Elena Barta

Nervende Fragen

  • 30.09.2012, 21:35

Jolly: Ein Portrait.

Jolly: Ein Portrait.

Studium, Politik und Rugby: So sieht Jollys Alltag in Jena aus, wo er_sie Materialwissenschaften studiert, aber nie besonders lange bleibt. Gerade von einem internationalen Bildungsseminar wiedergekommen, packt Jolly bereits die Koffer für eine Reise nach Bulgarien und ein anstehendes politisches Sommer-Camp. Antifaschismus und Ökologie sind der_dem 20-Jährige_n in seinem_ihrem sozialistisch geprägten politischen Engagement besonders wichtig. Und in letzter Zeit sind vor allem Fragen rund um  Geschlecht, Sexualität und Transgender hinzugekommen. Diesbezüglich versucht Jolly, seine_ihre Mitmenschen zum Nach- und Umdenken zu animieren. An der Uni gestaltet sich das allerdings oft schwierig: Zwar sind für Jolly Gespräche mit Kommiliton_innen
zu Geschlechterrollen oder Sexismus wichtig, Transgender-Themen spricht er_sie jedoch erst spät oder gar nicht an – auch, um sich nicht durch ein Outing angreifbar zu machen. Denn Outings bedeuten für Jolly oft anstrengende Fragen nach dem „echten“ Namen und dem „echten“ Geschlecht sowie nach einer vermeintlichen medizinischen Geschichte oder Hormonbehandlungen. Auch in seiner_ihrer eigenen Familie ist Jollys Name Thema: Während seine_ihre Mutter gerne die „Ausnahme“ sein möchte, beharrt Jolly auf seinem_ihrem Wunsch, auch von ihr mit der gewählten Identität anerkannt zu werden. Beharrlichkeit und Motivation sind jene Eigenschaften, die einem entgegenspringen, wenn Jolly in einem unglaublichen Tempo von seinen_ihren Outings, zuerst als Lesbe, dann als Trans*Person spricht. Dass Jolly, obwohl er_sie gerade erst angefangen hat zu studieren, mitten im Leben steht, wird spätestens dann klar, wenn er_sie über die positiven Momente von Coming-Outs spricht, in denen seine_ihre eigene Identität von anderen so wahrgenommen wird, wie er_sie sich selbst wahrnimmt.

Trans*-Sein spielt für ihn_sie auf vielen Ebenen eine Rolle: Jolly würde formal-rechtliche Dinge wie seinen_ ihren Namen oder die Geschlechtseintragung in Dokumenten zwar ändern wollen, aber nur, wenn dies nicht mit bürokratischen Hürden, medizinischen Untersuchungen oder Psychotherapien verbunden wäre. Die eigene Trans-Identität ist für Jolly auch politisch ein Faktor. Obwohl er_sie sich nicht nur mit Trans-Bildungsarbeit und Trans-Politiken beschäftigen möchte, versucht er_sie Menschen zu  sensibilisieren – einerseits im Sinne einer Verbesserung seiner_ihrer eigenen Situation und andererseits damit Menschen, die nach ihm_ihr Politik machen und sich als Trans* identifizieren, nicht vor den gleichen Hürden stehen.

Zwischen Stadt und Land

  • 30.09.2012, 21:28

Jackie: Ein Portrait.

Jackie: Ein Portrait.

Nicht „damit“ hausieren gehen – diesen Umgang mit ihrer*seiner Trans*identität wünschte sich Jackies Mutter. Jackie hat diesen Wunsch erfüllt, um ihrer*seiner Mutter die Reaktionen im dörflichen Heimatort zu ersparen. In Wien ist das allerdings anders: Hier engagiert sich Jackie bei öffentlichen Projekten und bewegt sich in mehreren akademischen Feldern. Angefangen hat die*der  29Jährige mit Informatik, um nach und nach zu bemerken, dass sie*er sich für Querschnittsmaterien wie Gender Studies und Wissenschaftstheorie interessiert. Heute absolviert Jackie das Masterstudium „Science-Technology-Society“ und weiß, dass es genau dieses hin und her zwischen Fächern und Materien ist, das sie*ihn so reizt. Dabei ist Jackie keine sprunghafte, sondern eine bedachte Person, die die eigene Wandelbarkeit im akademischen Sinne als hybrid benennt. Hybridität, verstanden als Vermischungvon als getrennt wahrgenommenen Sphären, ist ein Begriff, der Jackies Erzählungen auch in Hinblick auf geschlechtliche Identitäten dominiert. Überlegt ist ihr*sein Umgang mit Worten, denn die Frage nach Identifikationen und Coming-Outs ist komplex. Jackie hat sich lange Zeit als Transgender identifiziert und benutzt diesen Begriff auch heute noch als Überkategorie, in der sie*er sich nicht festlegen muss und die daher in allen Bereichen „passt“. Der Begriff transsexuell, der für Jackie eine viel konkretere Identifikation bedeutet, ist einer, den sie*er nicht immer benutzt und benutzen kann. In manchen  Momenten sehnt sich Jackie nach dem identitär sicheren Hafen „Frau“, in dem ihre* Identifikation nicht ständige Irritation hervorrufen würde.

Dass Irritationen gerade im akademischen Umfeld nicht diskutiert werden, führt Jackie, die*der lieber eine zurückhaltende und beobachtende Position einnimmt, darauf zurück, dass sie*er sich nie sicher sein kann, wie sie*er von anderen wahrgenommen wird. Ihre*seine Zurückhaltung bedeutet aber nicht, dass Jackie sich vor Gesprächen scheut. Sowohl in der Begegnung mit  Informatikkolleg_innen, die ihre*seine lila Fingernägel kommentieren, als auch bei der Beschreibung ihrer*seiner MasterArbeit stellt Jackie fast mühelos neue Beziehungen zwischen kaum miteinander in Verbindung stehenden Themenfeldern her.

E-Wissen und der Hype um neue Medien

  • 13.07.2012, 18:18

Erstellung neuer Online-Lernplattformen, Lehrveranstaltungen, die neue Medien nutzen, und prozessorientierte Blogs, die unter WissenschafterInnen immer mehr an Beliebtheit gewinnen. Sind neue Medien die richtigen Tools, um Wissen offener zu machen?

Erstellung neuer Online-Lernplattformen, Lehrveranstaltungen, die neue Medien nutzen, und prozessorientierte Blogs, die unter WissenschafterInnen immer mehr an Beliebtheit gewinnen. Sind neue Medien die richtigen Tools, um Wissen offener zu machen?

Seit der Entdeckung der Web 2.0 Tools für die universitäre Lehre wurden diese mit allerlei Heilsversprechungen belegt: Während Rektorate in Online-Lehrveranstaltungen eine gelungene Möglichkeit sehen Kosten einzusparen, da Vorlesungen nicht mehr für 1.000 Leute, sondern dank Videoscreening für mehrere tausend Studierende möglich sind. Andere Stimmen sehen im WWW die Möglichkeit, einen neuen Zugang zu Wissen zu schaffen, WissenskonsumentInnen zu WissensproduzentInnen zu machen. In einem ersten Schritt wird die Diskrepanz zwischen universitärem und digitalem Wissensbegriff anhand des Umgangs mit Wikis aufgezeigt, anschließend sollen die Möglichkeiten digitaler Medien als wissenschaftliche Tools angesprochen werden, um dann die Frage der sozialen Selektivität neuer Medien zu stellen. 

Universitärer Wissensbegriff. Neue Medien sollen die universitäre Lehre stützen und zur Wissensproduktion beitragen. Der universitäre Wissensbegriff unterscheidet sich aber in einigen Kriterien stark vom Wissensbegriff, welchen neue Medien innehaben. Universitäres Wissen funktioniert auf mehren Ebenen elitär. Einerseits erfolgt Wissensweitergabe in sehr beschränkten Räumen: Studierende erhalten Wissen vor allem aus den Lehrveranstaltungen ihrer eigenen Studienrichtungen und den Texten und Inhalten, die Lehrende zur Verfügung stellen. Vernetzung und Interdisziplinarität mit anderen Studienrichtungen ist auf der Ebene des Studiums wohl das am meisten gesagte, aber am wenigsten umgesetzte Wort. Ähnlich steht es mit der Vernetzung innerhalb einer Studienrichtung: Studierende sind selten abseits ihrer Lehrveranstaltungen miteinander vernetzt, eine Weitergabe von Wissen von einer Lehrveranstaltung zur anderen funktioniert dementsprechend nur in den Köpfen der einzelnen Studierenden.
Wissen wird also linear von Lehrenden an Studierende weitergegeben, ohne den Anspruch einer Transformation von Wissen. Die Veränderung und gemeinsame Erarbeitung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen würde dazu führen, eine prozesshafte Wissensbildung auch auf die Ebene der Studierenden zu holen und eine Weitergabe von Studierenden an Lehrende zu ermöglichen.
Die dritte Ebene eines elitär gehaltenen Wissensbegriffs betrifft die Art der Wissensproduktion. Universitäres Forschen beginnt oft erst mit der Erlangung eines akademischen Titels und kann, durch Hürden wie der prekären Anstellung junger WissenschafterInnen, erst in einem sehr elitären Kreis von Personen zufriedenstellend passieren. Kritische WissenschafterInnen versuchen mit unterschiedlichsten Ansätzen, diesen elitären Wissenszugang zu durchbrechen, und benutzen dabei immer öfter Medien, die sich einem anderen Wissensbegriff verschreiben. 

Der Versuch Wikipedia. Als Beispiel gilt dabei Wikipedia, angefangen von der bekannten Enzyklopädie über Werkzeuge wie die Wiki Research Bibliography bis hin zu der Nutzung der Wiki-Software für Lehrveranstaltungen.
Wikipedia ist momentan das meist genutzte Online-Nachschlagewerk und ist gerade wegen seiner Grundsätze, der Organisation aber vor allem der Produktion von Wissen besonders. Die Produktion von Wissen funktioniert kollektiv: In einem ersten Schritt haben alle BenutzerInnen die Möglichkeit, Artikel zu verfassen, zu ergänzen oder zu verändern. Das führt dazu, dass bei Wikipedia Artikel in kürzester Zeit von mehreren, teils anonymen AutorInnen verfasst werden. Die Artikel befinden sich in einem ständigen Prozess, in dem AutorInnen sich über eine eigene Diskussionsseite über Inhalte streiten bis ein Artikel so geschrieben ist, dass ihm möglichst viele AutorInnen zustimmen können. Das so produzierte Wissen steht unter einer freien Lizenz, kann also von anderen beliebig verändert und auch kommerziell verbreitet werden, sofern sie ebenfalls unter den Lizenzen veröffentlicht werden.
Die Weitergabe und Veränderung von Wissen wird einer breiteren Basis geöffnet und funktioniert fließend. Trotz dieser breiteren Basis bewegt sich aber auch die Wikipedia-Familie gerade in der Wissensproduktion in einem kleineren Kreis an Menschen als die Grundsätze vermuten lassen würden. Die Sozial-Struktur der WikipedianerInnen zeigt, dass über 80 Prozent der WissensproduzentInnen männlich sind und dass die Hälfte der Artikel von nur 2,5 Prozent der NutzerInnen geschrieben werden. Durch die Bekanntheit der Wiki-Tools in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten trägt Wikipedia, trotz der eigenen Probleme, dazu bei, den gesellschaftlichen Wissensbegriff zu verändern und Wissen als kollektives und vor allem veränderbares Gut darzustellen.
Der Einsatz von Wikipedia-Tools innerhalb der Universitäten lässt sich in zwei Gruppen einteilen. Einerseits entbrennen immer wieder Diskussionen um die Verwendung von Wikipedia als Quelle für wissenschaftliche Arbeiten, andererseits nutzen Lehrveranstaltungen Wiki-Software, um Lehrveranstaltungsergebnisse zu sichern sowie Studierende dazu anzuhalten, eigene Texte über Hypertext miteinander zu vernetzen. Diese spezielle Form der Ergebnissicherung ist aber bisher nur in Lehrveranstaltungen, die sich explizit mit der Nutzung neuer Medien beschäftigen, angelangt. Das Gerücht der Unwissenschaftlichkeit von kollektiv produziertem Wissen erweist sich als hartnäckig – die wissenschaftliche Nutzung anderer Medien wie Weblogs hat sich meines Erachtens im universitären Zusammenhang als weniger schwierig erwiesen. 

Weblogs und Wissenschaft? Hochschulliteratur im klassischen Sinne, wie es Seminararbeiten, Essays oder Exzerpte sind, sind stark formalisiert und orientieren sich neben dem oben beschriebenen elitären auch an einem sehr abgeschlossenen und formalisierten Wissensanspruch. Die Autorin oder der Autor sollte möglichst alles über das Thema gelesen haben und im Text keine Wissenslücken zeigen. Formalisierung geschieht über standardisierte und normierte Sprachwahl. Studierende wie Lehrende, die sich den sprachlichen Nuancen nicht anpassen, werden im wissenschaftlichen Diskurs nicht ernstgenommen. Ähnlich geht es auch Menschen, die sich nicht an die gängige Schreibweise halten oder mit Sprache experimentieren und statt dem Binnen-I Sternchen (*) oder Unterstriche (_) verwenden.
Das StudentInnen aus bildungsfernen Schichten diese festgelegten Sprachnormen erst mühsam erlernen müssen und hierbei von der Universität nicht unterstützt werden, passt in die sozial selektive Praxis der Universitäten – wer sich nicht schnellstmöglich anpasst kann nie zur wissenschaftlichen Elite gehören.
Im Gegensatz zu universitären Texten senken genau diese formalen Eigenschaften eines Webblog-Eintrags die Hürde zur Veröffentlichung eigener Texte für AutorInnen, egal ob StudentInnen oder nicht. Beim Klicken durch die momentan existierenden Blogs zu klassisch wissenschaftlichen Themen fällt vor allem eines auf: Es werden Wissenslücken zugegeben und Forschungsfragen gestellt. Die AutorInnen beziehen sich nicht nur auf die fünf Standardwerke der Fachrichtung, sondern vernetzen sich über Links im Text zu anderen wissenschaftlichen wie auch nicht-wissenschaftlichen AutorInnen und schaffen oft den Sprung in andere Studienrichtungen.
Aber auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mehrerer AutorInnen ergeben sich neue Wege: Die Verwendung von Hypertext, also Texte die durch ein verwobenes Netz von Hyperlinks miteinander verknüpft sind, können komplexe Informationen besser darstellen als klassisch lineare Texte und entsprechen viel mehr der assoziativen Struktur menschlichen Denkens.
Die Möglichkeit, Artikel zu verschlagworten, sie also mehreren Kategorien innerhalb eines Hypertextes zuzuweisen, lässt zum Beispiel in einem Forschungsprojekt die einzelnen Schwerpunkte nebeneinander stehen, ohne sie zu hierarchisieren. Aber auch die Entwicklung von Forschungsschwerpunkten werden durch die Verwendung von Hypertext vereinfacht: Die Einspeisung neuer Inhalte verändert die Gesamt-Struktur des Projektes und lässt sowohl textliche Verdichtungen, als auch wieder verworfene Forschungsgedanken und offene Fragen zu. Sie funktioniert als Gedächtnisstütze und Visualisierung einer prozessorientierten Forschung und kann in jeder universitären Ebene eingesetzt werden.
Wissen wird damit über sich immer wieder verändernde Artikel, Forschungsfragen aber auch archivarisch als Gedächtnisstütze für andere zugänglich gemacht. Wissen wird kollektiviert und öffentlich, ohne etwas von der viel gepriesenen Qualität wissenschaftlicher Texte zu verlieren.
Der momentane Einsatz von Hypertext als wissenschaftliches Instrument lässt sich trotz aller Vorteile und steigender Beliebtheit auf wenige Projekte beschränken und spielt sich meist in einem abgeschlossenen AutorInnenkollektiv ab, das wenig Raum für die Einbeziehung von Studierenden oder Menschen abseits der Universität hat.

Abseits aller Heilsversprechungen? Neue Medien wirken innerhalb der akademischen Familie meines Erachtens sozial durchlässiger als klassisch universitäre Werkzeuge, weil der streng wissenschaftliche Habitus in den Ausdrucksformen und Werkzeugen offener gestaltet ist. Damit wird die, vor allem auf der Universität, relevante Frage der akademischen Herkunft einer Person zumindest teilweise aufgelöst. Dass die Hemmschwelle zur Veröffentlichung universitärer Texte sinkt, heißt aber nicht, dass durch den Einsatz neuer Medien nicht andere Zugangsbarrieren geschaffen werden. Hier kommen zwei Momente sozialer Selektivität ins Spiel: Ein Aspekt ist die Medienkompetenz, die der Umgang mit neuen Medien erfordert. Studierende müssen sich diese Kompetenz selbst aneignen, anstatt sie innerhalb des Bildungssystems zu lernen. Das Erlernen neuer Medien, wie dem grundsätzlichen Umgang mit Computern, muss also Teil der schulischen Ausbildung werden, um Wissenslücken gar nicht erst entstehen zu lassen.
Der zweite damit zusammenhängende Aspekt bewegt sich auf der ökonomischen Ebene. Die Arbeit mit neuen Medien ist mit einem Kostenaufwand verbunden, der oft versteckt bleibt: In der öffentlichen wie auch universitären Wahrnehmung werden Computer, Drucker und Internetzugang nur indirekt als Studienmaterialien wie etwa Lehrbücher oder Skripten wahrgenommen, obwohl sie einen großen und vor allem punktuellen Kostenaufwand bedeuten.
Gerade bei Online-Lehrveranstaltungen wird angenommen, dass alle StudentInnen Internetzugang haben und auch wissen, wo sie sich (teuer oder illegal) die notwendige Software beschaffen können.
Durch solche Annahmen werden soziale Schranken innerhalb einer bereits erheblich selektierten StudentInnenschaft neu gezogen. So zeigt auch die Sozialerhebung 2006, dass arbeitende StudentInnen, StudentInnen mit Kindern oder besonderen Bedürfnissen enorme Ausgaben im Bereich Neue Medien haben, obwohl ihr Budget im Vergleich geringer ist.
Um universitäre Wissenschaft mit Hilfe neuer Medien offener zu machen, müsste also nicht nur an einem neuen Wissensbegriff und dessen Produktion gearbeitet werden, sondern die grundlegenden ökonomischen und pre-selektiven Rahmenbedingungen der Universität in Frage gestellt werden.