Postkolonial sind wir noch lange nicht
Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?
Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?
Zu solchen Fragen lädt, in Anspielung auf das berühmte J.F. Kennedy-Zitat „Ich bin ein Berliner“, die Ausstellung „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ der Galerie SAVVY Contemporary - The Laboratory of Form-Ideas ein. Kuratiert wird sie von dem Pariser Schriftsteller, Dozenten und Kunstkritiker Simon Njami, dessen Schwerpunkt auf zeitgenössischer afrikanischer Kunst liegt.
Zum Auftakt der Ausstellung wählt SAVVY den 130. Jahrestag der Kongokonferenz („Berliner Konferenz“). Auf Einladung von Bismarck teilten ab dem 15.11.1884 vierzehn primär europäische Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Unter Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung besiegelten sie mit der Unterzeichnung der „Kongoakte“ die endgültige Ausbeutung und Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Zynischerweise konnte durch die Konferenz der Frieden unter den Großmächten gesichert werden, entsprechend harmonisch teilten diese sich einen Kuchen, der ihnen nicht gehörte.
„Kolonialmächte, die sich um die Karte des Afrikanischen Kontinents herum versammelten, wie um ein Schachbrett“ (Kurator Simon Njami)
Als Kennedy seine Botschaft 1963 an das geteilte Berlin richtete, ging es ihm um den Abbau von Grenzen und die Überwindung nationalistischer Beschränkungen. „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ fragt, wie im Angesicht von wachsendem Nationalismus und Rassismus in Europa deutsche Identität und europäische Nationalitäten heute definiert werden können sowie welche historischen und zeitgenössischen Bindungen und Parallelen es zu Afrika gibt. Dabei nimmt sie aktiv den Part des ewig „Anderen“ und Ausgeschlossenen ein, die Ausstellung gehört den Kolonialisierten und ihrer Perspektive.
Sammy Baloji etwa legt für sein Werk „Mémoire“ die Minen der Union Miniére du Haut katanga in Lumbashi und Aufnahmen schwarzer und weißer Kolonialfotografen übereinander und schafft so vielschichtige Fotomontagen. Sie verweisen auf ein Europa, dessen Großmächte in einem Kampf um „Fortschritt und Wachstum“ den Grundstein für die Globalisierung legen, was auch die systematische Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung sowie ihren Ressourcen und Rohstoffen bedeutet. Die deutsche Koloniallobby und Großunternehmer starteten 1884 mit der Einführung sogenannter „Schutzgebiete“, die ihnen die Verwaltung und „Entwicklung“ der betroffenen Gebiete erlaubte. Größenwahnsinnige Projekte wurden angestoßen, auch der Kolonialhandel erlebte damit einen Boom. Assimilation, Versklavung und Massenmorde, wie etwa an den Herero und Nama in Südwestafrika, waren dabei ein bloßer Wirtschaftsfaktor im Streben nach Profit, wissenschaftlich- technischem Fortschritt und dem Auf- und Ausbau der Vormachtstellung.
Mansour Ciss dagegen zeigt mit „Laboratoire Déberlinisation“ seine Vision eines wohlhabenden, friedlichen Afrikas, das souverän über eigene Ressourcen verfügt und frei seine Zukunft gestalten kann. Seine fiktive Währung „AFRO“ nimmt mit bunten Geldscheinen und der „AFRO Express Card“ Gestalt an und zeigt wie die finanzielle und politische Selbstbestimmung aussehen könnte. Sein Projekt soll dabei auch den Dialog zwischen Süd- und Nordafrika und über die aufgezwungenen, künstlichen Reißbrettgrenzen hinaus anregen.
Wenn Keramikteller mit einzelnen Körperteilen darauf trophäenartig aufgehängt werden, kann das als Hinweis auf die bis heute andauernde Exotisierung, Sexualisierung, Verwertung und Kommerzialisierung Schwarzer Menschen, ihrer Körper und Arbeitskraft verstanden werden. Dreizehn davon hat Bili Bidjocka aufgereiht. Seine Dekonstruktion des letzten Abendmahls „Dis-ambiguation“ thematisiert Missionierungen und christliche Doppelmoral.
Solche Lücken im deutschen Kollektivgedächtnis will das Projekt „Colonial Neighbours“ von SAVVY Contemporary füllen, das ein Archiv kolonialer Geschichte und Gegenwart werden soll und auch über die Ausstellung hinaus besteht. Erinnerungsstücke, Alltags- und Gebrauchsgegenstände, wie Fotoalben,Tagebücher, Briefe, Sammelalben werden sowohl digital als auch dinglich gesammelt und dokumentiert. Das Archiv zeigt auf, dass der Kolonialismus nicht „irgendwo weit weg“ stattgefunden hat, sondern eine Praxis und Ideologie war, die von der deutschen Bevölkerung gelebt und geschätzt wurde. Vier Millionen Unterschriften zur Verhinderung aus der Bevölkerung gingen ein, als die Versailler Verträge das Ende der deutschen Kolonien besiegelten.
„Während die Berliner Konferenz die Umrisse des afrikanischen Kontinents modifizierte, änderte sie dabei auch Europa.“ (Kurator Simon Njami)
130 Jahre sind kaum ein weltgeschichtlicher Lidschlag und so zeigen sich kolonialistische Spuren nach wie vor. Eine „Entkolonialisierung“ gab es nie. Möbel und Dekoration im „Kolonialstil“ können im Internet bestellt werden, Cafés begrüßen uns mit „Schwarzen Dienern“ im Eingangsbereich, Logos und Slogans mit rassistischen Karikaturen und dem auch in einer österreichischen Süßspeise noch geläufigen M-Wort prangen in Supermarktregalen. Viele Forschungsinstitute und Museen haben koloniale Wurzeln und stellen noch heute romantisierte Werke rund um „tapfere Entdecker“ und Raubkunst aus. Noch immer sind zahlreiche Straßen und Plätze nach Kolonialherren benannt, der Menschenrechtsaktivist und Politologe Joshua Kwesi Aikins kennt sie. Bei seinen Stadtführungen durch Berlin zeigt er diese Spuren, beispielsweise im „afrikanischen Viertel“ im Wedding oder dem May-Ayim-Ufer in Kreuzberg.
Wer deutsch ist, ist weiß und wer in Deutschland weiß ist, ist deutsch. Soweit zumindest die Auffassung der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die damit verbundenen Privilegien basieren nicht auf einer gottgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge, sondern auf Ausbeutung und Unterdrückung. Der weiße Mann erlangte seine Macht durch Massenmorde, Apartheid, Kolonialisierung und Rassentheorien. Er erhält sich seine Vormachtstellung durch umfassende Rassismen und den Neokolonialismus.
Noch heute profitieren die ehemaligen Kolonialmächte von den errichteten Strukturen und erhalten Rassismen und ökonomische Abhängigkeiten aufrecht. Noch heute herrscht ein koloniales Denken und Handeln vor, wie beispielsweise das Bild von „ungebildeten Wilden“ aufzeigt, die vom Westen missioniert und mit Segnungen der Technik ausgestattet werden müssen. Das zeigt sich auch am aktuellen Beispiel Ebola, das als „afrikanisches“ Problem dargestellt wird, obwohl im Jahr 2014 nur vier der 54 Staaten des Kontinents betroffen sind. Auch werden westliche „Hilfeleistungen“ anhand einer dargestellten Unfähigkeit seitens der betroffenen Länder legitimiert. Informationen über afrikanische Initiativen, wie etwa die ASEOWA der Afrikanischen Union, und über die Länder, die sich dem Thema adäquat selbst annahmen, sind nicht bis in unsere Nachrichten vorgedrungen.
Noch heute nützen Entwicklungs-, Subventions- und Reparationspolitiken vor allem dem Westen. Noch heute existiert kaum ein Unrechtsbewusstsein oder ein Streben nach Aufarbeitung. Postkolonial ist bloß das Datum, Europa noch lange nicht.
Zur Ausstellung:
„Wir sind alle Berliner“
15.11.2014-11.1.2015
SAVVY Contemporary Berlin
Richardstraße 20
12043 Berlin-Neukölln
Anne Pohl macht hauptberuflich politische Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt bei herzteile.org.