Martina Burtscher

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  • 13.07.2012, 18:18

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Zur Vorgeschichte: Im November erschien in der Financial Times Deutschland ein viel beachteter Artikel. Das Ende unseres Währungssystems stehe bevor, der Währungskrieg sei bereits ausgebrochen, insinuierte der Text mit dem Titel „Die Geldrevolutionäre“. Für die Zeit nach dem Währungs-Supergau wird die Einführung des „freien Marktgeldes“ als Alternative präsentiert. Somit stehe es allen Menschen frei, ihr Geld selbst zu wählen, jederzeit Banken zu gründen und neue Währungen zu schaffen. Solche Meinungen werden nicht etwa von unbedeutenden Spinnern vertreten, sondern von Chefökonomen in Frankfurts Bankenfestungen. Die Ideen sind nicht neu, sie fußen auf der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Ein kleines, elitäres Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie weltweit zu verbreiten: Die Mont Pelerin Society (MPS), laut Sunday Times die einflussreichste Denkfabrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1947 wurde die „Denkerfamilie“, wie sich ihre Mitglieder nennen, vom Österreicher August von Hayek auf den Anhöhen um den Genfersee gegründet. Nach den staatlichen Interventionen während der Wirtschaftskrise schien die Lehre der MPS vollkommen diskreditiert, doch nun gewinnt sie wieder an Gewicht. Geht es doch jetzt um nichts weniger als um die Deutung der größten Finanzkrise der vergangenen Dekaden.

Herr Salin, glauben Sie, dass die Ökonomie eine wirkliche Wissenschaft ist?'

Ja. Es gibt zwei Denkschulen: Die eine sind die Keynesianer. Sie gehen von unrealistischen Annahmen aus. Die andere ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie, die auf die Österreicher Karl Menger, Ludwig Mises und Friedrich Hayek zurückgeht. Ich fühle mich dieser zweiten Schule zugehörig. Wir gehen von realistischen Annahmen aus und sehen den Menschen als rational handelndes Individuum.

Herr Plehwe, Pascal Salin unterteilt die Ökonomen in zwei Denkschulen, was sagen Sie dazu?
Es wurde immer versucht, die Ökonomie in die Nähe der harten Naturwissenschaften zu rücken, auch die Schaffung des quasi Nobelpreises für Ökonomie* der Schwedischen Reichsbank ist ein Schritt in diese Richtung. Wird die Ökonomie in nur zwei Denkrichtungen unterteilt, werden damit alle anderen wirtschaftspolitischen Sichtweisen ignoriert. Denken Sie etwa nur an die Marxisten oder die Institutionalisten.

Herr Salin, interpretieren Sie denn die Krise als Markt- oder als Staatsversagen?

Viele Leute behaupten, die Krise sei ein Beweis dafür, dass der Markt schlecht funktioniere und der Kapitalismus einen instabilen Charakter habe. Deshalb soll der Staat intervenieren. Ich sage das Gegenteil: Alle Ursachen der Krise resultieren immer aus staatlichen Interventionsversuchen. Märkte können nur ins Gleichgewicht kommen, wenn sich Staaten und Politiker raushalten. Dennoch wurde überall in die Wirtschaft eingegriffen. Das widerspricht sämtlichen Prinzipien der Österreichischen Schule. Alle Staaten haben Geld aufgenommen. Das ist der große Fehler der Keynesianer. Sie denken, der Staat muss in Zeiten der Krise die Wirtschaft ankurbeln. Damit provozieren wir doch nur die nächste Krise!

Herr Plehwe, Pascal Salin sagt, dass durch die Interventionspolitik der Staaten mehr Inflation entstehe und somit die nächste Krise bereits vor der Tür steht. Was sagen Sie dazu?

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie sagt: Der Staat kann nur zum Preis einer anderen Krise einen Transfer von fiktivem Geld machen. Deswegen argumentieren sie, dass man dann im konkreten Fall die irische oder die griechische Wirtschaft einfach zusammenbrechen lassen muss. Geldwertstabilität ist das höchste Primat der Österreichischen Schule. Jede Politik produziert Gewinner und Verlierer. Es gibt keine neutrale Politik. Die Geldwertstabilität nützt natürlich den Vermögensbesitzern. Die Logik der Österreichischen Geldtheorie ist somit eine Logik der Vermögensbesitzer. Zentralbanken sind politische Instrumente, die Einfluss auf die Geldwertstabilität haben. Deswegen spricht sich Salin genauso wie Hayek für die Abschaffung der Zentralbanken aus. Hayek hat zwei große Ideen propagiert: Eine beschränkte Demokratie à la Ständestaat und die Privatisierung der Zentralbanken.

Herr Salin, Sie haben viel über „Freie Banken“ geschrieben, ein Ideal von Banken fernab von staatlicher Regulation. Sind Sie immer noch Verfechter dieses Ideals?

Unsere Epoche ist von der Illusion geprägt, Geld produzieren zu können. Es ist nicht notwendig, ja es ist sogar gefährlich, mehr Geld zu schaffen. Banken sollten doch nur als Intermediäre im Wachstum der Wirtschaft existieren. Das Übel liegt nicht in den Aktienmärkten, sondern den Zentralbanken. Nur sie haben die Funktion, Geld zu schaffen. Wir leben in einer total unverantwortlichen Finanzwelt und zwar nicht weil die Banker und Manager unverantwortlich sind, sonder weil ihnen die Staaten dieses Verhalten suggerieren.

Sollte Geld wieder durch einen realen Wert gedeckt sein, wie früher zu Zeiten des Goldstandards?

Mit monetären Problemen wie diesen haben sich die Mitglieder der MPS sehr oft auseinandergesetzt. Dabei gab es immer einen gemeinsamen Nenner: wir sind gegen Inflation und gegen unlimitierte Macht der Zentralbanken. So war Milton Friedmann nicht prinzipiell gegen Zentralbanken, aber er wollte ihre Macht deutlich einschränken. Ökonomen um Hayek waren von der Idee freier Banken überzeugt und wollten die Zentralbanken abschaffen. Andere wünschen sich den Goldstandard zurück.

Herr Plehwe, Pascal Salin schlägt als Alternative zu Zentralbanken, „Freie Banken mit echten Kapitalisten“ vor. Ein wichtiger Bankier ging in einem Artikel in der Financial Times Deutschland sogar so weit, völlig beliebige Währungen zu propagieren: Gold, Silber, Kupfer und vielleicht ein paar Muscheln könnten unser Papiergeldsystem ersetzen?

Das sind Gedankenspielereien, mit denen sich Teile des neoliberalen Lagers beschäftigen. Die Angst der Vermögensbesitzer ist immer die gleiche: Ihr Vermögen nicht ausreichend sichern zu können. Das ist natürlich eine sehr beschränkte und naive Sicht.

Eine Art Dagobert Duck-Perspektive?

Genau, die wirtschaftspolitische Vorstellung der MPS ist eine Art Konflikt zwischen Dagobert Duck und den Panzerknackern.

Herr Salin, nun zu Europa: Wäre Griechenland pleite gegangen, wenn die europäischen Staaten nicht reagiert hätten?

Ein Staat kann nicht Pleite gehen. Auch hier wäre es wichtig zu sagen, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt eine Art Komplizenschaft unter den europäischen Regierenden. Die europäischen Länder haben beschlossen, die Verrücktheit von Staaten und Regierenden nicht durch Märkte kontrollieren zu lassen. Deshalb haben sie Griechenland aufgefangen, mit Geld, das jetzt in Ländern wie Deutschland, Frankreich und England für Investitionen fehlt. Das finde ich skandalös!

Aber Europa hängt doch monetär eng zusammen.

Ja, aber auch als es noch Nationalwährungen gegeben hat, wurde eine Art Plünderung betrieben. Zuerst wurden Budgetdefizite gemacht, dann wurde Geld geschaffen, um die Defizite abzudecken, danach hatten die Staaten Schwierigkeiten, die Schulden zurückzuzahlen. Deswegen werde Währung abgewertet. Das ist eine Beraubung an allen Individuen, die Geld besitzen. Ihr Geld verliert an Wert!

Ein paar Fragen zur MPS. Sie waren während der neunziger Jahre Präsident dieser Vereinigung. Die Sunday Times hat einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die MPS als den einflussreichsten Think Tank der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt. Das ist doch sehr erstaunlich, weil man kaum etwas davon hört.

Von uns werden Sie nirgends auf der Welt ein Büro oder eine Adresse finden. Sie können sich die MPS wie eine Denkerfamilie vorstellen. Hayek wollte ein Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikern gründen. Unter uns finden sich viele Direktoren von Think Tanks, auch sieben Nobelpreisträger zählen zu unserem Kreis. Wir sind das Herz des weltweiten Liberalismus.

Kennen Sie Assar Lindbeck**?

Ja, Assar Lindbeck ist ein guter Freund von mir.

Herr Plehwe, gibt es denn einen Zusammenhang zwischen den vielen Nobelpreisträgern der MPS und der eventuellen Ausrichtung dieses Wissenschaftspreises?

Inzwischen gibt es mit Vernon L. Smith acht Nobelpreisträger aus den Reihen der MPS. Die Ausrichtung des Preises und seine sehr starke Orientierung hin zu US-amerikanischen Preisträgern ist im Endeffekt ein wissenschaftspolitisches Instrument. Man kann dieses Nobelpreiskomitee nicht als neutrale Bewertungseinrichtung wissenschaftlicher Forschung sehen. Das Faszinierende am Nobelpreis der Ökonomie ist, dass sehr triviale Erkenntnisse mit einem Nobelpreis ausgezeichnet werden.

Herr Salin, wie viele Mitglieder hat die MPS eigentlich?

Wir haben 500 Mitglieder. Weltweit gibt es hunderte liberale Think Tanks, die von MPS-Mitgliedern gegründet wurden. Sie müssen verstehen, dass dies kein sichtbarer Einfluss ist. Diskretion ist uns sehr wichtig. Deshalb publizieren die Mitglieder der Gesellschaft niemals im Namen der Gesellschaft. Wir sind nur unseren Ideen treu, bezeichnen uns aber als unpolitisch. Unsere Epoche ist sehr politisch, aber wir trauen den Politikern nicht. Von Medien halten wir uns strikt fern.

Es gibt also hunderte Think Tanks, die entweder von Mitgliedern der MPS oder von Personen, die ihr nahestehen, gegründet wurden.

Ja, sicher. Ich denke dabei an das Institute of Economic Affairs in London. Dessen Gründer hat Hayek gefragt, wie er den Zustand seines Landes durch ein politisches Institut verbessern könne. Hayek hat ihm geraten, im Bereich der Konzepte und Ideen zu arbeiten, um politisches Terrain zu gewinnen. Dieses Institut hat die Politik von Margaret Thatcher maßgeblich beeinflusst.

Der amtierende MPS-Präsident Deepak Lal hat letztes Jahr in New York Keynesianer zu einem Treffen geladen. Intern soll das Treffen für Unstimmigkeiten gesorgt haben, waren Sie dabei?

Keynesianer? Sind Sie sich sicher, dass Sie von einem Treffen der MPS sprechen? Ach ja, ich erinnere mich, ich war auch in New York und wollte teilnehmen. Unglücklicherweise ist meine Mutter gerade am Tag davor verstorben.

Herr Plehwe, wie kann es dazu kommen, dass Keynesianer zu einem MPS-Treffen geladen werden?

Der aktuelle Präsident Deepak Lal wollte, ähnlich wie Hayek seinerzeit, in der großen Krise als Gemäßigter auftreten. MPS-intern gab es eine Auseinandersetzung zwischen gemäßigten Neoliberalen und Betonköpfen. Lal wurde auf dieser Konferenz von seinen Reihen als Keynesianer beschimpft, weil er bereit ist, an manchen Stellen intellektuell Zusammenhänge zu sehen, die viele seiner Leute nicht wahrhaben wollen. Ich denke, nach dem doppelten Scheitern der Hauptlehren der jüngsten Kapitalismusgeschichte – des Neoliberalismus und des Keynesianismus – gibt es einen dringenden Bedarf, die Karten offen auf den Tisch zu legen und neu zu mischen. Ich würde mir wünschen, dass Intellektuelle verschiedener Lager offener diskutieren würden.

Herr Salin, noch bevor die MPS gegründet wurde, gab es 1938 in Paris ein Kolloquium zu Ehren des Ökonomen Walter Lippmann. Fast alle der damals anwesenden Ökonomen waren auch 1947 bei der Gründung der MPS dabei. Stimmt es, dass von den Anwesenden des Kolloquiums der Terminus „Neoliberalismus“ geprägt wurde?

Über das Kolloquium reden wir viel, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir damals schon von Neoliberalismus gesprochen haben. Vielleicht schon, weil der Liberalismus durch die Krise von 1929 attackiert wurde. Auch diese Krise wurde schlecht interpretiert. Die dominierende Interpretation war, dass es sich um eine Krise des Kapitalismus handelt.

Herr Plehwe, hat die MPS den Begriff Neoliberalismus geschaffen?

Der Begriff wurde während des Kolloquiums zu Lippmanns Ehren, dem Vorläufer der MPS, geprägt. Dort wurde der Neoliberalismus zum ersten Mal in Abgrenzung zum traditionellen Liberalismus definiert.

Sehen sie die MPS wie Salin als „Herz des weltweiten Liberalismus“?

Dem würde ich zustimmen und hinzufügen, dass sie vor allem das Herz des weltweiten Neoliberalismus sind.

Warum betont Salin, dass sich die MPS stets im Hintergrund hält und dass ihnen Diskretion sehr wichtig ist?

Wissenschaftler der MPS wie Salin werden als Wissenschaftler gewissermaßen entwertet, wenn ihre Leistung in der Öffentlichkeit nicht als individuelle, sondern nur als Kollektivleistung eines Kampfverbandes für Intellektuelle und Think Tanks diskutiert wird.

Pascal Salin sagt, die MPS sei unpolitisch. Was sagen Sie dazu?

Die moderne westliche Demokratie geht seit US-Präsident Theodor Roosevelt davon aus, dass sich öffentliche Interessen am besten auf expertenbasierte, neutrale wissenschaftliche Beratung stützen sollen. Geht es nach dieser Theorie, leidet die Qualität der Politik, wenn Partikular-Interessen und Ideologien in die Politik kommen. Wenn sich nun ein großer Kreis von Neoliberalen zusammenschließt, um Wirtschafts-, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zu machen, und sich dann hinstellt und erklärt: Wir machen doch keine Politik. Also das spricht wirklich für sich.

Herr Salin, können Sie mir ein paar Namen von MPS-Mitgliedern in Österreich nennen?

Mir fallen die Namen gerade nicht ein.

Herr Plehwe, fallen Ihnen ein paar österreichische Mitglieder der MPS ein?

Da gibt es eine Menge: Erich Streissler vom Institut für Volkswirtschaft an der Universität Wien, die Generalsekretärin des Hayek-Instituts, Barbara Kolm-Lamprechter, Christoph Kraus von der Constantia Privatbank, Wilhelm Taucher und Heinrich Treichl vom International Institute of Austrian Economics, Albert H. Zlabinger, der Präsident des Carl Menger Instituts. Sie alle sind als Mitglieder der MPS bekannt.

* Der Wirtschaftnobelpreis wurde nicht von Alfred Nobel gestiftet, sondern wird erst seit dem Jahr 1969 von der schwedischen Reichsbank vergeben.

** Lindbeck ist ein schwedischer Wirtschaftswissenschaftler und war von 1980 bis 1994 Vorsitzender des Entscheidungskomitees zur Vergabe des Preises für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank.

Die Revolution beginnt jetzt

  • 13.07.2012, 18:18

Mahmood Salem (29) alias Sandmonkey bloggt und twittert seit Jahren gegen das Mubarak-Regime. Seinen Job hat er bei Ausbruch der Proteste gekündigt, um sich voll auf die Umwälzungen in Ägypten zu konzentrieren.

Mahmood Salem (29) alias Sandmonkey bloggt und twittert seit Jahren gegen das Mubarak-Regime. Seinen Job hat er bei Ausbruch der Proteste gekündigt, um sich voll auf die Umwälzungen in Ägypten zu konzentrieren.

PROGRESS: Am 25. Jänner, dem ersten Tag der Proteste, warst du am Tahrirplatz. Was waren deine Erwartungen?

SALEM: Einen Tag zuvor habe ich mich noch darüber lustig gemacht. Aber am 25. hatte ich frei, also marschierte ich mit. „Yalla – let's go play with the police”, das war mein letzter Tweet.

Gab es irgendwann einen Punkt, an dem für dich das Ende von Mubarak klar absehbar war?

Ja, das Interview mit Wael Ghonim (Internet-Aktivist und Google-Marketing-Direktor in Ägypten, Anm.). Zu Beginn der Proteste wurde er inhaftiert. Danach hat er ein Interview gegeben und Bilder von Toten im Internet gezeigt. Das war auch der Punkt, an dem die meisten Leute auf die Seite der Demonstranten übergelaufen sind.

Mubarak ist Geschichte, können sich die ÄgypterInnen nun beruhigt zurücklehnen?

Nein, auf keinen Fall. Den einfachen Teil haben wir hinter uns. Die wirkliche Revolution hat gerade erst begonnen. Jetzt müssen wir uns mit 30 Jahren institutioneller Korruption herumschlagen, eine neue Verfassung ausarbeiten und vieles mehr.

Immerhin es gibt schon einen Entwurf für die neue Verfassung.

Ja, aber wir können mit dem neuen Entwurf nichts anfangen. Damit wird nicht an der alten Machtelite gerüttelt und es können keine neuen Institutionen entstehen. Die Armee will Stabilität, das sollte man nicht mit Demokratie verwechseln.

Wie aktiv war die StudentInnenbewegung während der Proteste?

Gar nicht, viel aktiver waren die Mitglieder der jungen Muslimbrüder und Fußballfans. Die Hooligans kennen sich am besten mit Straßenschlachten aus.
 
In Europa hatten viele den Eindruck, dass die Muslimbrüder von den ganzen Ereignissen überrumpelt wurden?

Die jungen Muslimbrüder waren mit dabei auf den Straßen. Aber die alte Riege hat sich zunächst von den Protesten distanziert. Sie hatten Angst, nachher dafür beschuldigt zu werden.
 
Warum hat die Führungselite der Muslimbrüder mit dem Regime verhandelt?

Ex-Geheimdienstchef Omar Suleiman hat die Muslimbrüder zu Verhandlungen eingeladen. Darauf sind sie angesprungen, weil es ihnen Legitimität gibt. Seither gibt es einen Generationenkonflikt zwischen den Muslimbrüdern.

Gibt es in Ägypten noch eine Pro-Mubarak-Fraktion?

Ja, eine kleine, leise Minderheit. Sie waren schon immer korrupte Opportunisten und das bleiben sie auch. Aber diese Leute sind immer noch wichtig, sie haben viele Beziehungen und noch viel mehr Geld. Aber einige von ihnen sind auch bereits hinter Gittern.

Dem Militär gehört ein beträchtlicher Anteil der ägyptischen Wirtschaft. Man spricht von 20 Prozent. Was passiert mit den Militärbetrieben?

Das ist genauso wie mit den unter Terroristen-Verdacht stehenden internationalen Gefangenen, um die sich das ägyptische Militär für die USA „kümmert“. Was in den Händen des Militärs ist, wird nicht angerührt. Wir mögen das Militär nicht, aber die meisten Leute in Ägypten sehen es als stabilisierende Kraft.

Was war während den Demonstrationen in deiner Nachbarschaft los?

Ich lebe in Heliopolis, unweit vom Präsidentenpalast in Kairo. Das waren die schillerndsten Proteste überhaupt. Es waren wirklich alle Schichten vertreten.
 
In internationalen Medien war die Rede von tausenden Häftlingen, die vom alten Regime freigelassen wurden.

Ja, die Polizei ließ sie laufen. Viele der angeblichen Häftlinge waren Polizeiprovokateure. Ziel des Regimes war es, das Land in ein völliges Chaos zu stürzen. Die politische Landschaft hier ändert sich von Sekunde zu Sekunde. Unsere Aufgabe als Blogger ist es, Leute zu informieren. Wir haben ein gutes Netzwerk.

Während der letzten Tage haben Demonstrierende viele Gebäude der Staatssicherheit gestürmt.

Ja, ich war mit dabei. Wir haben nach Akten und politischen Häftlingen gesucht. Bevor der letzte Premier sein Amt verlassen hat, wurden dort viele Akten vernichtet. Wir haben Akten an den Militärkontrollen vorbeigeschmuggelt, weil wir dem Militär nicht trauen.

Warum traut ihr dem Militär nicht?

Die Armee hat ganz einfach nicht die Kapazität, zwei Aufgaben gleichzeitig zu übernehmen. Sie kann das Land entweder verteidigen oder verwalten. Aber nicht beides.

Das sind nicht gerade optimistische Aussichten für die Zukunft Ägyptens.

Ich glaube, es wird große Zusammenstöße zwischen verschiedenen politischen und religiösen Gruppierungen geben. Dieses Land hat die Bedeutung von Demokratie noch nicht verstanden.

Für August 2011 sind die ersten freien Präsidentschaftswahlen geplant. Ist das zu früh?

Kann sein. Im Moment konzentrieren sich die Leute auf berühmte Gesichter wie Amr Moussa, den ehemaligen Präsidenten der Arabischen Liga. Aber man sollte jemanden aufgrund seines Programms wählen und nicht, weil er berühmt ist.

Wäre nicht jetzt der beste Zeitpunkt, um Aufgaben in der neuen politischen Landschaft zu übernehmen?

Ja, vielleicht, aber ich will nicht an der Front von irgendeiner politischen Fraktion stehen. Jeder, der das jetzt macht, wird verheizt. Die Leute haben einfach zu viele Erwartungen an die nächste Regierung. Die intelligenten Leute warten. Politik ist wie ein Fußballspiel. Noch sind wir alle damit beschäftigt, ein neues Stadion aufzubauen. Aber bald müssen wir gegeneinander spielen, dann wird es wirklich interessant.

Ich werde zurückkehren

  • 13.07.2012, 18:18

Shirin Ebadi eröffnete mit ihrer Rede das diesjährige Forum Alpbach. Die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin spricht über ihre Arbeit, wegen der sie ihre Heimat verlassen musste, über europäische Firmen im Iran und die Stabilität des Regimes.

Shirin Ebadi eröffnete mit ihrer Rede das diesjährige Forum Alpbach. Die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin spricht über ihre Arbeit, wegen der sie ihre Heimat verlassen musste, über europäische Firmen im Iran und die Stabilität des Regimes.

Zur Person

Shirin Ebadi (1947), die erste Richterin in der Geschichte des Irans, hat 2003 den Friedensnobelpreis bekommen, der mittlerweile aus ihrem Schließfach in Oslo verschwunden ist. Nach der Revolution 1979 wurde sie gezwungen, ihr Amt niederzulegen – weil sie eine Frau ist. Seit dem Ende der 90er Jahre übernahm sie als Anwältin im Zuge einer Mordserie an Intellektuellen immer mehr Fälle von politischen AktivistInnen. 2005 wurde sie trotz internationalem Protest vor das iranische Revolutionsgericht geladen. Ihr Menschenrechtszentrum in Teheran wurde 2008 von der Regierung wegen „Propaganda gegen das Regime“ geschlossen, kurz darauf musste sie den Iran verlassen.

PROGRESS: Frau Ebadi, fühlen Sie sich in Europa sicher?

Ebadi: Wieso stellen Sie mir diese Frage?

Weil in der Vergangenheit auch in Europa immer wieder iranische AktivistInnen ermordet wurden, die als KritikerInnen der Regierung aufgetreten sind.

Ich denke nicht sehr viel an Gefahren. Wenn ich mich zu sehr darauf konzentrieren würde, könnte ich meine Arbeit nicht fortsetzen.

Könnten Sie in den Iran heimkehren?

Ich werde dann, wenn ich mich dazu entscheide, in den Iran zurückkehren. Niemand kann mich daran hindern! Aber aufgrund der starken Zensur im Iran will ich jetzt nicht zurück, meine Stimme würde dort nicht gehört werden. Mein Büro wurde geschlossen und mein persönliches Hab und Gut beschlagnahmt. Im Iran kann ich im Moment für mein Volk nicht viel tun. Unter
diesen Umständen bin ich in Europa viel besser aufgehoben.

Wann mussten Sie erkennen, dass ihre Arbeit im Iran keinen Sinn mehr macht?

Die Lage für Menschenrechtsaktivisten war im Iran nie einfach. Aber seit den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 ist sie fast unmöglich geworden.

Wie gestaltet sich Ihre politische Arbeit fern Ihrer Heimat?

Ich sehe meine Hauptaufgabe darin, Informationen zur Verfügung zu stellen. Ich möchte, dass die Weltöffentlichkeit weiß, unter welchen Umständen und Zuständen meine Landsleute im Iran leben. Ich nehme an Seminaren teil, schreibe Artikel und Bücher. Mein letztes Buch mit dem Titel Der goldene Käfig beginnt mit dem Zitat: „Wenn du das Unrecht nicht aus dem Weg
schaffen kannst, dann stell die Verursacher des Unrechts bloß.“

Haben Europa und die USA im Umgang mit dem Iran zu sehr auf das Atomprogramm geachtet und die Reformbewegung zu wenig unterstützt?

Europa und die USA haben sich bislang im Umgang mit dem Iran nur auf ihre eigene Sicherheit konzentriert. Dabei haben sie vergessen, dass im Iran Menschen getötet werden. Ich möchte, dass den Menschenrechten in meiner Heimat mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Was halten Sie von europäischen Firmen, die Geschäfte mit dem Iran machen?

Eine Reihe von europäischen Firmen unterstützt den iranischen Staat bei der Zensur und der Überwachung. Das bekannteste Beispiel ist Eutelsat. Ich denke, dass die EU solche Firmen unter Aufsicht stellen müsste. Nicht nur Staaten, sondern auch private Firmen müssen Menschenrechte beachten. Eutelsat hat ja nicht nur in den Iran Überwachungstechnik geliefert, sondern auch nach Russland.

Wie sehr stehen beim Umgang Europas mit dem Iran humanitäre Werte im Vordergrund und welche Rolle spielen im Vergleich dazu die Geschäftskontakte?

Beides spielt eine Rolle, aber die wirtschaftlichen Kontakte sind bei den Beziehungen zum Iran zweifellos sehr wichtig. Für die Menschenrechte sehe ich da leider nicht so viel Interesse. Wäre das anders, würden die Europäer ja etwas gegen die Geschäfte von Eutelsat und Nokia machen. Nokia hat dem Iran eine Software zur Verfügung gestellt, mit der Mobiltelefone und auch das Internet zensuriert und überwacht werden können. Lassen Sie mich Ihnen noch ein anderes Beispiel geben: Von allen europäischen Staaten ist es Deutschland, das den Iran am stärksten kritisiert. Die deutsche Bundeskanzlerin nimmt sich da kein Blatt vor den Mund. Gleichzeitig hat der Handel zwischen Iran und Deutschland im Jahr 2009 floriert und ist im Vergleich zu den Vorjahren stark gewachsen. Fast das Gleiche gilt leider auch für Österreich. Wenn es um Geschäfte geht, werden die Menschenrechte schnell vergessen.

Würden Sie die Firmen wie Eutelsat und Nokia für die Verletzung und den Tod von Oppositionellen verantwortlich machen?

Diese Ausdrucksweise gefällt mir nicht. Ich bevorzuge, einfach nur zu sagen, dass diese Firmen den Iran bei der Zensur unterstützen.

Wegen der repressiven Stimmung wird die Arbeit für NGOs im Iran immer schwieriger. Die EU unterstützt sie dennoch mit Geldern. Wie viel Sinn hat das?

Die Arbeit der NGOs ist schwierig wenn nicht sogar zur Unmöglichkeit geworden. Der iranische Staat hat mittlerweile aber selber welche ins Leben gerufen. Das sind staatliche Organisationen, die sich als nicht-staatliche tarnen. Und ich weiß, dass die EU diesen Organisationen Gelder gegeben hat, damit sie rechtliche Bildung und Beratung im Iran durchführen. Echte NGOs würden sich nie trauen, diese Gelder aus dem Ausland anzunehmen. Es wird ihnen ja ohnehin schon vorgeworfen, dass sie Spionage für ausländische Mächte betreiben. Jeder Euro, den die EU investiert, geht an diese „staatlichen“ Organisationen.
 
Wie stabil ist das Regime heute?

Es gibt zur Zeit keine Stabilität. Der Abstand zwischen Regierung und Volk wird täglich größer und die Unterstützer sind gespalten. Viele der früheren Sympathisanten sind heute Kritiker. Das System ist heute seit seinem Bestehen in seiner schwächsten Phase.

Wie viel Zeit geben Sie ihm noch, ehe es zerbricht?

Politische Angelegenheiten kann man nicht mit Zeit messen.

Wie gefährlich wäre ein Iran mit Atomwaffen für den Rest der Welt?

Für den Weltfrieden und die politische Sicherheit der Welt ist ein undemokratischer Staat noch gefährlicher als eine Atombombe. Frankreich und England haben auch Atombomben, ist das etwa eine Bedrohung für die Welt? Was ist aber mit Pakistan, fühlen wir uns dort etwa sicher? Vor dieser Bombe scheint auch niemand besonders große Angst zu haben.

Hat die Revolution von 1979 dem Iran auch etwas Positives gebracht?

Vor der Revolution war der Staat sehr abhängig, vor allem von den USA. Diese Abhängigkeit ist heute nicht mehr vorhanden. Das heißt aber nicht, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert hat.

Was sind denn die Konzepte und wer sind die TheoretikerInnen der Grünen Bewegung im Iran?

Das ist eine demokratische Bewegung, keine ideologische Bewegung. Sie besitzt nicht die Struktur einer politischen Bewegung oder einer Partei. Das heißt, es gibt da keine Spitze, die Entscheidungen trifft. Das ist eine horizontale Netzwerkbewegung. Mussavi (Ex-Ministerpräsident Mir-Hossein Mussavi, Anm.) und Karrubi (Mehdi Karroubi, hoher shiitischer Kleriker, Anm.) sind Teil dieser Bewegung und verstärken sie durch ihre Teilnahme. Sie sind  aber keinesfalls die Führer der Bewegung. Die Bewegung wird durch die Netzwerke koordiniert.

Gibt es VordenkerInnen, die jetzt brauchbar für die Grüne Bewegung sind?

Wie gesagt, das ist eine demokratische und keine ideologische Bewegung, die vor allem ein Ziel hat: Demokratie. Deshalb kann es in dieser Bewegung auch keine Vordenker und Masterminds geben. Denken Sie zum Beispiel an den letzten Marsch: Mussavi und Karrubi haben die Menschen dazu aufgefordert, nicht auf die Straße zu gehen, nachdem die Demonstration vom Regime nicht bewilligt wurde. An diesem Tag sind die Menschen aber trotzdem auf die Straßen gegangen, und der Staat hat von 150 Festnahmen berichtet. Alleine diese Berichterstattung, dass 150 Menschen festgenommen wurden, ist ein Beweis dafür, dass die Menschen trotzdem auf die Straßen gegangen sind. Es gibt keinen Vordenker, es gibt keine Führer, es sind die Menschen, die da am Werk sind. Und das macht die Bewegung stärker.

Wie kann eine Bewegung, die so aufgebaut ist, wie Sie das beschrieben haben, die Regierenden zu Eingeständnissen bewegen?

Eine friedliche Bewegung erlaubt keine Gewaltanwendung von Seiten der Regierung. Die Grüne Bewegung ist eigentlich gut verbunden, was die Kommunikation untereinander anbelangt. Per Internet können sie gut kommunizieren. Das ist der Unterschied zwischen einer Bewegung und einer politischen Partei. Eine Bewegung stirbt nicht ab, die hat Höhen und Tiefen, aber sterben tut sie nicht. Die Grüne Bewegung im Iran lässt sich mit der Bewegung der Farbigen in den USA vergleichen. Angefangen hat das in den USA mit Martin Luther King, aber nach Martin Luther Kings Tod, war die Bewegung nicht am Ende. Wer war dort der Führer? Alle Farbigen! Und wie lange hat die Bewegung gedauert? Bis Präsident Obama ins weiße Haus einzog. So wird das auch mit der Grünen Bewegung im Iran sein, vielleicht dauert das viele Jahre, aber sie werden siegreich sein – ohne Führer.

Haben Sie einen Rat für die jungen IranerInnen, die aufbegehren?

Die iranische Jugend weiß sehr gut, was sie zu tun hat. Sie soll ihren Kampf fortsetzen. Ich bin stolz auf die iranische Jugend.

Was bedeutet für Sie Freiheit?

Das heißt, seine Meinung frei äußern zu können, ohne Angst vor dem Gefängnis haben zu müssen. Und dass man bei den Wahlen jeden wählen kann und dass man so leben kann, wie man es selbst für richtig hält. Dass man frei wie ein Vogel leben kann (lacht).