, ist deutsch. Soweit zumindest die Auffassung der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die damit verbundenen Privilegien basieren nicht auf einer gottgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge, sondern auf Ausbeutung und Unterdrückung. Der weiße Mann erlangte seine Macht durch Massenmorde, Apartheid, Kolonialisierung und Rassentheorien. Er erhält sich seine Vormachtstellung durch umfassende Rassismen und den Neokolonialismus.

Noch heute profitieren die ehemaligen Kolonialmächte von den errichteten Strukturen und erhalten Rassismen und ökonomische Abhängigkeiten aufrecht. Noch heute herrscht ein koloniales Denken und Handeln vor, wie beispielsweise das Bild von „ungebildeten Wilden“ aufzeigt, die vom Westen missioniert und mit Segnungen der Technik ausgestattet werden müssen. Das zeigt sich auch am aktuellen Beispiel Ebola, das als „afrikanisches“ Problem dargestellt wird, obwohl im Jahr 2014 nur vier der 54 Staaten des Kontinents betroffen sind. Auch werden westliche „Hilfeleistungen“ anhand einer dargestellten Unfähigkeit seitens der betroffenen Länder legitimiert. Informationen über afrikanische Initiativen, wie etwa die ASEOWA der Afrikanischen Union, und über die Länder, die sich dem Thema adäquat selbst annahmen, sind nicht bis in unsere Nachrichten vorgedrungen.
Noch heute nützen Entwicklungs-, Subventions- und Reparationspolitiken vor allem dem Westen. Noch heute existiert kaum ein Unrechtsbewusstsein oder ein Streben nach Aufarbeitung. Postkolonial ist bloß das Datum, Europa noch lange nicht.

Zur Ausstellung:

„Wir sind alle Berliner“
15.11.2014-11.1.2015
SAVVY Contemporary Berlin
Richardstraße 20
12043 Berlin-Neukölln

savvy-contemporary.com

 

Anne Pohl macht hauptberuflich politische Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt bei herzteile.org.

Magie und Misogynie

  • 27.10.2014, 16:48

Der Sexismus in und um Games eskaliert auf unterschiedlichen Ebenen und ist dabei erstaunlich facettenreich. Was stereotype Rollen und organisierte Hasskampagnen miteinander zu tun haben.

Der Sexismus in und um Games eskaliert auf unterschiedlichen Ebenen und ist dabei erstaunlich facettenreich. Was stereotype Rollen und organisierte Hasskampagnen miteinander zu tun haben.

Weibliche Spielfiguren haben keine Rüstung, sondern Brüste. Sie haben keine Missionen, sondern Nöte. Sie haben keine Haupt-, sondern die Opferrolle. Sie erleben keine Abenteuer, sondern warten in Kerkern, Eisblöcken oder an Bahnschienen gekettet auf den Prinzen. Sie haben keine Laserschwerter oder Äxte, sondern Heiltränke oder Glaskugeln. Sie sind jemandes Frau, Tochter, Geliebte, Studentin oder Assistentin – nie eigenständig, nie selbst jemand. Sie haben keine eigene Biographie, keine intrinsische Motivation. Sie sind die Wurst-am-Stock für irgendeine grotesk überzeichnete Masse Männlichkeit.Sie gestalten keine Welten, sie flankieren und dekorieren. Sie haben keine speziellen Fähigkeiten, keinen mehrschichtigen Charakter, aber oft Angst oder Nervenzusammenbrüche. Sie retten nicht den Tag, vielleicht aber deine Seele, Ehre oder Potenz. Sie lösen Kriege aus, gewinnen aber keine. Sie sind magisch, aber nicht mächtig. Sie werden effektvoll entführt, geschlagen, gefoltert, vergewaltigt, getötet – für das Intro und die Heldeneinführung. Sie sind jung, schön, verträumt, ergeben, hetero und weiß.Große Game-Publisher wie Ubisoft behaupten schlicht, sie seien zu aufwändig zu animieren.

Auch männliche Figuren sind meist nach einem stereotypen Schema F gestaltet: Hypermaskuline Machomuskelmänner stützen das Narrativ vom kompetenten Typ auf Abenteuersuche. Drei Viertel aller Spielfiguren sind männlich, darunter finden sich unterkomplexe Charakterstudien wie der einsame Wolf, Held, Ritter, kleiner Junge auf Weltreise, der weiße Befreier oder Herrscher. Mindestens aber etwas in Richtung „generisches Arschloch in Uniform“. Gewalt ist Interaktions- und Kommunikationsmittel Nummer eins in Videospielen. Sie wird als „naturgegebener männlicher Anteil“ stilisiert, der Wagemut, Macht und Kompetenz untermauert. Misogyne Gewalt dient in den unterschiedlichsten Schattierungen vor allem der Storyline und sexualisierte Gewalt wird als erotisch dargestellt. Einvernehmlicher Sex auf der anderen Seite im europäischen und amerikanischen Raum weithin tabuisiert. Japan nimmt hier mit einem breiten Sortiment an pornographischen und Hentai-Spielen eine Sonderstellung ein. 2009 rügten die UN nach einem Medienaufruhr Japan für den Vertrieb von Vergewaltigungs-Simulatoren.

Ebenso wie „Killerspiele“ nicht unmittelbar Terrorist_innen hervorbringen, führt ein Spiel mit Frauen in Bikinis nicht automatisch zu mehr Übergriffen oder häuslicher Gewalt. Frauen als gesichtslose, durch Männer konsumierbare Objekte darzustellen, normalisiert jedoch Diskriminierung und Gewalt. Ganz sicher trägt die Objektifizierung jedenfalls nicht dazu, Frauen als gleichwertige Menschen zu betrachten oder grundsätzlich zu respektieren.

Kein Ort, nirgends. Weil auch Frauen Spaß daran haben, nach Feierabend zu metzeln, sieht eine Armee selbsternannter „Gamer“ sich in ihrem Territorium bedroht. Spielerinnen werden oft entweder als Anhängsel betrachtet oder direkt beschimpft. Auf fatuglyorslutty.com wurden Nachrichten gesammelt, die Spielerinnen in Spielen, auf Game-Plattformen und in Communitys erhalten. Sie werden darin als fett, hässlich oder nuttig bezeichnet, vielleicht auch unvermittelt zum Blasen aufgefordert – während sie eigentlich gerade einfach nur eine Quest bestehen wollten. „Tits or gtfo“ (get the fuck out) ist dabei der Evergreen unter den liebevollen Begrüßungsfloskeln. Auch das „Fake Geek Girl“-Mem ist von der Angst geprägt, die kleinere Schüssel Nachtisch zu erwischen und maßt sich an, Frauen mit Interesse an Nerddomänen pauschal sämtliche Expertise abzusprechen und ihnen Aufmerksamkeitsheischerei zu unterstellen.

Professionelle Spielerinnen müssen sich bei Turnieren härter bewerten und anfeinden lassen. Bei einer Promotion-Show für das Prügelspiel "Street Fighter X Tekken" fasste der Spieler und Teamleiter Aris Bakhtanians die Einstellung vieler zusammen: “This is a community that’s, you know, 15 or 20-years-old and the sexual harassment is part of a culture and if you remove that from the fighting game community, it’s not the fighting game community.” Ein „Hearthstone“-Turnier hat kürzlich ausschließlich männliche Teilnehmer zugelassen, mit der Begründung, eSport solle als klassischer Sport anerkannt werden. Dort werde schließlich auch die Trennung in „männlich“ und „weiblich“ vorgenommen.

Unternehmen schalten Stellenanzeigen für Entwicklerinnen, da sie „überzeugt sind, Frauen sind großartige Programmier (sic!). Frauen schreiben sexy Code: Ordentlich und sauber“, oder suchen ein „IT-Girl (Fachinformatikerin Anwendungsentwicklung)“. Der Ruf nach mehr „weiblichen Fachkräften“ verhallt in der Ignoranz eines männlich dominierten Wirtschaftszweiges, in dem Ungleichbehandlung, Sexismen und Übergriffe am Arbeitsplatz geduldet sind. In der Spieleindustrie liegt der Frauenanteil bei 22 Prozent, Entwicklerinnen verdienen rund ein Viertel weniger als ihre Kollegen. Auf die Frage eines Kickstarter-Mitarbeiters hin, wieso es so wenig Spieleentwicklerinnen gäbe, sammelten 2012 tausende Frauen unter dem Hashtag #1reasonwhy erschreckende Eindrücke aus ihrem Arbeitsalltag in der Branche.

Auch auf Fachkonferenzen kommt es immer wieder zu Übergriffen, sexistischen Pointen in Vorträgen oder Belästigung. Das Geekfeminism-Wiki sammelt solche Vorfälle, die bis 1963 zurückgehen. Auf Messen im IT und Gaming-Bereich animieren „Boothbabes“, also Hostessen in Bikini oder knappen Kostümen eine Zielgruppe, die als „männlich und hetero“ festgeschrieben wird - unabhängig davon, wie divers sie längt ist. Solche Boothbabes sind nach Merkmalen wie Unterarmlänge, Oberschenkelumfang und selbstverständlich Körbchengröße aus einem Katalog wählbar. Das YouTube-Format „NosTeraFuTV“ der Game-Website Giga filmte so auch auf der Gamescom 2013 die Belästigung von Cosplayerinnen, Besucherinnen und Hostessen - zur Unterhaltung. In dieser feindlichen Atmosphäre sind Frauen nicht nur unterrepräsentiert, sondern wechseln auch wesentlich häufiger das Berufsfeld – laut einer Studie des National Center for Women & Information verlassen in den USA 56 Prozent der Frauen in ihren ersten zehn Berufsjahren den IT-Bereich für immer, obwohl 74 Prozent angeben, ihre Arbeit zu lieben.

Kübelweise Hass. Kontinuierlich und gezielt werden Entwicklerinnen, Journalistinnen und Spielerinnen angegriffen. Im August eskalierten die Hass-Postings unter dem Schlagwort „Gamer Gate“, zunächst waren sie gegen die Indie-Entwicklerin Zoë Quinn gerichtet. Bereits 2013 wurde sie zur Zielscheibe hasserfüllter Angreifer, weil ihre interaktive Geschichte „Depression Quest“ Aufmerksamkeit erhielt. Losgetreten wurde der neue Shitstorm durch den Blogpost eines Expartners. Quinns intime Beziehungen wurden an die Öffentlichkeit gezerrt. Als angebliche Intervention gegen Korruption im Gamejournalismus entstand eine Verschwörungstheorie, die unter anderem die Journalistinnen Mattie Brice und Jenn Frank dazu brachte, nicht länger über Spiele zu schreiben. Auch Anita Sarkeesian ist seit der Ankündigung ihrer Video-Reihe „Tropes vs. Women“ kontinuierlich Attacken ausgesetzt. Seit Jahren setzt sie sich in ihren Videos mit Sexismus und Popkultur auseinander, aber die Ankündigung, sich speziell mit Videospielen befassen zu wollen, ließ misogyne Online-Angriffe auf sie eskalieren, das so entstandene Spiel „Beat Up Anita Sarkeesian“ ist dabei nur eine von zahlreichen krassen Ausformungen. All diesen Frauen wird mit Gewalt, Folter, Vergewaltigung und Mord gedroht und private Informationen über sie werden veröffentlicht. Immer wieder müssen sie umziehen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen ändern. Das sind keine Einzelfälle und auch nicht bloß Ausfälle armer, einsamer Trolle. Es sind massive und organisierte Angriffe auf einflussreiche Frauen – mit dem Ziel, sie zu verdrängen, unsichtbar zu machen und ihre Stimmen zu ersticken. Die Dokumentation „GTFO“ widmet sich eindringlich 75 Minuten lang der ganzen Bandbreite des Harassment und und lässt Betroffene zu Wort kommen.

Schleifchen statt Substanz. Dennoch existiert eine zunehmend sichtbare Szene, die Diversity, die Wahl unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten und die kritische Thematisierung von Diskriminierung zulässt und Geschichten erzählt, die mit den Normen der Videospielwelt brechen. Mattie Brices „Mainichi“ etwa erzählt von der Realität einer Trans*-Frau, das millionenfach verkaufte „Gone Home“ die Geschichte eines Teenager-Mädchens. Der „Consensual Torture Simulator“ setzt sich mit Konsens und Gewalt in Videospielen auseinander - in Spielform. Der großartige „Complete guide to gender design in games - Press X to make sandwich“ von Anjin Anhut liefert eine Anleitung für ein mehrschichtiges, sensibles Spieldesign ohne Sexismen. Gerade die Indie-Game-Szene zeigt auf, welche Möglichkeiten in diesem Medium stecken, das sich in den letzten 20 Jahren technisch immens, aber inhaltlich kaum weiterentwickelt hat.

Dieser Stillstand ist auch einem Marketing geschuldet, das seit den 1980er und -90er Jahren aggressiv auf eine junge, weiße, heterosexuelle, männliche Zielgruppe setzt, obwohl Studien seit Jahren zeigen, dass in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen gespielt wird. Gerade Frauen verhelfen Spielen wie "Die Sims" zu ihren Erfolgen. Sogenannte „Casual Games“, wie „Angry Birds“ oder „Candy Crush“, die besonders bei einer weiblichen Zielgruppe gut ankommen, gelten automatisch als unechte, illegitime Videospiele.

Die Spiele „Mirror’s Edge“ oder „Remember Me“ stellen Women of Color in den Mittelpunkt. Im Sinne der Verwertungslogik hätten sie keine Daseinsberechtigung. Dass die Ursache für die Verkaufsergebnisse aber auch in festgefahrenen Marketingstrategien liegen könnte, wird ignoriert. Dass die Spielevermarktung auf eine junge, weiße, heterosexuelle, männliche Zielgruppe setzt, ist zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Das Medium Videospiel, die Industrie und ihre Anhänger spiegeln nicht nur einen gesellschaftlich verankerten Frauenhass und Sexismus wider, sie sind daran beteiligt, diesen fortzuschreiben. Frauen werden auf allen Ebenen bekämpft und kleingehalten. Als Charakter, Zielgruppe, Mitarbeiterin, Entwicklerin, Designerin, Gründerin, Kritikerin, Journalistin - und Spielerin.
 

Anne Pohl macht was mit Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt manchmal bei herzteile.org über digitale Spielkultur.

No girls allowed“ – über Gendermarketing

GTFO“ – Dokumentation über Harassment: www.gtfothemovie.com

„Gaming in Colour“ – Dokumentation über die queere gaming community: gamingincolor.vhx.tv

Press X to make Sandwich“ – A complete guide to gender design in games: http://howtonotsuckatgamedesign.com/2014/05/press-x-make-sandwich-complete-guide-gender-design-games/

Kill the Masters

  • 15.06.2016, 21:19
30 werden ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass es dazu zahllose Bücher gibt. Die Sache mit dem Erwachsenwerden wird ernst und langsam auch alternativlos. Viel schlimmer aber ist, dass der Freundeskreis erwachsen wird, Abschlüsse macht und beginnt, sich nach einer unsichtbaren Choreographie zu bewegen.

30 werden ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass es dazu zahllose Bücher gibt. Die Sache mit dem Erwachsenwerden wird ernst und langsam auch alternativlos. Viel schlimmer aber ist, dass der Freundeskreis erwachsen wird, Abschlüsse macht und beginnt, sich nach einer unsichtbaren Choreographie zu bewegen.

Längst hatte ich mich darauf eingestellt, auf Partys oder Events die elende Frage nach dem Studienfach zu beantworten. Geeignet sind je nach Umfeld und Stimmung „Das Leben“, „Studierende“ oder bequeme Lügen wie „Astrophysik / Sozialwissenschaften / Was mit Medien“, die gelangweilt abgenickt werden. Das Studium ist, besonders bei sogenannten Twenty-Somethings, der Default. Leute mit schulischer Ausbildung, ohne Ausbildung, festen Jobs, Behinderung, Krankheit oder Erwerbslosigkeit kommen in diesem Mikrokosmos nicht vor und werden darum auch nicht mitgedacht. Kellnern etwa ist unter Studierenden schließlich kein Beruf, sondern ein Nebenjob.

Irgendwann, spätestens mit 30, sind alle Partys in diesen homogenen Zirkeln ausgesessen, die Abschlussarbeiten abgegeben. Die Tiraden über stressige Klausurphasen (während der eigenen stressigen Pitchphase), verdammt frühe Vorlesungszeiten (9 Uhr, übel, da mach ich die dritte Rauchpause) –, Beschwerden über die Lehrqualität („Niemand sagt mir, was ich wie tun soll, die Uni bereitet einfach nicht auf das Leben vor!“) scheinen vorbei, meine Freund_innen können endlich meine eigene Not im Großraumbüro nachvollziehen.

VERSCHIEDENE HAMSTERRÄDER. Man möchte niemandem die Arbeitswelt an den Hals wünschen, aber die kleine boshafte Stimme im Kopf freut sich doch ganz kurz, dass mit dem Masterabschluss auch die letzten flügge geworden sind und endlich 40 Stunden pro Woche mit 25 Urlaubstagen im Jahr runterreißen müssen. Die Schadenfreude währt nicht lange, denn letztlich sind desillusionierte und erschöpfte Freund_innen, die plötzlich im gleichen Hamsterrad mitrennen müssen, nichts Erfreuliches. Dass die Hamsterräder in völlig unterschiedlichen Käfigen stehen, dämmert mir langsam, als ich merke, dass meine berufseinsteigenden Freund_innen sich längst an den Futtertrögen der Macht positioniert haben.

Noch in der Uni-Bib oder der Kneipe wird ein Startup oder Beratungsunternehmen gegründet. In der Mensa finden sich bei günstigen, warmen Mahlzeiten wertvolle Netzwerke zusammen. Unterstützt von Infopoint, Studierendenvertretung, psychologischem Dienst oder speziellen Angeboten der Kinderbetreuung können im Uni-eigenen Hackspace oder Bandraum Fertigkeiten ausprobiert und entwickelt werden. Rabatte beim Nahverkehr und Laptopkauf, dem Uni-Dönerladen oder dem städtischen Kulturangebot, Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen und damit Wissen – die Ressourcen werden verteilt. Des einen Bildungsförderung ist des anderen Ausschluss, Barriere oder gläserne Decke.

PRIVILEGIEN POPPEN AUF. Man muss nicht erst in einer Burschenschaft vernetzt sein, um von akademischen Strukturen auch langfristig zu profitieren: etwa durch Alumni-Netzwerke, Mentoring-Projekte mit dem Vorstand und der Startpositionierung an den richtigen Schnittstellen. Die ersten treten ihr Erbe an oder studieren direkt aus der staatlich geförderten Eigentumswohnung der akademisierten Eltern heraus.

War es bisher Common Sense, gerade als klassischerweise linke_r Studierende_r, Klassenunterschiede, Rassismus und Sexismus irgendwie blöd zu finden, wandeln sich diese Einstellungen mit dem zunehmenden Profit an den eigenen Privilegien. Zuvor von Möglichkeiten und Lebenswegen überfordert, verengt sich mit der beruflichen Qualifizierung im Angesicht des ernsten Lebens der Blick nach und nach. Steuerlasten wollen gemindert werden und selbsternannte Leistungstragende sich abgesichert wissen.

Die 4-Zimmer-Altbauwohnung, einst als Studi-WG angemietet, bleibt besetzt und eignet sich mit eingefrorenem Mietvertrag und ohne Mitbewohner_in perfekt als zukünftiges Familiennest für die nächste Generation Elite. Herrschaftskritisch, im Rahmen einer selbstverständlich gleichberechtigten Beziehung, wird die Haushaltsarbeit aufgeteilt, indem man via App eine Putzfrau engagiert. Sozialneidisch denke ich an meine dreckige Wohnung und beäuge die vom als kärglich bejammerten Einstiegsgehalt angeschafften neuen Couchgarnituren und Einbauküchen. Die frischgebackenen Master beneiden mich derweil um meine langjährige Berufserfahrung. Ich versuche, mir vor Augen zu halten, was für ein Glück ich hatte, mit 16 Vorstellungsgespräche und Gehaltsverhandlungen führen zu dürfen, scheitere aber, als ich mich daran erinnere, dass die Gleichaltrigen seinerzeit auf Klassenreise in New York waren und ich mir frühestens in fünf Jahren ein neues Sofa leisten kann.

Auch ohne die vermisste Berufserfahrung kann die Werkstudentin von gestern morgen meine neue Vorgesetzte sein. So lebe ich in der ständigen Furcht, eines Tages Vorgesetzten ausgeliefert zu sein, deren eigene Erfahrungen als Arbeitnehmende sich darauf beschränken, schon einmal Promotionsmaterial in der Fußgängerzone verteilt oder eine Kickstarter- Kampagne aufgesetzt zu haben. Das Praktikumsprojekt und ein_e gewogenr_e Professor_in sind „Referenzen”, der Bekanntenkreis „Kontakte”.

Auf den Partys gibt es jetzt richtiges Essen, dazu werden Visitenkarten gereicht, Projektideen und Kooperationen besprochen. Aus meinem bewunderten Erfahrungsschatz heraus rate ich, nun unironisch, zu Berufsunfähigkeitsversicherung und Steuerberatung. Das bringt mir diverse Anfragen für das Korrektorat von Bewerbungsanschreiben ein, und ich wünsche mir die Hausarbeiten der anderen zurück, für die ich leider nie genug Adorno gelesen hatte, obendrein nichts von akademischen Zitierregeln verstanden habe und daher leider nicht helfen konnte. Ich werde endlich nicht mehr gefragt, was ich studiere, sondern danach, was ich eigentlich studiert habe.

Anne Pohl sollte an dieser Stelle angeben, was sie wo studiert hat.