Mona El Khalaf

Eine pluralistische Bewegung

  • 07.12.2013, 18:25

Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.

Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.

Bereits seit Anfang Februar 2013 wird in Bulgarien protestiert. Während die Proteste im ärmsten EU-Mitgliedsstaat anlässlich der hohen Strom- und Heizkosten entflammten, wurden mit der Zeit auch Korruption und Vetternwirtschaft sowie Privatisierungen zu Themen der heftigen Anti-Regierungsproteste. Die konservative Regierung warf unter zunehmendem Druck der RegierungsgegnerInnen Ende Februar das Handtuch. Seit den Parlamentswahlen Ende Mai steht der parteilose Finanzexperte Plamen Orescharski an der Regierungsspitze und wird von den SozialistInnen und der türkischen Minderheitenpartei DPS gestützt. Die Proteste halten unvermindert an. Die Kritik gilt weiterhin neoliberalen Reformen und dem radikalen Abbau des Sozialstaates. Die Bevölkerung fordert einen grundlegenden Systemwechsel.

Auch der 27-jährige Bulgare Peter Dobrev sieht das so. Der Geschichtestudent ist seit mehreren Wochen an der Besetzung der Universität Sofia beteiligt.

progress: Peter, wie ist es zur Besetzung des Hauptgebäudes der Universität Sofia gekommen?
Peter Dobrev: Die Anti-Regierungsproteste in Bulgarien begannen schon im Februar, die Uni wurde erst im Oktober besetzt. Etwa 20 Leute haben den größten Hörsaal der Universität in Beschlag genommen. Zwei Tage später war beinahe das gesamte Hauptgebäude besetzt. Von da an waren täglich zwischen 200 und 300 Studierende da.

Wann hast du dich der Protestbewegung angeschlossen?
Ich wurde erstmals mit der Besetzung aktiv, weil mir diese Art des Protestes gefällt. Zuerst dachte ich, dass wieder nur Rücktrittsforderungen an die Regierung und die Verbreitung antikommunistischer Slogans im Vordergrund stehen werden. So war’s nämlich bei den Protesten im Sommer. Aber dann wurde ich durch die Herangehensweise der BesetzerInnen angenehm überrascht.

Was war neu an der Besetzung?
Die Besetzung und das Zusammenleben in der Uni haben uns stimuliert. Es hat sich ein wirklich intensives intellektuelles Leben entwickelt. Wir haben Arbeitsgruppen gegründet und uns mit Themen wie Armut, dem Gesundheitssystem, Immigration und Bildung auseinandergesetzt. Unsere Parteien reden über solche Themen nicht.

Welche Resultate haben die Arbeitsgruppen erzielt?
In der mittlerweile veröffentlichten Bildungserklärung geht es darum, dass wir eine Bildung wollen, die intellektuell unabhängige und kritische Personen hervorbringt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sollten wieder eine größere Rolle spielen und von staatlicher Seite mehr gefördert werden. Derzeit fließen die Gelder vor allem in Fächer in Zusammenhang mit Wirtschaft, die sich mit den neoliberalen Vorstellungen unserer Parteien decken. Unsere Bildung sollte aber auch unsere Zivilgesellschaft stärken. Zur Veröffentlichung der Erklärung zum Thema Gesundheit ist es leider nicht gekommen, obwohl sie schon sehr ausgereift war. Da haben MedizinstudentInnen und ProfessorInnen mitgearbeitet, also jene Leute, die die wirklichen Probleme in diesem Bereich kennen. Im Mittelpunkt stand die Forderung, dass Gesundheitsversorgung ein Recht und kein Privileg sein soll.

Die Soziologin Mariya Ivancheva beschrieb die BesetzerInnen als antikommunistisch, neoliberal, an sozialen Themen uninteressiert. Wie würdet ihr euch beschreiben?
Unter uns BesetzerInnen gab es eine große Vielfalt an Meinungen und Zielen. Einige waren neoliberal, andere antikommunistisch und andere wiederum links eingestellt. Ich würde insgesamt von einer sehr pluralistischen Bewegung sprechen. Zudem würde ich sagen, dass wir uns sehr viel mit sozialen Themen auseinandergesetzt haben. Wie sieht es derzeit mit der Uni-Besetzung aus? Nur noch ein einziger Hörsaal ist besetzt, die Besetzung naht ihrem Ende. Außerdem hat die Bewegung viel von ihrer intellektuellen Dynamik verloren. Die Luft ist draußen. Es geht jetzt vor allem um Aktionen beim Parlament.

Wodurch erklärst du dir diesen „Verlust der Intellektualität“?
Vielleicht waren zu viele heterogene Kräfte am Prozess beteiligt. Die eine Gruppe setzte auf intellektuelle Debatten. Die andere Gruppe hat sich auf den Rücktritt der Regierung und öffentliche Protestaktionen konzentriert – darunter auch die InitiatorInnen der Uni-Besetzung. Du kannst den Rücktritt aber nicht durch die Proteste auf der Straße erzwingen. Und selbst wenn die Regierung zurücktritt, würde das nichts ändern. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zur Veränderung darin, dass die neuen Denkanstöße der Besetzungsbewegung mit der Regierung verhandelt werden – aber auch das wird wohl so bald nicht passieren.

Bei den Protestaktionen vor dem Parlament kam es mitunter zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Demonstrierende wurden verhaftet und RegierungsgegnerInnen sollen von den Sicherheitsbehörden überwacht werden.
Das ist alles sehr problematisch. Vor allem das Überwachungsthema wird zurzeit viel diskutiert. Viele Studierende haben Angst überwacht zu werden. Die Regierung versucht mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben.

Wie geht es in den nächsten Wochen weiter?
Fest steht, dass die Zahl der Protestierenden auf der Straße von Tag zu Tag abnimmt. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Proteste im Jänner oder Februar wieder aufflammen – dann werden die alljährlichen Heiz- und Stromrechnungen fällig und die Leute spüren den Druck der Krise wieder.

Was nimmst du an Positivem aus den Protesten mit?
Wir haben eine neue Sprache entwickelt – fernab vom vorherrschenden Mainstream und dem neoliberalen Paradigma unserer politischen Parteien. Das war nicht nur sehr bereichernd, sondern tatsächlich etwas Neues.

Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und ist freie Journalistin.

Kongolesin oder Österreicherin? Ich bin beides!

  • 15.05.2014, 09:30

Sie ist Österreicherin und Kongolesin, Flüchtling und Angekommene, eines von zwölf Geschwistern und mit ihrer Geschichte trotzdem alleine. Mireille Ntwa sprach mit progress über Zugehörigkeitsgefühle und Generationenkonflikte.

Die umtriebige Mireille Ntwa trifft man vielerorts in Wien: An der Universität studiert sie Medizin, seit 2010 ist sie bei der Jungen Generation der SPÖ politisch aktiv. Für ihren Lebensunterhalt arbeitet sie im Bürgerservice des Bundeskanzleramtes und im Wiener Gürtelbräu, dessen Pforten sie an einem grauen Winterabend für progress aufsperrt.

Das Licht in dem holzvertäfelten Lokal ist schummrig, abgestandener Rauch vom Vortag liegt in der Luft. Blitzschnell richtet die 33-Jährige Gläser, Aschenbecher und Kerzen für die ersten Gäste her. Bevor Mireille den ersten Tisch bewirtet, hält sie zwischen den Bierzapfhähnen inne und sagt: „Lange Zeit hatte ich mit einer Identitätskrise zu kämpfen, bis ich zu dem Schluss kam, Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund zu sein.“ 

Innere Zerrissenheit. Mireille, mit vollem Namen Mireille Adiet Ntwa Ydjumbwiths, beginnt zu erzählen, dass sie jahrelang, während sie sich intensiv mit Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit beschäftigte, eine innere Zerrissenheit verspürte: Ist sie Kongolesin mit österreichischem Lebensmittelpunkt oder Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund? Muss sie gegenüber einem Land loyaler sein oder nicht? Muss sie sich für eine Gesellschaft und somit auch gegen die andere entscheiden oder lassen sich beide Lebenswelten irgendwie miteinander vereinbaren?

Auf der Suche nach Antworten stürzte Mireille zunächst in eine tiefe Krise. Versuche, sich konsequent mit einem aus ihrer Sicht typisch österreichischen FreundInnenkreis zu umgeben oder nur Kontakte mit anderen KongolesInnen beziehungsweise ÖsterreicherInnen mit kongolesischem Migrationshintergrund zu pflegen, halfen wenig bei ihrer Orientierung. Mireille sucht nach Worten: „Je mehr ich versucht habe zu einer Gruppe dazu zu gehören, desto weniger funktionierte das für mich. Erst als ich feststellte, dass ich beides bin, löste sich dieser innere Konflikt auf.“

Totgeschwiegen. Die Geschichte von Mireille nahm ihren Anfang am 16. August 1980, in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, damals Zaire genannt. Mireille wurde als Tochter zweier politischer Aktivisten in eine Diktatur geboren. Ihre Eltern stellten sich aus Überzeugung gegen Joseph-Désiré Mobutus Schreckensregime. Als die Behörden Mireilles Eltern bereits im ganzen Land suchten und Familienmitglieder zum Schutz  ihre Namen änderten, entschlossen sie sich zur Flucht. Die damals vierjährige Mireille hatten sie bereits mit Verwandten ins benachbarte Angola vorausgeschickt.

Dort angekommen, nahmen die Eltern ihre Tochter wieder in ihre Obhut. Monate harter Arbeit folgten, bis Mireilles Eltern das Geld für Flugtickets beisammen hatten. Sie wollten nach Europa, denn auch in Angola fühlten sie sich nicht sicher. In Europa gelandet, kam die dreiköpfige Familie erst nach längerem Hin und Her zwischen Italien, der Schweiz und Österreich zur Ruhe – als Österreich ihnen schließlich politisches Asyl gewährte. Das war 1984, das Jahr ihres Neuanfangs.

An die Monate der Flucht, der Angst und Ungewissheit kann sich Mireille heute kaum erinnern. Auch vom Wiedersehen mit ihren Eltern in Angola hat sie keine Bilder vor Augen. Dieses Kapitel ihrer eigenen Geschichte kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Details zur damaligen Situation in Zaire und der Fluchtgeschichte musste Mireille ihnen aus der Nase ziehen: „Sie haben nie von selbst darüber gesprochen. Am liebsten hätten sie das Thema totgeschwiegen.“

Ob die Eltern die Flucht miteinander in Gesprächen aufgearbeitet haben, weiß sie nicht. „Ich hörte sie jedenfalls nie darüber sprechen“, sagt sie nachdenklich. Sicher ist nur, dass Mireilles Vater unter dem Verlust seines Heimatlandes leidet. Er spielt nach wie vor mit dem Gedanken, seinen Lebensabend im Kongo zu verbringen. Bis heute ist Mireilles Vater ihrer Erzählung nach ein politischer Mensch geblieben: Aus Zaire wurde mit dem Sturz Mobutus 1997 die Demokratische Republik Kongo, ein Bürgerkrieg folgte. Noch immer kriselt es zwischen zahlreichen bewaffneten Gruppierungen im rohstoffreichen Osten des Landes. „Knallt es dort, leidet mein Vater mit“, sagt Mireille, der es ähnlich geht.

Multiple Zugehörigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen. Mireilles Großfamilie zu erfassen, ist kompliziert, aber wichtig, um die ganz unterschiedlichen Zugehörigkeitsgefühle innerhalb einer Familie nachzuvollziehen: Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Mireille 16 Jahre alt war und bereits drei jüngere Geschwister hatte. Beide heirateten erneut und die Familie Ntwa bekam weiteren  Zuwachs. Die Geschichte ihrer ersten zehn Lebensjahre teilt Mireille aber mit keinem ihrer elf Geschwister. Sie ist die einzige, die die Erfahrung der Flucht gemacht hat. Mireille ist mit einem Abstand von zehn Jahren die Älteste, sie war lange ein Einzelkind. Darin sieht Mireille auch eine mögliche Erklärung dafür, dass sie sich  bei ihrer Identitätssuche so alleine gefühlt hat. Mireilles jüngster Bruder ist sieben Jahre alt und hat mit seinen elf Geschwistern eine Reihe an Vorbildern, an die er sich bei Bedarf halten kann. Mireille fehlte eine derartige Orientierungshilfe, erklärt sie. Trotzdem schöpft sie Kraft aus dem engen Kontakt zu ihrer mittlerweile so großen Patchwork-Familie und findet darin Stabilität und Geborgenheit.  

Die Antworten, die die zahlreichen Geschwister auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit finden, klaffen weit auseinander: Drei von Mireilles Geschwistern sehen sich als SchweizerInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft: „Sie sehen das mit der Identität viel lockerer“, sagt Mireille. Die drei wuchsen gemeinsam in einer internationalen Schule in der Schweiz auf, umgeben von einer Vielzahl von Kindern mit Migrationshintergrund und unterschiedlichen Hautfarben, darunter auch SchülerInnen mit kongolesischen Wurzeln. Bräuchen und Traditionen aus dem Kongo wurde in der Kindheit und Jugend der drei ganz nebenbei Rechnung getragen. Ihre Schwester könne deshalb seit jeher etwa viel besser kongolesisch tanzen als sie, erklärt Mireille.  Sie selbst hingegen fühlte sich mit ihrer Migrationsgeschichte immer alleine: „In Österreich war ich mit meiner dunklen Haut oft die Einzige, zum Beispiel in meiner Schulklasse. Das war hier nichts Normales“, erzählt sie.

Woher kommst du wirklich? In Mireilles Erzählung hallt die Erfahrung vieler Kinder von MigrantInnen wider, die immer wieder mit der Frage konfrontiert werden: „Woher kommst du wirklich?“ Die Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace stellte diesbezüglich im Interview mit progress fest: „Wenn diese Frage, woher du ‚wirklich’ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, ‚hier’ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein drittes Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst“.

Mireilles fünf in Wien aufgewachsene Halbgeschwister, zwischen sieben und 17 Jahre alt, vermischten das Kongolesische und das Österreichische ohne Probleme, erzählt Mireille. Ihr soziales Umfeld ist vielfältig und reicht von den Wiener Sängerknaben über die katholisch-kongolesische Community in Wien bis hin zu bunt durchgemischten Freundeskreisen. Im Gegensatz zu ihrer ältesten Schwester sprechen sie perfekt Lingala, eine im Kongo weit verbreitete Sprache. Überhaupt wird dem Kongolesischen in der Erziehung ihrer Geschwister viel mehr Wert beigemessen, meint Mireille. Damit sind neben Essen und Musik auch soziale Netzwerke und bestimmte Wertvorstellungen gemeint. „Meine Eltern haben auf eine übertriebene Art versucht, mich österreichisch zu erziehen. Wir haben Sissi-Filme geschaut, denn sie hielten das für authentisch. Wir fuhren quer durch das ganze Land und erkundeten jeden Winkel, von Bregenz bis Eisenstadt. Lingala sprachen sie nur miteinander, mit mir bloß Deutsch und Französisch. Deshalb auch mein seltsamer Akzent, wenn ich Lingala spreche“, sagt sie.

Generationenkonflikte? Zurück an den Zapfhähnen der Bar antwortet Mireille auf die Frage, ob es in der Großfamilie auch Generationenkonflikte gäbe, wie aus der Pistole geschossen: „Das traditionelle Frauenbild meines Vaters. Seiner Ansicht nach muss eine ‚gute‘ Frau den Haushalt führen. Sie soll gut kongolesisch Kochen können.“ Figurbetonte, enge Kleidung akzeptiere ihr Vater, abendliches Ausgehen und Feiern sei in seinen Augen aber ein absolutes No-Go. Auch für erwachsene Frauen, auch wenn sie schon über 30 sind, erklärt Mireille. Ob er das gutheißt, wenn sie abends arbeitet oder ausgeht, tangiert sie heute aber wenig. „Aus meiner Sicht bin ich seiner Autorität entwachsen“, sagt sie. An Mireilles politischen Aktivitäten und ihrer Studienwahl findet ihr Vater Gefallen.

Ehe Mireille weitereilt, sagt sie noch etwas, das einen staunend zurücklässt. Sie wird bald heiraten. Und zwar, sie zögert kurz: einen Kongolesen, auch er ein angehender Mediziner. „Ich wollte eigentlich nie einen Kongolesen heiraten, und mein zukünftiger Mann dachte auch nicht im Traum daran, eine Kongolesin zur Frau zu nehmen“, sagt Mireille mit einem Lächeln im Gesicht. „Aber wir sind eine perfekte Ergänzung  für einander.“

Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und arbeitet als freie Journalistin.