„Warum reden sie über meine Generation?“
Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben.
Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben.
Seneit blickt in die Kamera und schmunzelt: „Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sag’ ich manchmal aus Spaß, weil ich sie ärgern will: aus Mannheim. Ich mach’ das gerne, so provokativ zu sagen: Wieso? Ich bin auch Deutsche! Das find’ ich total amüsant.“ Dabei ist das keineswegs ein Witz. Die junge Frau, die heute in Berlin lebt, ist tatsächlich in der baden-württembergischen Quadratestadt aufgewachsen. Nichtsdestotrotz provoziert diese biographische Tatsache so manche_n deutsche_n Bürger_in, weil Seneit, die als Kind mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg in Eritrea geflohen ist, eben Seneit heißt und schwarz ist. „Die Deutschen reden zwar über Integration und so, aber letztendlich ist es so: Bei den einzelnen Deutschen ist einfach noch nicht angekommen, dass es auch schwarze Deutsche gibt, oder viele andere Deutsche mit einem anderen sozialen und kulturellen Hintergrund“, konstatiert Seneit und fügt hinzu: „Leben in Deutschland ist ein bisschen so wie auf einer Party zu sein, auf die man eigentlich nicht so richtig eingeladen wurde.“
Die Vielfalt der zweiten Generation. Seneit ist eine von vielen, die ihre Geschichten im Rahmen des Projekts „with wings and roots“ erzählt haben. Vor fünf Jahren begann dessen Gründerin, die in Brooklyn lebende Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace, in Berlin und New York Interviews mit Kindern von Migrant_innen zu führen. „Das hat auch viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun“, erzählt sie im Interview mit progress: „Ich wollte einen Film über meine Altersgenoss_innen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle.“ Antonakos- Wallaces Anspruch war dabei von Anfang an, die Kreativität und die Intelligenz jener Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, über die Mainstream- Medien in Zeiten der Integrationsdebatte zwar viel zu sagen haben, dabei aber allzu oft Stereotype einer orientierungslosen „zweiten Generation“ reproduzieren: geprägt von Bildungsdefiziten, gefangen in Parallelgesellschaften oder zerrissen zwischen scheinbar miteinander unvereinbaren Kulturen. Der tatsächlichen Vielfalt der Stimmen, Perspektiven und Lebensrealitäten von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte wird dabei kaum Raum gegeben.
Angetreten, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine Plattform zu schaffen, die es Kindern von Migrant_innen erlaubt, für sich selbst zu sprechen, ist „with wings and roots“ mittlerweile zu einem vielschichtigen Bildungs- und Multimediaprojekt herangewachsen, an dem mehr als 30 Personen ehrenamtlich mitarbeiten. Zwei Kurzfilme und Bildungsmaterialien, mit denen unter anderem in Schulklassen und Workshops gearbeitet wird, sind entstanden. Noch heuer wird ein abendfüllender Dokumentarfilm veröffentlicht. Außerdem wird Seneits Geschichte gemeinsam mit jenen von über 50 weiteren jungen Menschen auf einer zweisprachigen, interaktiven Webseite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus einer Vielzahl kurzer Videoclips wird im Netz eine umfassende Geschichtensammlung geschaffen, in der ganz unterschiedliche junge Berliner_ innen und New Yorker_innen ihre Positionen und multiplen Zugehörigkeiten in Zusammenhang mit der Migrationserfahrung ihrer Eltern und Großeltern, vor allem aber auch mit den Exklusions- und Inklusionsmechanismen der deutschen und der amerikanischen Gesellschaft reflektieren. Mit Hilfe einer aufwendig gestalteten Zeitleiste der deutschen und amerikanischen Migrationsgeschichte wird dort auch aufgezeigt, wie diese individuellen Geschichten mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen verzahnt sind: von der deutschen Kolonialgeschichte bis zu aktuellen Diskussionen rund um eine Reform der Immigrationsgesetze in den USA. „Damit ist auch der Anspruch verbunden, Wissenslücken zu schließen“, erklärt Olga Gerstenberger, die in den letzten zwei Jahren intensiv an der Erstellung dieser Zeitleiste mitgearbeitet hat: „Die Stereotype in den Köpfen der Menschen haben nämlich einerseits viel mit historischen Prägungen zu tun und gleichzeitig auch mit einem gewissen Nicht-Wissen.“
Auch der komparative Zugang soll dazu beitragen, das Thema Migration in ein neues Licht zu rücken, erklärt Christina Antonakos-Wallace: „Das Thema in einem neuen und transnationalen Kontext zu sehen, soll dem Publikum auf beiden Seiten des Atlantiks die Möglichkeit geben, zu erkennen, dass die Dinge nicht unbedingt so sein oder bleiben müssen, wie sie sind. Der Vergleich soll in Frage stellen, dass die jeweiligen Vorstellungen von nationaler Identität und Fremdheit natürlich oder unveränderbar seien.“ Als Vorbild will sie aber weder die deutsche, noch die US-amerikanische Gesellschaft verstanden wissen, denn wie ein roter Faden durchzieht eine Gemeinsamkeit die sonst so heterogenen Geschichten, die junge Menschen auf beiden Seiten des Ozeans erzählen: das Dilemma, in einem Umfeld aufzuwachsen, das sie alltäglich daran erinnert, dass sie nicht „wirklich“ dazu gehören, zugleich aber konstant ihre Verpflichtung betont, sich zu integrieren.
Herkunftsdialoge. Obwohl Dina nicht in Mannheim, sondern in New York aufgewachsen ist, kennt auch sie die von Seneit angesprochene Krux nur allzu gut. Sie blickt ernst in die Kamera: „Wenn die Leute mich fragen, woher ich komme, denke ich, aus New York. Und dann, wenn sie nicht zufrieden sind, mit dieser Antwort, fragen sie: Wo kommst du wirklich her? Als ob das ‚wirklich‘ alles klären würde. Oder: ‚Wo kommen deine Eltern her?’“ Der Migrationsforscher Mark Terkessidis bezeichnet diese „Herkunftsdialoge“ als „subtile Form der Verweisung“, die immer auch kommuniziert: Mit deinem Aussehen und deinem Namen gehörst du eigentlich woanders hin. Die alltägliche Frage nach der „wirklichen Herkunft“ spiegelt wider, „wie eng Zugehörigkeit heute noch immer definiert wird“, erklärt Christina Antonakos-Wallace. Akim, dessen Familie in den 80er-Jahren aus Vietnam geflüchtet ist, fasst das in einem ihrer Kurzfilme so zusammen: „Hier in Deutschland ist man halt noch immer ein Ausländer. Und man ist ja offensichtlich ein Ausländer. Aber das Krasse ist ja auch, wenn man nach Vietnam geht, dass man dann auch ein Ausländer ist.“
Derya, die sich selbst als „Deutsch-Türkin, weder türkisch noch deutsch, eben Deutsch-Türkin“ bezeichnet, sieht die Logik der Deplatzierung auch im deutschen Integrationsdiskurs verankert: „Als es damals im Fernsehen oder in den Zeitungen anfing, dachte ich: ‚Hä? Warum Integration? Warum reden sie von meiner Generation? Ich bin doch integriert. Ich bin doch hier aufgewachsen.‘“ Und sie ergänzt: „Man kennt ja die Straßen in- und auswendig. Und dass man dann nicht akzeptiert wird oder mit irgendwelchen Vorurteilen belastet wird, trifft einen schon sehr oft.“
Sonny erzählt davon, wie es war als Sikh in Charlotte, North Carolina, aufzuwachsen: „Während dieser Zeit hatte ich ein wahres Verlangen, weiß zu sein. Ich wollte nicht diese fremde Gestalt sein, wo immer ich hinging. Ich wollte John heißen, eine gute Frisur haben und Basketball spielen.“ Von Mobbing in der Schule, „Ausländerklassen“ und Hauptschulempfehlungen, „weil für Ausländerkinder eben nicht mehr geht“, wird in der Geschichtensammlung viel erzählt; aber auch davon, wie Juliana, allen Entmutigungen durch LehrerInnen und ihr Umfeld zum Trotz, die Highschool abschließt, wie Ipek in Berlin ihre erste lesbische Gruppe gründet und Sonny heute in New York als Teil der Sikh Coalition gegen rassistische Diskriminierung kämpft.
Welche Rolle für die jungen Protagonist_innen dabei ihre Wurzeln spielen, ist völlig unterschiedlich. „In einer Gesellschaft wie dieser, in der es einen großen Assimilationsdruck gibt, ist es, denke ich, sehr wichtig für uns als zweite Generation von Einwanderer_ innen, uns mit unserer Herkunft zu identifizieren und stolz darauf zu sein,“ sagt Sonny. Zugleich kritisiert er ein Verständnis von Kultur als etwas, das es zu bewahren und konservieren gilt. Akim stellt fest: „Wurzeln? Wenn man die lange genug kocht, werden sie auch weich“ und schenkt Tee ein. Und Dina meint: „Ich denke es ist wichtig für manche Leute, mit ihren Wurzeln verbunden zu bleiben. Aber ich habe das Gefühl, dass mich diese Frage nie betreffen wird.“
Bewegte Zugehörigkeiten. Nicht zuletzt thematisiert „with wings and roots“, welch vielfältige Antworten die Kinder von Migrant_innen auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit und dem Zuhause finden: „Ich glaube, gerade jetzt ist Brooklyn Zuhause, aber ich denk, dass ich ein anderes Zuhause auch woanders kreieren kann“, sagt Sonny dazu. „Heimat ist für mich, wo ich meinen Kopf hinlege“, meint Miman und deutet das Bild vom Leben zwischen den Welten im positiven Sinne um. Statt als Anlass zur Krise sieht er es als Vorteil: „Ich bin halt zwischen zwei Stühlen aufgewachsen, ich durfte zwei Kulturen erleben und ich hab das für mich so geregelt, dass ich mir von beiden das Beste genommen habe.“ Seneit strahlt regelrecht, wenn sie erzählt: „Für mich ist das Beste einfach nur, dass ich die Wahlmöglichkeit habe. Ich kann gerne in Deutschland leben und mich wohlfühlen und ich kann gerne in Eritrea leben und mich wohlfühlen. Und das find ich toll. Da fühl ich mich reich.“ Eine eindeutige Identität gibt es für sie nicht: „Das ist einfach wie so ein ganzer Blumenstrauß.“ Auch Dina lacht, als sie sagt: „Ich denke, ich bin mehr als alles andere Amerikanerin, da ich sehr verwirrt bin. Denn auch so viele andere Amerikaner_innen, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, sind verwirrt.“ Und schließlich äußert auch sie Zweifel, ob es tatsächlich eindeutiger Antworten auf die Frage der Zugehörigkeit bedarf: „Mag es eine komplizierte Angelegenheit sein! Ehrlich gesagt, mag ich es, dass es schwierig ist, diese Frage zu beantworten.“
Anna Ellmer hat in Wien und Paris Kultur- und Sozialanthropologie studiert.
Für ein ausführliches Interview mit der Regisseurin und Produzentin Christina Antonakos-Wallace lies weiter unter Bewegte Zugehörigkeiten.
Für weitere Informationen über „with wings and roots“: http://withwingsandrootsfilm.com.
Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh.
„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder einen Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, über Facebook und/oder die Website mit dem Team in Kontakt zu treten.