Wer auf Twitter „#Meinungsfreiheit“ eingibt, stößt häufig auf Tweets von rechtsextremen Gruppen wie der Identitären Bewegung und der AFD. Auch amerikanische Alt-Right-Aktivist_innen behaupten, linke „Social Justice Warriors“ würden mit ihrer Forderung nach politischer Korrektheit die Meinungsfreiheit bedrohen. In Österreich bemüht die FPÖ das Argument der „linken Meinungsdiktatur“, wenn sie sich gegen Vorwürfe verteidigt, rechtsextremes Gedankengut in ihrer Partei zu kultivieren oder darüber diskutiert, das Verbotsgesetz aufzuheben.
Bedroht das Streben nach einer inklusiveren Gesellschaft und einer weniger gewalttätigen Sprache tatsächlich die Meinungsfreiheit? Ist die Linke wirklich antidemokratischer als gedacht?
Um diese Fragen zu beantworten, kann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die als Basis für einen demokratischen Rechtsstaat gilt, herangezogen werden. Artikel 19 schützt das Recht jedes Menschen auf freie Meinungsäußerung vor staatlicher Kontrolle. Darunter fällt das Recht seine Meinung zu verbreiten und die Meinungen anderer zu empfangen. Die Unterdrückung von Meinungsäußerungen durch staatliche Organe, d.h. Zensur, ist in demokratischen Staaten verboten.
Was im Volksmund allgemein unter Zensur verstanden wird ist eine umfassende Informationskontrolle noch vor der Veröffentlichung von Meinungen, Vorzensur also. In autoritär regierten Staaten werden in der Praxis allerdings nicht nur Meinungen, sondern auch Fakten zensiert. Dies bedroht die Informationsfreiheit, die im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit steht. Ohne Informationsfreiheit kann keine freie Meinungsbildung stattfinden und ohne freie Meinungsbildung können keine demokratischen Entscheidungen getroffen werden.
Neben der Vorzensur gibt es aber noch eine andere Zensurform, die in jedem demokratischen Staat betrieben wird, ohne jedoch gegen die Grundprinzipien der Meinungsfreiheit zu verstoßen. Wie kann das sein?
Bei der so genannten Nachzensur kann jeder Mensch seine Meinung veröffentlichen, muss aber die Konsequenzen daraus ziehen, sollte er gegen die Gesetze seines Landes verstoßen haben. Solange sich diese Gesetze im Rahmen des Rechts auf freie Meinungsäußerung bewegen, kann die Redefreiheit eingeschränkt werden. Verleumdende Aussagen sind beispielsweise Meinungsäußerungen und gleichzeitig ein Straftatbestand, was nicht im Konflikt mit den Menschenrechten steht. Die freie Meinungsäußerung wird von den Menschenrechten nämlich nur bis zu dem Punkt geschützt, wo sie die Rechte und die Menschenwürde anderer verletzt, oder ihre körperliche Integrität und ihre Freiheit bedroht. Verleumdungen und Lügen, aber auch Rassismus und Gewaltverherrlichung fallen somit nicht unter den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Sie können nicht nur, sie müssen in einem demokratischen Staat, der die Gleichheit jedes Menschen anerkennt und die Menschenwürde hochhält, unter Strafe gestellt werden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein Instrument, das sich zum Schutz des Menschen gegen die Staatsgewalt richtet. Es ist ein Grundrecht, das Bürger_innen demokratischer Staaten erlaubt, ihre Regierung zu kritisieren und Medien die Möglichkeit einräumt, Missstände aufzuzeigen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung war nie dazu gedacht, diskriminierende Vorurteile gegen marginalisierte Menschengruppen zu schützen. Ein Blick auf den geschichtlichen Kontext, in dem die Erklärung der Menschenrechte verfasst wurde zeigt ihre Bedeutung.
Obwohl schon lange vor 1789 immer wieder versucht wurde eine menschenrechtliche Basis zu schaffen, gilt die Französische Revolution als eigentliche Geburtsstunde der Menschenrechte. Damals wurde die erste „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ in Frankreich verfasst. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte französische Bürger, die Kritik an der Staatsgewalt übten, vor politischer Verfolgung schützen und Informationsfreiheit als Voraussetzung für die neu geborene Demokratie garantieren. Die vorherige Staatsform der absolutistischen Monarchie ließ keine freie Meinungsbildung zu. Auch heute noch gleicht das Recht auf freie Meinungsäußerung eher einem Privileg. Es ist nicht selbstverständlich, seinem Unmut über Ungerechtigkeit Ausdruck verleihen zu können. Es ist ungewöhnlich, freie unabhängige Medien zu haben, die kritische Berichterstattung über die Regierung leisten. In vielen Ländern existieren diese Dinge nicht und auch in der westlichen Welt steht das Recht auf freie Meinungsäußerung vermehrt unter Beschuss.
Gegenwärtige Bedrohungen für die Meinungsfreiheit sind etwa der Beschluss der polnischen Regierung, ein Eingestehen von Polens Verantwortung am Holocaust unter Strafe zu stellen. Auch die Türkei schränkt die freie Meinungsbildung stark ein, teilweise über ihre Landesgrenzen hinaus, wie beispielsweise der Fall um Jan Böhmermann zeigt. Die Türkei zählt zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalist_innen weltweit und belegte 2017 Platz 155 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit. In den USA ist die Meinungsfreiheit im ersten Zusatzartikel der Verfassung verankert. Dennoch sagte Präsident Donald Trump, bei seinen Reden nicht zu klatschen käme „Hochverrat“ gleich und bezeichnet Kritik an seiner Regierung oft als „Fake News“. Auch in Österreich beschuldigte Vizekanzler Heinz-Christian Strache den ORF, „Fake News“ zu verbreiten und bezeichnete ZiB-Anchor Armin Wolf als Lügner, was selbst wenn der Begriff „Satire“ stark überstrapaziert wird, nicht legitim ist.
In Anbetracht dieser Entwicklungen empfiehlt es sich, die Augen offen zu halten. Wir wurden in einer Demokratie mit Menschenrechten geboren. Dadurch kommen sie uns allgegenwärtig und stabil vor. Doch diese Errungenschaften sind fragiler, als wir denken.