Orlando Brix

Kultur, Kapitalismus und Corona

  • 13.05.2020, 12:20
Die Bundesregierung sieht sich als Ermöglicherin, Kulturschaffende fühlen sich missverstanden. Aber was passiert an den Kunstuniversitäten?

„Den Kunst- und Kulturtod wird’s nicht geben“, verkündete Ulrike Lunacek vehement in der
Sendung Kulturmontag (ORF 2) am 20.4.2020. Sie stirbt nicht so schnell, die Kulturnation
Österreich, aber bei allem Optimismus fühlen sich Kulturschaffende von Politiker_innen
missverstanden. Die Pressekonferenz von Vizekanzler Werner Kogler und Staatssekretärin Ulrike
Lunacek am 17.4.2020 wies einige Lücken auf. Die sechs österreichischen Kunstuniversitäten
wandten sich mit einem Brief an die Bundesregierung. Es ist weiterhin unklar, ob und wann
Proben wieder aufgenommen werden können, Konzerte und Festivals müssen abgesagt
werden. Die Einnahmequellen von freiberuflichen Musiker_innen, zu denen auch viele
Studierende zählen, sind bis auf weiteres versiegt.


 

Musik als Lebensinhalt und -unterhalt
Der Lehrbetrieb an einer Kunstuniversität unterscheidet sich grundsätzlich von den meisten
anderen Fächern und läuft im Moment wie überall nur digital ab. Michael Hell, Professor für
Cembalo und Generalbass an der Kunstuniversität Graz, berichtet von einer anfänglichen
„Mischung aus Neugier und einer gewissen Hemmschwelle“. Einzelunterricht, Vorlesungen und
Seminare aus dem Wohnzimmer und Audioaufnahmen seiner Studierenden statt Live-Vorspiel
im Unterricht seien seine „neue Normalität“.
Einige Fächer stoßen schnell auf infrastrukturelle Probleme, weil dafür sperrige Instrumente benötigt werden. Michael Hell gelang es noch vor dem Lockdown, fast all seine Studierenden mit einem Cembalo (Tasteninstrument) aus der Universität zu versorgen. Ein praktischer Vorteil ist bei künstlerischen Studiengängen also die vergleichsweise kleine Studierendenzahl.
Was im Moment ausbleibt, ist das Ensemblespiel, das miteinander proben und musizieren. Es ist
offen, wann Musikstudierende wieder proben dürfen. Gruppenproben für professionelle
Musiker_innen sind ab 1. Juni angedacht (Stand: 17.4.2020), aber es ist unklar, ob dazu auch die
angehenden gezählt werden. Paola Garcia Sobreira, Bassistin und Masterstudentin an der
Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, kann die freie Zeit gerade gut für die
Überarbeitung ihres Abschlussprojekts nutzen. Aber sie räumt auch ein: „Ob sich meine Arbeit
ausgezahlt hat, werde ich erst wissen, wenn ich wieder proben kann.“ Sollte sich dieses „wenn“
noch lange hinziehen, wird sie ihr Studium nicht in Mindeststudienzeit abschließen können.
 

Kreative Arbeit ist kein Allgemeingut
Vielerorts gelobt werden gleichzeitig die sogenannten Balkonkonzerte. Alle Menschen befinden
sich in einer emotionalen Ausnahmesituation, neben Existenzängsten fehlt die soziale
Infrastruktur. Die jetzige Situation zeigt jedoch auch, wie Arbeit gewürdigt wird. Den Ärzt_innen
und Pfleger_innen wird applaudiert – sie kämpfen seit Jahren für fairere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen. Man öffnet den Laptop und kann verschiedenen Livestreams von
Konzerten lauschen – ohne etwas dafür zu bezahlen. Kulturschaffenden wird suggeriert, dass sie
ihre Arbeit der Gesellschaft schuldig sind. Garcia Sobreira sieht solche Erwartungen an
Musiker_innen skeptisch: „Ich glaube, Leute machen sich manchmal ein bisschen Illusionen
damit, wie leicht man im Internet Geld verdient.“ Influencer_innen würden oft Jahre brauchen,
um mit ihrer digitalen Präsenz Geld verdienen zu können. Man mache es sich etwas zu leicht,
wenn man von Musiker_innen erwarte, ihre wegfallenden Konzerteinnahmen durch digitale
Formate ersetzen zu können.
 

The show must go on?
Musikstudierende stehen eigentlich gerade am Beginn ihrer Karriere. Viele von ihnen sind auf
die Einnahmen von Konzerten und Gigs angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Sorgen macht sich Paola Garcia Sobreira über Studierende aus Drittstaaten: „Um das Visum zu
bekommen, braucht man ja einen ziemlich hohen Betrag auf dem Konto, egal ob man einen Studienplatz hat oder nicht.“

Positives kann Michael Hell berichten, dessen Studierende Hilfe vom Notfalltopf der ÖH erhalten haben.
Konzerte haben für junge Musiker_innen aber nicht nur finanzielle Bedeutung, sondern prägen
die Karriereentwicklung, betont Garcia Sobreira. Die momentane Krise im Kulturbetrieb habe
ihre Berufswünsche eher verfestigt als verändert, sie sieht sich immer schon in einer
Kombination aus Freelancing und Festanstellung. Ein vielfältiges Berufsfeld ist auch das des
Cembalisten und Blockflötisten Michael Hell und seiner Studierenden. Er findet es wichtig, sich
jetzt Gedanken um mögliche Szenarien der ungewissen Zukunft zu machen. Eine Rückkehr zur
Vor-Corona-Zeit wünscht er sich nicht, „sondern einen bewussteren Umgang mit dem Thema
Vorsorge, soziale Absicherung und Förderung.“
Die Entscheidungen stehen noch aus, aber die Auswirkungen für Studierende und Lehrende an
Kunstuniversitäten sind unmittelbar. Michael Hell sieht Künstler_innen wie auch Politik in der
Verantwortung, den Veränderungsprozess anzustoßen. Er und seine Studierenden werden
weiterhin das beste aus der Situation machen. „Ich bewundere meine Studierenden, die in
dieser Situation so unglaublich gut durchhalten“, berichtet der Musiker. Er vermutet, dass die
Situation, in einem fremden Land dauernd in einem kleinen Zimmer zu sein, für einige
Studierende durchaus emotional und psychisch belastend ist. Glücklich und erstaunt sei er
deswegen, „dass alle Gespräche und Unterrichtseinheiten positiv und konstruktiv sind.“ Bleibt
nur abzuwarten, dass Österreich zeigt, was ihm an der Kulturnation von morgen liegt.

Nacherzählt ist nicht erfunden.

  • 26.04.2020, 22:34
Warum Michael Köhlmeiers neuer Märchenband ein Paradebeispiel für kulturelle Aneignung ist.

Märchenonkel der Nation wird Michael Köhlmeier zuweilen genannt, auch wenn er sich dagegen sträubt. Sein Werk besteht zum größten Teil aus Nacherzählungen von Sagen, Märchen und anderen Stoffen aus dem deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Sein aktueller Band, „Die Märchen“, erschien im Herbst 2019. Auf der Verlagsseite des Carl Hanser Verlags kann mensch lesen: „Als Kind hat Michael Köhlmeier Märchen gehört oder gelesen – heute schreibt er die Märchen unserer Zeit: keine Nacherzählungen bekannter Stoffe, sondern eigene Erfindungen, verstörende, unheimliche Geschichten.“ Michael Köhlmeier meint so einiges erfunden zu haben: „Jorinde und Joringel“, „Jossele und der Dibbuk“ oder „Der liebe Augustin“ unter anderem. Es sind mehr oder weniger ausgeschmückte Nacherzählungen, die Titel sind teilweise verfremdet. Der Verlag teilt auf Anfrage am 2. März 2020 mit: „Michael Köhlmeier ist ganz sicher der Urheber aller Märchen in diesem Buch, denn sie stammen alle aus seiner „Feder“ oder wohl aus seinem Computer, das heißt, er hat sie selber von A bis Z geschrieben. Und es findet sich unter den 151 Märchen kein einziges, das einfach identisch ist mit einer älteren Vorlage, und nur extrem wenige, die eine so große Ähnlichkeit haben, wie Sie es anmerken.“

Köhlmeier selbst ist da schon transparenter: „[…]in der Regel habe ich einfach Geschichten genommen, die mir gut gefallen haben, habe vom Plot 80 oder auch nur 20 Prozent übernommen und sie neu erzählt.“ Etwas bemerkt? Genau: Neu erzählt ist nicht neu erfunden! „Ein Katalogtext ist aber weder eine genaue literaturgeschichtliche Information, noch ein Quellenverzeichnis“, weist der Carl Hanser Verlag die Kritik zurück. Er sieht Köhlmeier in der Tradition der Grimms, Nacherzähler und Autor zugleich. Einen Kommentar mit Literaturangaben und Vergleichstexten wie in den Grimmschen Märchen, sucht mensch bei Köhlmeier vergeblich.

Die Dokumente, worin Grimm, Bechstein und Co. ihre Märchensammlungen als „eigene Erfindungen“ bewerben, müssen auch erst entdeckt werden. „Jorinde und Joringel“ oder der Joker (DCComics) sind noch relativ bekannt. Deshalb kann das Wissen vorausgesetzt werden, dass Köhlmeier ja nur der Nacherzähler sein kann. Bei Stoffen, die ursprünglich nicht auf Deutsch verfasst wurden, sieht es anders aus. Es ist viel schwieriger, zwischen Original und Hinzudichtung zu unterscheiden. So ist auch noch leichter, sich mit dem kulturellen Erbe anderer zu brüsten und dabei nicht erwischt zu werden.

Die kulturwissenschaftliche Bezeichnung dafür lautet kulturelle Aneignung. Michael Köhlmeier praktiziert sie zum Beispiel so: Die jiddische Maise (märchenartige Erzählung) „Jossele und der Dibbuk“ „erfand“ er ursprünglich für seinen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“. In seiner Nacherzählung geht der jiddische Sprachduktus völlig verloren. Die Geschichte wird also aus ihrem kulturellen und sprachlichen Kontext gerissen, der auch noch verschleiert wird, weil die Leser_innen im Glauben gelassen werden, Köhlmeier hätte die Geschichte erfunden. Das ist nicht nur künstlerisch und stilistisch billig, sondern auch kulturell und politisch problematisch. Minderheitenkulturen wird nicht nur die Deutungshoheit und die Sichtbarkeit genommen, sie gehen auch noch leer aus. So schreibt die Süddeutsche Zeitung 2018: Um Geld zu verdienen, fing er an, Sagen des klassischen Altertums nachzuerzählen. „[…] Man müsse aufpassen, dass man nicht der Märchenonkel der Nation werde“, sagt Köhlmeier. „Aber die Honorare blieben gut.“

Jede Nacherzählung ist Interpretation. Das Problem bei Köhlmeiers Interpretationen ist allerdings, dass er sich verschleiert am Kulturerbe von Minderheiten bedient und der Verlag bewusst mit Köhlmeiers Urheberschaft kokettiert. Zu guter Letzt ist dieser Märchenband auch wieder ein Beispiel für einen alten, weißen, christlichen, heterosexuellen Mann, der seine Plattform besser hätte nutzen können. Es bleibt nicht dabei, dass Köhlmeier sich mehrere Stoffe anderer Kulturen aneignet. Er scheut sich nicht, rassistische und ableistische Motive zu benutzen, um seine Schauergeschichten zu illustrieren. Es ist inakzeptabel, dass 2019 immer noch Neuerscheinungen verlegt werden, die das N-Wort enthalten – wer sich fragt warum, sei „Exit Racism“ von Tupoka Ogette oder „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters empfohlen. Zu verurteilen ist diese Praxis auch deshalb, weil Michael Köhlmeier gerne auf Bühnen und Medien die antisemitische und rassistische Haltung der FPÖ kritisiert. Und er ist hier selbst in seiner Benutzung von Sprache und Text um keinen Deut besser, weil er sich hinter der „Schönheit der Märchen“ versteckt und glaubt, keine politische, kulturelle und ethische Verantwortung übernehmen zu müssen.

Mit jiddischen Erzählungen Verkaufszahlen und Profit zu machen und dabei den kulturellen Kontext zu verschweigen, ist fragwürdig. Dass Rezensent_innen die Vorgangsweise von Michael Köhlmeier und dem Carl Hanser Verlag nicht hinterfragen, ist bedenklich. Wirklich verstörend und schauerlich an seinen Märchen ist nur, dass die Irritation der weiß-christlichen, deutschen und österreichischen Leser_innenschaft auf dem Rücken von Minderheiten geschieht, die zu Fantasiegestalten stereotypisiert werden und ihre eigenen Geschichten nicht erzählen dürfen. Modern wollen sie sein, Köhlmeiers Märchen, aber das endet offensichtlich bei schnellen Autos, Radios und Parteitagen.