Johannes Gress

Die Blume aus dem Gemeindebau

  • 18.06.2019, 15:26
Vor 100 Jahren wurde der erste Gemeindebau errichtet. Denn früher war alles besser. Das Gras grüner, Blumen rosiger und Mieten billiger. Oder auch nicht.

Mit etwas Verspätung aber nun doch hat also der lang ersehnte und ungleich länger vertagte Bau der U5 begonnen. Voraussichtlich 2024 soll der erste Strecken- abschnitt fertig sein, 2027 sind dann sowohl die U5 als auch die U2 vollumfänglich im Einsatz. Das mag zwar noch ein paar Jahre hin sein, aber bereits jetzt – fünf Jahre vor der Fertigstellung der ersten Station – können es manche kaum erwarten, bis die neuen Züge durch den Wiener Untergrund fahren. Investor_innen zum Beispiel. „In der Nähe der zukünftigen U5“ froh- lockt bereits heute so manches Hernalser Immobilien- Inserat. Auch im Wohnungsmarkt-Bericht 2018 der BUWOG spricht man dieser Tage in freudiger Erwar- tung von der neuen Anbindung. Denn dadurch „wird der Bezirk weiter aufgewertet“, was sich wiederum in der „Nachfrage widerspiegeln“ werde [1].

Größte soziale Hausverwaltung.

Mit Blick auf die Mietpreise mag das nichts Gutes ver- heißen, denn „Aufwertung“ ist ein Begriff, der eine gewisse Ambivalenz in sich trägt. Und dennoch nimmt Wien im europäischen Vergleich in Sachen Wohnpoli- tik nach wie vor eine Sonderrolle ein. Während in Zü- rich, München oder Berlin die Mieten durch die Decke gehen, siehts in Wien noch ganz passabel aus. Denn die Stadt hat am heiß umkämpften Wohnungsmarkt ein gewichtiges Argument: Sie ist Eigentümerin von 220.000 Wohnungen, verwaltet somit das Obdach von einer halben Million Wiener_innen und ist somit nach eigenen Angaben die „größte soziale Hausverwaltung Europas“. [2]

Genau 100 Jahre ist es her, als im Mai 1919 der Metz- leinsthaler Hof fertiggestellt wurde. Der Gemeindebau am Margaretengürtel 90 – 98 war der Erste seiner
Art – und sein Spatenstich zugleich Startschuss für ein staatliches Wohnbauprojekt gigantischen Ausmaßes. In knapp zehn Jahren stampfte die Stadt Wien 380 Gemeindebauten aus dem Boden, insgesamt 64.000 Wohnungen. Die sogenannte „Ringstraße des Prole- tariats“, eine Art trotziger Gegenentwurf zur bürger- lichen Ringstraße, wurde zum Zentrum für billigen Wohnraum der Arbeiter_innenschaft. Dort steht auch heute noch der Metzleinsthaler Hof. Etwas unschein- bar. Läuft man den Margaretengürtel entlang, erinnert lediglich ein kleines zweizeiliges Schild an das für die Stadt Wien eigentlich so bedeutende Gebäude.

Um 1900 leben in Wien mehr als zwei Millionen Menschen, 300.000 davon sind obdachlos. Als Reaktion auf die desaströsen Lebensumstände der weitgehend pauperisierten Arbeiter_innschaft – in Folge von Inflation und der verheerenden Versor- gungssituation nach dem 1. Weltkrieg - wagte man in Wien während der 1920er und 1930er Jahre ein „einzigartiges gesellschaftspolitisches Experiment“, wie es heute noch in der Ausstellung „Das Rote Wien“ heißt. Die Mieten der im Schnitt 42 Quad- ratmeter großen Wohnungen machten dabei nicht mehr als läppische vier Prozent des Familienein- kommens aus.

Besserstellung der Arbeiter_innenklasse.

Den Stein ins Rollen brachte die Ge- meinderatswahl im Mai 1919, an welcher erstmals auch Frauen teilnehmen durften. Die Sozialdemo- krat_innen hatten von nun an das Wiener Zep-

ter in der Hand, allen voran Neu-Bürgermeister Jakob Reumann. Da sich Wien nur kurz zuvor
vom politisch konservativ ausgerichteten Nieder- österreich abgespalten hatte und von nun an als eigenes Bundesland galt, „konnten hier damals Reformprojekte zugunsten einer Besserstellung der Arbeiterklasse in Angriff genommen werden, die

in anderen Städten Europas kaum auch nur vor- stellbar gewesen wären“, wie der Sozialphilosoph Axel Honneth in einer 2015 in Wien abgehaltenen Preisrede erläutert [3]. Mit Julius Tandler, Victor Adler, Otto Bauer und vielen anderen erhielten die Sozialdemokrat_innen zudem reichlich intellektu- ellen Input bei der Umsetzung ihres sehr pragma- tisch und undogmatisch angelegten „sozialistischen Experimentalismus“. Nicht eine Utopie, ein gesell- schaftlich zu erreichender Endzustand, sondern die „brachliegenden Chancen einer möglichst schnellen Besserstellung der arbeitenden Bevölkerung“ war handlungsanweisend für die Wiener Wohn- und Sozialpolitik, wie Honneth festhält.

Wer soll das bezahlen?

Auch hier war
die Antwort der Wiener Sozialist_innen so einfach wie undogmatisch: Ein stark progressives Steuer- system und eine Luxussteuer auf Nobelgüter. Als „monumentaler Superblock“, wie er damals hieß, ging auch der Döblinger Karl-Marx-Hof aus diesem Zusammenspiel von sprudelnden Steuereinnahmen und wohnpolitischem Ehrgeiz hervor. Ein Gebäude, das auch heute noch in ganz Europa als Vorbild für eine progressiv ausgerichtete Wohnpolitik gilt. In den 1.382 Wohnungen, die zwischen Oktober 1926 und Oktober 1930 errichtet wurden, fanden rund 5.000 Menschen Platz.

Genug der Nostalgie. In den vergangenen zehn Jahren sind die Preise für Mietwohnungen in Wien um 35 Prozent gestiegen. Wer 2008 Brutto und inklusive Betriebskosten noch 390 Euro für seine Bleibe zahlte, wird heute monatlich um mehr als 525 Euro erleichtert – für dasselbe Mietobjekt [4]. Die einstiegen „Arbeiter_innenviertel“ werden Haus um Haus durch Lofts veredelt, schicke Cafés und ein paar hippe Installationen tun das Übrige. „Grätzel- aufwertung“ schimpft sich das – und wertet damit samt öffentlichen Raum meist auch gleich noch den Mietpreis in die Höhe. Auch hier ist der Wert also ein ambivalenter.

Kein Wiener Alleinstellungsmerkmal.

In Berlin beispielsweise hat sich die Durch- schnittsmiete in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt [5]. Das ist mit ein Grund, warum in der Deutschen Hauptstadt gerade hitzig über Enteig- nungen von großen Immobilienfirmen gestritten wird. Und wiederum ein Grund, warum beispiels- weise die Bayerische FDP und die Bayerische AfD
– in präventiver Panik bzw. in panischer Prävention – vorsichtshalber schonmal „Dringlichkeitsanträge“ in den Landtag einbrachten, um entsprechende Paragrafen, die solche Enteignungen potentiell möglich machen, aus der Bayerischen Verfassung zu streichen. Die „Anwendung eines Instruments des Sozialismus” werde die „marktwirtschaftliche Ordnung nachhaltig schädigen“, wie es im Antrag heißt [6]. Man mag das komisch finden, aber es ver- anschaulicht sehr gut, worum diese Debatte kreist: Es geht primär darum, die „marktwirtschaftliche Ordnung“ in Takt zu halten. Von leistbarem Wohnen findet sich in den Anträgen kein Wort, zu sozialistisch.

Zurück nach Wien, in die „Hauptstadt des bezahlba- ren Wohnraums“, wie die ZEIT im März 2017 titelte [7]. 1.900.000 Bewohner_innen zählt die österreichi- sche Hauptstadt seit Anfang dieses Jahres. Im Jahr 2026 sollen es laut Statistik Austria wieder mehr als zwei Millionen sein, so wie bereits 110 Jahre zuvor [8]. Und diese Menschen brauchen Platz. Bezahlbaren Platz. Um es vorweg zu nehmen: Denselben Ehrgeiz wie vor 100 Jahren legt Stadt Wien aktuell nicht an den Tag. Auch wenn sie immer noch unter sozialde- mokratischer Regentschaft steht – „die Blume aus dem Gemeindebau“ der Wolfgang Ambros einst ein eigenes Lied widmete, wird in Zukunft deutlich um- kämpfter sein als in der Vergangenheit.

„Die Wiener Wohnbaupolitik ist die größte Förderung der Mittelschicht in der Stadt“, erklärte unlängst Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ). Aber was heißt das? Rund acht Euro zahlt man in Wien durch- schnittlich für einen Quadratmeter Wohnraum. Zum Vergleich: In München sind es 16 Euro pro Quadrat- meter. Ein Viertel aller Wohnung der österreichischen Hauptstadt sind in Besitz der Stadt, sind also Gemein- debauwohnungen, in denen Netto durchschnittlich nur 6,7 Euro pro Quadratmeter bezahlt werden müssen.[9]

Mit 2004 stellte Wien den Gemeindewohnungsbau ein, fördert Wohnbau seither jedoch mit rund 550 Millionen Euro jährlich [6]. Auch den Privatisie- rungen von öffentlichem Wohneigentum verwehrt man sich nach wie vor konsequent – was in vielen anderen europäischen Großstädten schon lange nicht mehr der Fall ist. Durch die bereits 2015 wäh- rend des Gemeinderatswahlkampfes angekündigte Initiative „Gemeindebau Neu“ sollen bis 2020 bis zu 4.000 neue Wohnungen entstehen, für 7,50 Euro pro Quadratmeter. Davon sind aktuell „3.700 neue Gemeindewohnungen in verschiedenen Projektpha- sen in Umsetzung“, wie ein Sprecher von Wohnbau- stadträtin auf Nachfrage Gaál mitteilt. „Im Herbst dieses Jahres” werden in der Fontanastraße im 10. Bezirk erstmals Menschen in den „Gemeindebau Neu“ einziehen.

Während andernorts von einer „Neoliberalisierung der Wohnungspolitik“ die Rede ist, trifft dies auf Wien nur zum Teil zu. Wohnraum, der im Zuge der Initiative „Gemeindebau Neu“ entstehen soll, kommt in der Tat unteren und mittleren Einkommensschich- ten zu Gute. Wenn Wien jedoch, wie laut Prognosen, bis 2030 um mehr als 150.000 Menschen wachsen soll, sind 4.000 neue Wohnung nicht mehr als „ein Tropfen auf den heißen Stein“, wie die beiden Wohn- politik-Expert_innen Lisa Vollmer und Justin Kadi analysieren [6]. Der Anteil gemeinnützigen Wohn- baus würde daher deutlich unter die bisherige 25 Prozent-Marke sinken. „Auch Wien ist keine Insel, an der globale Trends spurlos vorbeiziehen“, wie Gaáls Sprecher erklärt. In der Wohnbaustadtpolitik seien es vor allem „hohe Grundkosten“, die einer so ehrgeizi- gen Wohnpolitik wie einst im Wege stehen. Deshalb sollen zusätzlich zum „Gemeindebau Neu“ rund 7.000 neue Wohnungen pro Jahr entstehen, deren Bau von der Stadt gefördert wird.

Anspruch auf Gemeindebau.

Was ins Auge sticht, ist, wer überhaupt Anspruch auf eine Woh- nung im Gemeindebau hat. Nämlich nur jene, die be- reits seit mindestens zwei Jahren ihren Hauptwohn- sitz in Wien gemeldet haben. Das heißt, Anspruch auf vergünstigten Wohnraum, haben bevorzugt jene, die bereits anderweitig in Wien untergekommen sind. Für Student_innen kommt der Gemeindebau daher vor erst einmal nicht in Frage. Für Geflüchtete und Migrant_innen ebenso wenig; Gruppen also, die im Schnitt unterdurchschnittlich verdienen und über- durchschnittlich auf niedrige Mieten angewiesen sind. Nachgefragt im Wiener Magistrat für Wohnbau: „In Wien kann man nicht an der Adresse erkennen, wie viel jemand verdient. Diese starke soziale Durchmischung haben wir zu einem großen Stück dem sozialen Wohnbau zu verdanken, der zu einem schönen Teil des Charmes und Charakters unserer Stadt geworden ist“. Wie man diesen „Charme“ auch zukünftig bewahren will, bleibt ein Geheimnis.

Schwarz-Blau übernimmt Forderungen der Immobilienwirtschaft,

Was
den privaten Wohnmarkt anbelangt, ist die Lage noch einmal deutlich angespannter: Die Einführung befristeter Mietverträge sowie eine Flexibilisierung des Mietrechts machen Mietwohnungen vor allem für Investor_innen attraktiv – weniger für Mieter_innen [10]. Kein Wunder also, dass es vor allem private Miet- wohnungen waren, die in den vergangenen Jahren am meisten aufgewertet wurden. Mitverantwortlich zeichnen hier auch sogenannte Dauer-Ferienunter- künfte, am prominentesten vertreten durch Airbnb, die besonders lukrative Einkünfte in Aussicht stellen. Und ein Blick ins schwarz/türkis-blaue Regierungsprogramm verspricht ebenso nichts Gutes: Im puncto Wohnen ähneln die Inhalte des Regierungspapiers den Forderungen der „Österreichischen Verbandes der Immobilienwirtschaft“ (ÖVI) auffallend stark. Teilweise wurden die Forderungen des Lobbyverban- des, der sich selbst als „Stimme der Immobilienwirt- schaft“ sieht, sogar Wort für Wort übernommen [11].

Johannes Greß (24) studiert Politikwissenschaft im Master und lebt als freier Journalist in Wien

 

1 http://www.wohnungsmarktbericht.at/links/pdf/ BUWOG_WMB18_DE.pdf

2 https://www.wienerwohnen.at/100jahre.html
3 Nachzulesen bei: Honneth, Axel (2017): Die Idee

des Sozialismus, Suhrkamp: 169 – 180 4 https://www.statistik.at/wcm/idc/

idcplg?IdcService=GET_PDF_FILE&RevisionSelecti

onMethod=LatestReleased&dDocName=079261 5 https://www.tagesspiegel.de/berlin/ansteigende-

mietpreise-berliner-geben-46-prozent-des-einkommens-fuer-wohnen-aus/23070316.html
6 https://www.bayern.landtag.de/www/Elan-TextAblage_WP18/Drucksachen/Basisdrucksachen/0000001000/0000001396.pdf
7 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-03/wohnen-wien-preise-gentrifizierung-probleme
8 https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/demo- graphische_ prognosen/bevoelkerungsprognosen/ index.html

9 Statistik Austria
10 Vollmer, Lisa / Kaudi, Justin (2018): Wohnpolitik in der Krise des Neoliberalismus in Wien und Berlin: http://prokla.com/wp/wp-content/up- loads/2018/prokla191-vollmer-kadi.pdf

11 https://diepresse.com/home/wirtschaft/econo- mist/5401119/Wohnpolitik_SPOe-warnt-vor- Entwicklungen-wie-in-England

Europa kann mehr als nur Wirtschaftsunion!

  • 19.03.2019, 17:10
Von rechts bedroht, von links verschmäht, von den Brit_innen verlassen: Was hat diese EU ihren Bürger_innen eigentlich anzubieten?

Irgendwie, so ist man dieser Tage geneigt zu denken, läuft‘s nichts so ganz rund. Friede und Freiheit, Wohlstand und ein gutes Leben für alle; mit diesen Visionen ist das Staatengebilde namens Europäische Union einst an den Start gegangen. Nun ja, „wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, soll Franz Vranitzky einmal gesagt haben. Die EU krankt. An dem Verlust einer ihrer bedeutendsten Mitgliedstaaten – das Vereinigte Königreich. An einem Konflikt zwischen „Nord“ und „Süd“ und einem zwischen „West“ und „Ost“. Oder allgemeiner vielleicht an einer Art allumfassenden Orientierungslosigkeit: Wo wollen wir hin – und wie?

Zumindest dem äußeren Anschein nach ist man sich auf Seiten der Rechten und radikalen Rechten wei- testgehend einig: Eine Stärkung des Nationalstaates soll es sein. Zahlreiche Kompetenzen sollen von Brüssel in die jeweiligen Landeshauptstädte wandern, allen voran die Souveränität über die eigenen Außengrenzen. Die Fraktion der Nationalkonservativen und extremen Rechten innerhalb des Europäischen Parlaments, „Europa der Nationen und der Freiheit“ (ENF), darf sich berechtigte Hoffnungen machen, dass ihre Anliegen auf institutioneller Ebene demnächst mehr Gehör finden. Vom 23. bis zum 26. Mai sind 450 Millionen Europäer_innen zum 9. Mal aufgerufen, ein Europäisches Parlament zu wählen – das erste Mal ohne Brit_innen. Laut aktuellsten Umfragen (Jänner 2019) wird sich die Sitzanzahl der ENF im Mai fast verdoppeln.1 Von 1994 bis zur Wahl 2009 hatten nationalkonservative und rechtsextreme Kräfte im Europäischen Parlament beständig an Boden verloren.2 Seither schwingt das politische Pendel in die Gegenrichtung.

„Nationalist_innen aller Länder vereinigt euch!“

Im August 2018 hat sich der ehemalige Chefstratege Donald Trumps und Ex- Breitbart-Herausgeber Steve Bannon in Brüssel ein schmuckes Büro einrichten lassen. Das Ziel seiner Initiative „Die Bewegung“: Die Koordination und Organisation rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte innerhalb Europas. Oder kurz: die Zerstörung der EU, wie Bannon selbst in mehreren Interviews verlautbaren lies.3 Doch so einfach wie Bannon sich das offenbar vorstellt, ist die „Vereinigung der Nationalist_innen aller Länder“ wohl doch nicht. Bei genauerem Hinsehen ist die Harmonie innerhalb der europäischen Rechten eben doch nur eine scheinbare. Der Grundkonsens – mehr nationale Souveränität, weniger Migration – trägt eben im Namen, dass er sich nur schwierig mit anderen nationalen Interessen vereinbaren lässt. Bis auf die Niederlande und Italien stieß Bannon mit seiner „Bewegung“ bisher auf wenig positive Resonanz.

Inwieweit sich das Kräfteverhältnis tatsächlich nach rechts verschieben wird, ist derzeit schwer auszumachen. Fest steht, dass die „Mitte“, also die konservative EVP sowie die Sozialdemokrat_innen, im Mai wohl herbe Verluste einfahren werden. Wäre morgen EP-Wahl, konstatiert die konservative deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung „hätte eine Große Koalition aus EVP und Sozialdemokraten keine Mehrheit“.4 Und vielleicht liegt auch gerade hier der Hund begraben. Wie auch immer man zur EU stehen mag, es gibt wohl kaum jemanden, der_die von sich behaupten würde, für dieses Staatengebilde in seinem derzeitigen Zustand vollends zu „brennen“. Was ist der Kitt, der diese Union zusammenhält? Egal wie dieser aussehen mag, besonders attraktiv scheint er derzeit nicht zu sein: Läppische 42,6 Prozent der Wahlberechtigten fanden bei den letz- ten EP-Wahlen 2014 auch wirklich den Weg zur Urne. In Österreich waren es 45,4 Prozent, in der Slowakei gerade einmal 13 Prozent.

Das verwundert kaum, sind die Anreize zur Wahl zu gehen entsprechend gering. Eine „gemeinsame“ Union ist – trotz allen verlautbarten Ehrgeizes – bis dato noch nicht weit über einen gemeinsamen Binnenmarkt hinausgekommen. Was der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors schon 1992 prophezeite, gilt auch heute noch: „Niemand verliebt sich einen Binnenmarkt“.5 Das Europäische Parlament selbst genießt Kompetenzen, die weit unterhalb einer jeden anderen demokratischen Vertretung diesen Typs liegen; besitzt beispiels- weise kein Initiativrecht, mit welchem es eigene Gesetzesvorschläge einbringen könnte, oder keine entsprechenden Instrumente um die Exekutive wirklich in die Schranken weisen zu können.

Das Problem ist der Status quo.

Nach wie vor dürfen bei dieser europäischen Wahl nur nationale Listen gewählt werden. Ein entsprechen- der Antrag von Sozialdemokrat_innen, Grünen und Liberalen wurde noch im Februar 2018 abgelehnt.6 Vor allem die konservative EVP-Fraktion wehrte sich vehement gegen eine entsprechende Änderung des Wahlrechts. Vielleicht hat Jürgen Klute, bis 2014 Mitglied des EU-Parlaments, Recht, wenn er meint, dass „die im Erscheinungsbild zunächst weniger radikal rechten Bestrebungen im Blick auf die weitere Entwicklung der EU das größere Problem zu sein scheinen“. Vielleicht ist nicht der prognostizierte Rechtsruck die Gefahr, sondern genau der status quo. Oder anders gefragt: Wie ist diese Union zu dem geworden, was sie gerade ist?

Über den Status einer Wirtschaftsunion ist dieses Staatengebilde bis heute kaum hinausgekommen. Gemeinsame sozialpolitische Standards, einen europäischen Mindestlohn oder eine tatsächliche demokratische Vertretung – eine explizit politische Union sucht man bis heute vergeblich. Auch innerhalb der Linken, auch innerhalb der GUE/NGL-Fraktion, gibt es daher zahlreiche Stimmen, die einen dezidiert antieuropäischen Ton anschlagen.

„Ohnehin“, so erklärt die Europaexpertin Ulrike Guérot in einem Interview, „haben wir das Links-Rechts- Schema ersetzt durch die Frage: ‚Wie hältst du’s mit Europa?‘“.7 Der Graben verlaufe demnach nicht zwischen dezidiert „linken“ und „rechten“ Kräften, sondern zwischen jenen, die mehr Europa fordern und jenen, die mehr Nationalstaat wollen. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung am Brexit skizzieren: Die Konfliktlinie um den EU-Austritt verläuft nicht etwa zwischen Tories und Labour, sondern eine jede der Parteien ist in sich gespalten zwischen „leave“ und „remain“.

Mit Blick auf die Europawahl im Mai stellt das die europäische Linke vor gewisse Herausforderungen: Wie kann diesen diversen im Aufwind begrif- fenen nationalistischen Strömungen begegnet werden? Mit einer Union, die gemeinhin als „unreformierbar“ gilt, als undemokratisches wie technokratisches Dickicht und Walhalla der Lobbyist_innen – und die es nach Ansicht einiger Linken auch gar nicht wert ist zu reformieren? Auf den Nenner gebracht, könnte man wohl fragen: Wie kann ein linker Entwurf für Europa aussehen?

Europa? Hauptsache anders.

Zumindest – und das ist durchaus positiv – gibt es derzeit einige Vorschläge. Auch wenn diese nicht immer besonders wohlwollend klingen mögen. Auf die Herausforderungen der Neoliberalisierung der letzten Jahrzehnte sowie soziale und ökologische Krisen habe „die heutige EU und die drei sie beherrschenden Parteien, die Konservativen, die Sozialdemokratie und die Liberalen“ keine adäquaten Antworten mehr, erklärt etwa Florian Birngruber, Sprecher der KPÖ. Entgegen dem Rechtsruck, der Militarisierung und einer Politik der Abschottung will man als KPÖ, die als Teil der Europäischen Linken ins EU- Parlament einziehen will, „soziale und ökologische Menschheitsfragen in den Mittelpunkt“ stellen. Hierfür fordere man „nicht weniger als einen Neustart auf Grundlage eines neuen, demokratischen Vertragswerkes“.

Deutlich optimistischer, der EU deutlich wohlgesinnter ist man da bei der transeuropäischen Bürger_innen-initiative „Pulse of Europe“. Sonntagnachmittag kurz vor 14 Uhr werden hier vor der Karlskirche EU-Fahnen geschwenkt, EU-Luftballons aufgeblasen, Flyer verteilt und diskutiert – um den „echten europäischen Geist“ wiederaufleben zu lassen, wie Sprecherin Elisabeth Rödler erklärt. Als überparteiliche Initiative will man sich auf keinen wirklich klaren politischen Kurs festlegen – was zählt ist „mehr Europa!“. Wie dieses Europa denn aussehen soll? Genau das wolle man „zur Debatte stellen“, wie Rödler erklärt. Als eine der Kernforderungen von „Pulse of Europe“ gilt daher, im Mai 2019 deutlich mehr Menschen an die Urne zu bringen als noch im Jahr 2014, um den Menschen zu zeigen: „Europa geht mich auch was an!“.

Als „Europas erste transnationale Partei“ geht das um DieM25 herum- organisierte Wahlbündnis „European Spring“ an den Start. Zwar hat sich auch dieses, wie jede andere Liste, an das europäische Wahlrecht zu halten, doch versucht man es hier durch die transnationale Hintertür: Jede der insgesamt acht nationalen Listen ist mit internationalen Kandidat_innen besetzt. So kandidiert beispielsweise auf Platz 1 der deutschen Liste der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Hinter ihm folgt die in Wien lebende Daniela Platsch. Da es keine entsprechende österreichische Liste gibt, buhlt sie gemeinsam mit ih- rem Team vom „Wandel“ vor allem um die Gunst der deutschen Wähler_innenschaft. Oder wie es auf einem ihrer Plakate heißt: „Piefke, Europa braucht dich!“.

„Bei der EU-Wahl im Mai“, so erklärt die auf Platz 2 gelistete Platsch, „haben wir endlich die Chance, ein tatsächlich grenzübergreifendes Demokratieprojekt ins EU-Parlament zu bringen“. Die Vision des European Spring, „ein neuer Deal für Europa“, trägt man entsprechend selbstbewusst vor sich her, denn diese sei „mit Sicherheit mehrheitsfähig“. „So eingerostet wie die etablierten Parteien denkt ja heute kein Mensch mehr“, findet Platsch. Aber aus der „Sackgasse der etablierten Politik“ komme man eben nicht von alleine raus. Was zählt sei, dass „wir unseren Hintern hochkriegen und uns über alle Grenzen hinweg organisieren“.

Eine Vision, eine Utopie für Europa!

Den „Etablierten“ gegenüber ähnlich konfrontativ gestimmt ist man auch bei den österreichischen Grünen, die mit Werner Kogler als Spitzenkandidaten in den Ring steigen. Man wolle, so Kogler, „Europa gegen die alten Nationalisten und die neuen Rechtsextremen verteidigen“ und stellt sogleich klar: „Jede Stimme für Türkis ist eine nicht-europäische Stimme“. „Ernsthafter Umwelt-, Natur- und Klimaschutz“, erklärt der Bundessprecher der Grünen, sei eine „Überlebensfrage, die nur gesamteuropäisch angegangen werden kann“. Dementsprechend setze man sich für ein „ökologisch nachhaltiges und sozial gerechtes Europa“ ein. So präsent und laut die Forderung der Nationalist_innen nach einem Europa der Nationalstaaten auch sein mag: Es gibt durchaus linke, progressive Alternativen, die eigene, konstruktive Entwürfe hervorbringen. Ihnen allen gemein ist die Forderung nach einer politischen Union, einem Europa, das mehr ist als ein Konglomerat verschiedenster nationaler Interessen, das nicht nur für Konzerne, sondern auch für seine Bürger_innen ein offenes Ohr hat. Ihnen zu Grunde liegt die Idee, dass die EU ihre Zukunft im Transnationalen zu suchen hat, dass ein solches Staatengebilde ihre Politik auf die europäische Ebene verlagern muss – insbesondere in Zeiten, in denen die Wirtschaft die nationale Ebene schon längst verlassen hat. Vielleicht braucht es mehr als nur die eingangs erwähnte europäische Vision. Vielleicht braucht es – wenn man das so nennen will – eine Utopie.

Johannes Greß studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

1 https://www.foederalist.eu/p/europa- wahl-umfragen.html

2 https://die-zukunft.eu/der-rechtsdrall-in- europa-und-die-gegenbewegungen

3 https://www.nzz.ch/international/wer- hat-angst-vor-steve-bannon-ld.1449491

4 https://www.kas.de/einzeltitel/-/content/ evp-parteienbarometer-oktober-november-2018

5 https://www.nzz.ch/articlef-0pt6-1.132729

6 https://diepresse.com/home/ausland/ eu/5367849/Keine-grenzenlose-Europawahl

7 https://die-zukunft.eu/wir-haben-das-rechts-links-schema-ersetzt-durch-die- frage-wie-haeltst-dus-mit-europa