Dominik Wurnig

Unversichertes Amerika

  • 22.01.2014, 16:37

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

 

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

Seit Oktober 2011 ist Tobias Salinger nicht mehr krankenversichert. Über zwei Jahre sind seit seinem letzten Arztbesuch vergangen – keine Zahnärztin, keine Vorsorgeuntersuchung. Wenn seine Allergien unerträglich werden, holt er sich Medikamente aus der Apotheke. „Ich weiß, es ist nicht gut, solange nicht zum Arzt zu gehen“, sagt der Amerikaner, der Journalismus studiert und in Brooklyn wohnt.

Doch nun soll sich das ändern. Seit 1. Oktober ist das Kernstück des Affordable Care Act – auch Obamacare genannt – in Kraft: Alle 48 Millionen unversicherten Amerikaner_innen sollen bald eine Krankenversicherung haben. Das Gesetz schreibt den privaten Versicherungsanbietern Mindeststandards vor und verpflichtet Amerikaner_innen bis 31. März 2014 eine Krankenversicherung beim Anbieter ihrer Wahl abzuschließen. Ansonsten ist eine Strafgebühr von ein Prozent des Einkommens fällig. Ganz im Sinn der Marktlogik soll der Wettbewerb zwischen den priva- ten Versicherungsanbietern Krankenversicherungen günstiger machen.

Obamacare räumt mit den schlimmsten Ungerechtig- keiten im amerikanischen Gesundheitssystem auf. Mehr Menschen mit geringem Einkommen haben
in Zukunft Anspruch auf die staatliche Gratiskran- kenversicherung Medicaid. Eine gesetzlich geregelte Mutterschaftskarenz oder Krankenstand treten zwar auch mit der Reform noch immer nicht in Kraft, aber die Versicherungen dürfen Patient_innen nicht mehr wegen früherer Erkrankungen ablehnen, höhere Prämien für Frauen verlangen oder eine Obergrenze für bezahlte Leistungen einziehen. Bisher blieben Patient_innen trotz bestehender Krankenversicherung oft auf sechsstelligen Krankenhausrechnungen sitzen, weil ihre Versicherungspolizze nur Behandlungskosten bis maximal 150.000 Dollar pro Jahr deckte. Dementsprechend waren horrende Behandlungskosten für 62 Prozent der Privatkonkurse in den USA verantwortlich.

Tobias hat seine Krankenversicherung verloren, als er seine Stelle im Büro der Kongressabgeordneten Claire McCaskill aufgab. Als der Kongress im März 2010 mit einer knappen Mehrheit für den Affordable Care Act stimmte, arbeitete er gerade für die Demokratin aus Missouri. An den Tag erinnert sich der Student noch gut: „Für mich war es ein Grund zu feiern“, sagt Salinger: „Doch niemand organisierte eine Party.“ Den 900 Seiten langen Gesetzestext, den damals alle Kongressmitarbeiter_innen ausgehändigt bekamen, hat sich Salinger aufgehoben. Über drei Jahre später kann sich der Student nun endlich für Obamacare anmelden.

Craig Giammona hingegen ist sauer. Für ihn und viele andere bedeutet der Affordable Care Act in erster Linie höhere Kosten. Anders als der Name vermuten lässt, wird eine Krankenversicherung für viele durch das Gesetz weniger „affordable“. Der Student hatte bisher eine sogenannte Katastrophenkrankenversicherung („catastrophic health insurance“). Das bedeutet: Alles unter 10.000 Dollar muss Giammona selbst bezahlen, erst bei höheren Kosten setzt seine Versicherung ein. „Das ist mein Plan: Ich versuche gesund zu bleiben“, sagt er. Doch eine solche Minimalversicherung ist unter dem neuen Gesetz nicht mehr zulässig und Giammonas Versicherung musste ihn kündigen. Statt 185 Dollar im Monat wird er nun 307 Dollar monatlich zahlen müssen. „Es ist ein schlechtes Gesetz. Eine umfassendere Reform würde ich jedoch unterstützen“, sagt Giammona. Gerade junge, gesunde Menschen wie Craig sind jedoch für den Erfolg der Versicherungsreform entscheidend. Jede Versicherung funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Je größer die Masse der Versicherten, desto stärker verteilt sich das Risiko und umso niedriger ist die Versicherungsprämie. Nur wenn sich genug gesunde Menschen anmelden, kann das System auch für Kranke kostendeckend sein.

Kritik von allen Seiten. Obamas Gesundheitsreform wurde von Anfang an von lautstarker Kritik von rechts begleitet. 47 Mal hat die republikanische Mehrheit im Repräsentant_innenhaus für eine Aufhebung des Gesetzes gestimmt. Und 47 Mal hat Präsident Obama dagegen sein Veto eingelegt. Schon jetzt ist klar, dass die republikanische Partei versuchen wird, Obamacare zum Hauptthema bei den Parlamentswahlen im November 2014 zu machen. Endgültig entschieden wird die Debatte aber wohl erst 2016, wenn ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt wird.

Die konservative Vereinigung der Kleinunternehmer_innen National Federation of Independent Business (NFIB) ist eine jener Gruppen, die in Washington massiv für eine Gesetzesänderung lobbyiert. Sie befürchtet beträchtliche Mehrkosten für ihre Mitglieder. Traditionell beziehen die meisten Amerikaner_innen ihre Krankenversicherung über ihre Arbeitgeber_innen. Wichtiges Kriterium für die Jobwahl sind neben dem Gehalt immer auch die sogenannten „benefits“. Dabei verhandeln Arbeitgeber_innen mit Versicherungen über die Bedingungen für ihre Arbeitnehmer_innen. Waren erstere bisher nicht dazu verpflichtet, ihre Angestellten zu versi- chern, ändert Obamacare diesen Umstand ab 2015. Firmen mit mehr als 49 Vollzeitangestellten müssen von nun an eine Krankenversicherung für jede_n vollbeschäftigte_n Mitarbeiter_in abschließen oder 2.000 Dollar Strafe pro Angestelltem_r zahlen. „Viele Arbeitgeber kürzen deshalb die Arbeitsstunden von Angestellten, um so Vollzeit- in Teilzeitstellen umzuwandeln“, sagt der Sprecher von NFIB Jack Mozloom. So können sie die Strafgebühren und die Kosten für Krankenversicherungen umgehen. An die komplette Rücknahme des Gesetzes glauben jedoch selbst die Gegner_innen nicht mehr wirklich. „Wir erkennen an, dass eine volle Aufhebung vorerst unwahrscheinlich ist“, schätzt Cynthia Magnuson von NFIB die Situation ein.

Die Diskussion um Obamacare spiegelt die tiefen ideologischen Spaltungen in den USA wider. Vor allem in den republikanisch dominierten Bundesstaaten im Süden und im Mittleren Westen ist ein Großteil der Bevölkerung skeptisch gegenüber allen staatlichen Regelungen und denkt, dass der oder die Einzelne für sein Schicksal selbst verantwortlich sei, nicht der Staat. Das bedeutet, niemand solle verpflichtet werden, eine Krankenversicherung abzuschließen. Kostensenkungen im Gesundheitssektor wären demnach am besten durch einen entfesselten Markt erreichbar.

Seit dem Anlauf von Obamacare im Oktober, reißt aber auch die Kritik von linker Seite nicht mehr ab: Das Gesetz gehe nicht weit genug. Wie in vielen anderen Ländern solle der Staat die Krankenversicherung übernehmen. Dadurch würde sich das Kostenrisiko tatsächlich auf viele verteilen und die Kosten für Behandlungen und Medikamente könnten gesenkt werden. Der eigentliche Hintergrund der Reform sind nämlich die horrenden Kosten der medizinischen Versorgung in den USA. Während in Österreich im Jahr 2011 pro Kopf umgerechnet 4.546 Dollar für Gesundheitsleistungen aufgewendet wurden, waren es in den USA laut OECD 8.508 Dollar. Dabei gehen die Österreicher_innen im Schnitt 6,9 mal im Jahr zum Arzt, während Amerikaner_innen nur auf 4,1 Arztbesuche kommen.

Teurere, bittere Pillen. Richtig zufrieden mit dem Gesetz ist eigentlich nur die Versicherungsbranche. Viele der 48 Millionen Amerikaner_innen ohne Krankenversicherung (bei einer Gesamtbevölkerung von 311 Millionen) werden demnächst zu ihren Kund_innen. Die günstigste und gleichzeitig populärste Versicherungsvariante, der sogenannte „Bronze Plan“, kostet laut marketwatch.com im Schnitt 249 Dollar pro Monat. Doch bisher ist der Andrang auf Obamacare „bescheiden“, wie Susan Millerick vom Versicherungsriesen Aetna sagt. Obamacare ist für viele schlichtweg zu teuer. Die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit haben die Mittelklasse schwer getroffen – die Reallöhne stagnieren seit Jahren.

Tatsächlich tut das Gesetz auch wenig, um die hohen Kosten für Gesundheitsleistungen einzudämmen. Wie das Time-Magazin mit der Titelgeschichte „Bitter Pill“ im März gezeigt hat, verrechnen Krankenhäuser ihren hilflosen Patient_innen Fantasiesummen. Als Teil einer 84.000 Dollar schweren Rechnung für eine Chemotherapie verlangte die Krebsklinik MD Anderson sieben Dollar pro Alkoholtupfer. Online kann man 200 Stück davon um 1,91 Dollar bestellen.

Anders als in Österreich agieren Krankenhäuser in den USA gewinnorientiert. Die Kliniken erwirtschaften riesige Überschüsse und zahlen Millionengehälter an ihre Leiter_innen. In dünn besiedelten Gegenden besitzen die Krankenhäuser oft Monopolstatus und können den Versicherungen und Patient_innen die Preise diktieren. Die Gesundheitsbranche ist in den USA inzwischen bei weitem der größte Wirtschaftssektor.

Überraschend an der großen Krankenversicherungsreform ist vor allem auch die holprige Umsetzung. Die staatliche Website healthcare.gov zur Anmeldung für die Krankenversicherung war so fehlerhaft, dass sie bald wieder offline ging. Im ersten Monat haben gerade einmal 106.000 Amerikaner_innen die Obamacare-Versicherung abgeschlossen.

Auch Tobias Salinger kann sich heute nicht anmelden. Die Homepage des Bundesstaats New York sagt, dass seine Identität nicht festgestellt werden kann. Am Telefon erfährt er, dass er auf einen Brief mit weiteren Instruktionen warten solle. Erst dann wird er erfahren, ob er sich eine Krankenversicherung überhaupt leisten kann. Mehr als 100 Dollar pro Monat könne er nicht zahlen. Immerhin lebt der Student derzeit von Studienkrediten. Als letzte Hoffnung bleibt ihm noch ein Antrag auf Medicaid, die Kran- kenversicherung für Arme.

 

Dominik Wurnig studiert Journalismus an der CUNY Graduate School of Journalism in New York.

 

 

Boxen in Film & Fernsehen

  • 30.09.2012, 02:36

Fast immer ermöglicht Boxen in Filmen und TV den Aufstieg aus der Gosse.
Auch La Yuma ist so ein Film, obwohl er ansonsten nicht den Klischees entspricht.
Der erste Spielfilm seit 20 Jahren aus Nicaragua erzählt die Geschichte der 18-jährigen Yuma, die versucht, den Slums in Managua  zu entkommen. Als sie sich in den Studenten Ernesto verliebt, zerstört ihr Umfeld das Glück. Nebenbei muss sie ihre Geschwister vor dem pädophilen Liebhaber der Mutter schützen. Gemeinsam mit ihrem strippenden Freund Yader und der Transgender-Person Cubana findet Yuma ihren Weg und den ersten richtigen Job – als Showboxerin in einem Zirkus. Dank der grandiosen  LaiendarstellerInnen gibt der Film einen ungekünstelten Einblick in das komplizierte Leben in Managua. Auch im Oscar-prämierten Film Million Dollar Baby von Clint Eastwood will Maggie Fitzgerald durchs Boxen den Makel „Trash“ loswerden. Der pathetische Film erzählt vom kometenhaften Aufstieg der Boxerin und, nach einem schweren Boxunfall, ihrem Wunsch, zu sterben. Auch in der komplexen und hochgelobten Serie The Wire soll Boxen das Leben verbessern: Im Boxclub in Baltimore bauen die Kids Aggressionen ab und bleiben dem Drogenhandel auf der Straße fern.

www.hbo.com/the-wire
www.trigon-film.ch/de/movies/Yuma

 

Fäuste ballen

  • 30.09.2012, 02:34

Vom Abspecken, Sich-Quälen und Entscheiden: Hinter den Kulissen der Männerdomäne Boxen.

Vom Abspecken, Sich-Quälen und Entscheiden: Hinter den Kulissen der Männerdomäne Boxen.

Nicole Trimmel ist sehr nett. Das mag nichts Erstaunliches sein, an und für sich muss so etwas auch nicht in einer Zeitung stehen. Aber Nicole Trimmel ist Kickboxerin und Boxerin. Wer sieht, wie sie im Ring mit Fäusten und Füßen auf ihre Gegnerinnen einschlägt, könnte sie für eine ungemütliche Zeitgenossin halten. „Boxen ist ein Sport und hat nichts mit Raufen auf der Straße zu tun“, räumt der Präsident des Österreichischen Boxverbandes Roman Nader, jedoch mit Vorurteilen auf.

Nicole Trimmel ist eine zierliche Frau, er man auf den ersten Blick die vielen Welt- und Europameisterinnen- Titel im Kickboxen nicht ansieht. Kampfsport hat sie schon immer fasziniert und irgendwann ist sie mehr oder weniger zufällig beim Kickboxen gelandet. „Mein großes Glück war es, meinen ersten Kampf zu gewinnen. Obwohl ich gleich den nächsten Kampf verloren habe, überwog die positive Empfindung“, erinnert sie sich an ihre Anfänge im Jahr 1999. Im Kickboxen hat sie eigentlich alles erreicht, neue Ziele hat sie dennoch: „Mir geht es nicht nur ums Gewinnen, sondern auch um die technische Perfektion.“ Sie will noch sauberer, noch schneller, noch perfekter werden.

Der Traum von Olympia. London 2012 war auch so ein Ziel. Ende letzten Jahres kam die Idee auf, die Qualifikation für die Olympischen Spiele in London zu versuchen. Denn im Gegensatz zum Kickboxen ist Frauen- Boxen 2012 (erstmals) olympisch. Dafür musste Nicole Trimmel zunächst von 65 Kilo auf die olympische Klasse von 60 Kilo abspecken – gar nicht so einfach für eine Leistungssportlerin. Immerhin trainiert Nicole Trimmel sechs Tage die Woche jeweils drei bis vier Stunden. Leider hat es bei den WeltmeisterInnenschaften in China, dem einzigen Qualifikationsturnier für London 2012, für Österreichs beste Boxerin dennoch nicht geklappt. „Jetzt habe ich Blut geleckt“, sagt Trimmel selbstbewusst: “Das Boxen will ich trotzdem weiterverfolgen.“

Die Spiele in Rio de Janeiro 2016 sind die Perspektive. Aber auch für das Kickboxen ist das Boxtraining hilfreich: „Durch das Boxen bekomme ich ein anderes Auge und werde unberechenbarer.“ Freizeitsport Boxen. „Ja“, antwortet Roman Nader auf die Frage, ob auch ich (27-jährig, Bierbauchansatz, mittelsportlich) noch mit dem Boxen anfangen könne. „Ein Jahr Training und dann – wenn Sie bereit sind, sich zu quälen – könnten Sie auch gegen gleichwertige Boxer kämpfen“, erklärt er. Denn die Qual gehöre zu jeder Sportart dazu: Am Sandsack, beim Sparring oder beim Pratzentraining powert man schnell aus. Auch im Freizeitbereich ist Boxen inzwischen stark vertreten: Seit 2008 gibt es ManagerInnenboxen, oder besser gesagt White Collar Boxing. Es ist ein ganzheitliches, intensives Training, das aufnahmefähiger und gelassener machen soll.

Boxen kann jeder oder jede, der oder die gesund ist. Was es laut Nader allerdings brauchte, um gut im Boxen zu werden, seien Charakter, Wille, Ausdauer, Geduld, Intelligenz, unterstützende Eltern und den oder die richtige TrainerIn. Die körperlichen Eigenschaften ergeben sich dann von selbst im Training. „Es ist kein harmloser Sport, aber Eltern brauchen sich keine Sorgen machen. Es wird sehr auf die Gesundheit geachtet“, erklärt Nader. Mit dem Klischee der dummen Boxer und Boxerinnen möchte er
aufräumen: „Wenn ich 200 Kämpfe hinter mir habe, heißt das nicht, dass ich meinen Namen nicht mehr weiß“, sagt der Boxverbandspräsident. „Ganz im Gegenteil: Es ist eine hochgeistige Sportart. In einer Tausendstelsekunde muss ich entscheiden, wie schlage ich zu oder wie weiche ich aus.“

Mehr als eine Sportlerin. Und auch außerhalb des Rings sind Fähigkeiten gefragt. „Ich bin Sportlerin, Managerin, Projektbetreuerin,Organisatorin und Pressesprecherin in einer Person“, sagt Nicole Trimmel. Als Weltmeisterin ist sie in Österreich weit davon entfernt, von ihrem Sport leben zu können. Nicole Trimmel arbeitet 30 Stunden pro Woche im Sportreferat des Landes Burgenland. Etwas unnett wird sie nur, wenn sie über die rot-weiß-rote Sportförderung spricht: „Der Unterschied in der Förderung
zwischen olympischen und nichtolympischen Sportlern ist zu groß. Die topverdienenden Sportler sollten nicht auch noch den Großteil abbekommen.“

www.nicole-trimmel.at
www.managerboxen.at

Als Ausrede benutzt

  • 27.09.2012, 03:08

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer, Eva Blimlinger, Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren die ehemalige ÖH-Vorsitzende Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer vom Wissenschaftsministerium, die Rektorin der Akademie der bildenden Künste Wien Eva Blimlinger, die Bologna-Expertin der ÖH Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec, ehemaliger Leiter der Curricularkommission der Uni Wien. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

PROGRESS: Herr Hrachovec, Sie haben in den 60er und 70er Jahren studiert. Würden Sie lieber heute studieren?
HRACHOVEC (lacht): Die Studienbedingungen Ende der 60er-Jahre waren um vieles lockerer, freier, selbstbestimmter. Jetzt hat die Universität Wien 85.000 Studierende. Mehr Orientierung und auch eine größere Durchregulierung sind deshalb notwendig.
SCHWARZENBACHER: Ich als aktuell Studierende sehe das anders. Die große Freiheit, die es vielleicht in den 70er-Jahren gegeben hat, gibt es heute absolut gar nicht mehr. Aber war das wirklich notwendig? Der Bologna-Prozess wurde doch als Ausrede benutzt, um Wahlfreiheiten einzuschränken. Die Studienpläne sind nicht mehr flexibel und es ist zu einer ganz starken Verschulung gekommen.

War es früher also wirklich besser? Hat der Bologna-Prozess Spielräume beschränkt? Wo liegt die Verantwortung für diese Beschränkung von Spielräumen?
BLIMLINGER: Verschulung hat nicht notwendigerweise etwas mit dem Bologna-Prozess zu tun. Die Verantwortung liegt bei den Universitäten selber, die diese Art von Studienplänen genehmigen. Man hätte diese ziemlich frei gestalten können. Das hat man aber leider nicht gemacht.
BLAHA: Dass da vom Ministerium nicht gegengesteuert wurde, ist ein Problem. Zu sagen, da sind die Universitäten schuld, das greift mir zu kurz. Weil es da schon auch eine politische Verantwortung gibt. Da appelliere ich an das Ministerium. Ich wünsche mir jetzt keine Vorgabe. Aber irgendwer muss hier koordinieren, wenn die Universitäten dazu nicht im Stande sind.
HRACHOVEC: In dem Moment, in dem man den Universitäten mehr Kompetenzen zur Regelung gibt, ergreifen sie diese freudig. Und machen das noch um einiges dichter als es das Ministerium je machen konnte.
BLIMLINGER: Das ist doch die Absurdität!

Also mehr Initiative von Seiten des Ministeriums?
FAULHAMMER: Bei der Autonomisierung der Universität hat das Ministerium massiv Einfluss zurückgenommen und den universitären Organen Möglichkeiten zur Regelung übertragen. Ich glaube nicht, dass es jetzt die Lösung sein kann, dass das Ministerium beginnt, Einfluss auf die Curricula zu nehmen.
HRACHOVEC: Bei den letzten beiden Novellen greift das Ministerium aber sehr wohl in die Curricula ein. Und zwar bei der Studieneingangsphase. Das haut uns die gesamte Curricularplanung zusammen.
FAULHAMMER: Sie wissen ganz genau: Das Ministerium wollte eine andere Novelle, die den Universitäten eine Regelung des Zugangs ermöglicht. Und wir werden uns weiterhin bemühen, vor allem in Massenfächern eine Regelung des Zugangs zustandezubringen.
SCHWARZENBACHER: Auch wenn man es immer wieder sagen muss und immer wieder betonen muss: Es gibt in Österreich zu wenig Studierende. Es gibt nicht nur zu wenig Absolventen und Absolventinnen, sondern auch zu wenig StudienanfängerInnen.

Welche Konsequenzen hat diese Tendenz zur stärkeren Regulierung in Folge von Bologna konkret für Studierende?
HRACHOVEC: Vor der Bologna-Reform haben die Geisteswissenschaften 40 Prozent ihres Studiums als freie Wahlfächer definiert. Das wurde vom Gesetzgeber geregelt. An der Universität Wien hat das zu den berühmt-berüchtigten Erweiterungscurricula geführt. Das ist stark kritisiert worden.
FAULHAMMER: Aber ich kann mich sehr gut erinnern, wie sehr die Vertreterinnen und Vertreter der Geisteswissenschaften die freien Wahlfächer kritisiert haben, diese breite Wahlmöglichkeit. Die Studierenden hingegen haben das sehr positiv gefunden. SCHWARZENBACHER: Aus Studierendensicht sind die neuen Erweiterungscurricula auch keine Alternative. Durch diese vorgefertigten Pakete kann ich nicht meinen Schwerpunkt setzen, was allerdings die Intention hinter Wahlfreiheit und hinter Wahlfächern sein sollte.
HRACHOVEC: Mit dem alten System konnte man keine vertretbare Gesamtbudgetplanung machen. Weil wir müssen ja dem Ministerium gegenüber sagen: Soundso viel sind unsere Aufwendungen für eine Studentin. Wir können das dem Ministerium so nicht sagen, da wir diese Daten nicht haben.
BLIMLINGER: Entschuldigung, das müsst ihr dem Ministerium Gott sei Dank noch nicht sagen. Das ist eine Studienplatzfinanzierung, hallo! Ihr müsst eine Budgetplanung machen, wo ihr schaut, ob das Curriculum bedeckt ist.

Wie kommt es, dass an manchen Universitäten die Umstrukturierung im Sinne von Bologna so schnell vor sich ging, während sie andernorts gar nicht vorgenommen wurde?
HRACHOVEC: Die Idee der Modularisierung ist stark gepusht worden. Von wem? Von der Bologna-Follow-up-Gruppe. Das Ministerium hat sich zurückgezogen, und gesagt: „Richtet euch danach, was die Bologna-Follow-up-Gruppe macht. Und wenn ihr das nicht macht, dann kriegt ihr kein Geld.“
BLIMLINGER: Das stimmt doch gar nicht.
HRACHOVEC: Selbstverständlich. Wenn wir nicht umstellen, haben wir Schwierigkeiten in der nächsten Budgetverhandlung.
BLIMLINGER: Also, die Akademie [Anm.: Akademie der bildenden Künste Wien] hat nur in der Architektur umgestellt, die Angewandte [Anm.: Universität für angewandte Kunst Wien] hat nicht umgestellt. Und wir haben auch Geld bekommen, oder?
FAULHAMMER: Richtig!

Hatte das keinerlei Konsequenzen?
BLIMLINGER: Nein. Solange ich Rektorin bin und keinen Zwang habe, werden wir an der Bildenden das nicht umstellen. Und ich bin mir sicher, es hat keine Konsequenzen. Wir können auch erklären, warum wir nicht umstellen und warum es nicht sinnvoll ist.
BLAHA: Da ist der Druck vom Rektorat unter Georg Winckler (Anm. d. Redaktion: Rektor der Uni Wien von 1999 bis 2011) vielleicht ein anderer gewesen?
HRACHOVEC: Das war sicher so.

Es wurde viel über die Vergangenheit geredet. Was sollte oder könnte sich vorausschauend ändern?
SCHWARZENBACHER: Ich glaube, dass der Bologna-Prozess in vielen Bereichen verfehlt umgesetzt ist. Die soziale Durchmischung an den Universitäten oder „Student Centered Learning“ sind Arbeitsschwerpunkte im Bologna-Prozess, die de facto von den Nationalstaaten nicht bearbeitet werden.
BLIMLINGER: Zukunftsvision ist für mich die Trennung von ECTS-Punkten und Arbeitsstunden der Lehrenden. Die Bindung der ECTS-Punkte an die Stunden ist ja lediglich dem geschuldet, dass es ein Hochschullehrerdienstrecht gibt, wo nach Stunden bezahlt wird. Weil wir wissen alle, es funktioniert im Grunde so: Wie kommen wir mit den vorhandenen Stunden auf der einen Seite zu den notwendigen ECTSPunkten auf der anderen Seite. Nur, das ist völlig unerheblich, wie viele Stunden der Lehrende dort steht. Der Workload der Studierenden ist das Wichtige. Und einhergehend damit, ist aus meiner Sicht erstrebenswert, dass es auch Möglichkeiten gibt, sich für ein Studium Tätigkeiten außerhalb der Universität – und damit meine ich nicht unbezahlte Praktika –  anrechnen zu lassen.
FAULHAMMER: Aus meiner Sicht hat die Lehre nicht den Stellenwert, den sie haben sollte. Das studierendenzentrierte Lernen, das am Outcome orientiert ist, ist noch nicht wirklich angekommen. Bei der sozialen Dimension habe ich naturgemäß eine andere Auffassung. Sie wissen, dass die soziale Durchmischung im Fachhochschulbereich, wo es Zugangsregelungen und teilweise Studienbeiträge gibt, deutlich besser ist. Wenn es die Zugangsregelungen gibt, können wir gezielte Maßnahmen setzen, um Studierende aus benachteiligten Schichten verstärkt zu berücksichtigen. Wir schauen uns auch das Thema „Affirmative Action“ an, um zu sehen, welche Möglichkeiten es da gibt.
BLAHA: Ich möchte noch den Aspekt des Dualismus von Forschung und Lehre einbringen. Mein Eindruck ist, dass Lehre abseits des Mainstreams, nicht zuletzt auch durch die Kürzung der Wahlfächer, ziemlich unter die Räder gekommen ist. Das hat auch ganz viel damit zu tun, dass sich Forscher und Forscherinnen logischerweise überlegen, wohin ihre Energie und ihre Arbeitszeit gehen. Und das ist dann der Artikel im Journal und nicht die besonders gut aufbereitete Lehrveranstaltung für ein Massenpublikum.
 

Potential zum Skandal

  • 20.09.2012, 18:09

In radikalen Mitmachperformances konfrontiert das Wiener Performancekollektiv God’s Entertainment das Publikum mit Rassismus, Gewaltverherrlichung oder Integrationszwang. Ein Porträt.

Sie machen kein Theater. Nicht mit SchauspielerInnen und so. Was God’s Entertainment macht? Laut Eigendefinition irgendetwas zwischen Happening, Aktion und Performance. Wer sie sind? „Wir sind ein Kollektiv. Wir sind eine der wenigen Gruppen ohne Hierarchie. Jeder macht alles“, sagt Maja, die die Gruppe God’s Entertainment (GE) mitgegründet hat. Ihre eigenen Namen heben die Mitglieder der Gruppe nur ungern hervor - in Programmheften dürfen sie deswegen gar nicht erst abgedruckt werden. 2005 trat God’s Entertainment erstmals mit der Performance „Mossad“ im Rahmen des Wiener Mozart-Jahres auf. Zu den Dreien, die den fixen Kern des Kollektivs GE bilden, kommen noch einige lose Mitglieder hinzu.

GE ist die aktuell wahrscheinlich provokanteste, politischste und pointierteste Performancegruppe in Österreich. progress traf sie zum Frühstück in ihrem Gassenlokal-Büro im 9. Bezirk in Wien. Der Raum ist vollgestellt mit Requisiten alter Produktionen und ständig klingeln die Handys - God’s Entertainment ist im Stress: Ein Förderantrag muss dringend abgegeben werden. Die Themen für ihre Aktionen finden sie in der Realität: „Wenn etwas total bescheuert ist und blöd, versucht man es in die Performance reinzubringen“, sagt Boris. Das Spektrum reicht von Sex, Radovan Karadžić und Busreisen bis zu Bollywood, Integration und Gewalt.

ECHTE PRÜGEL. Manchmal enden ihre Aktionen auch mit blauen Augen oder gebrochenen Rippen. So bei der Brutalo-Aktion „Fight Club - realtekken“, mit der sie erstmals Aufmerksamkeit erregten. Mit Joypads steuert das Publikum nicht Figuren im Videospiel, sondern lässt die PerformerInnen aufeinander einprügeln. Im Gegensatz zum herkömmlichen Theater wird bei Performances nicht „so getan, als ob“. Die Schläge sind echt, Verletzungen einkalkuliert. Beim Setting der Performance orientiert sich die Gruppe an den illegalen Boxkämpfen im populären Hollywoodfilm „Fight Club“: Der Raum ist dunkel, laute Musik dröhnt, Wetten werden angenommen. Berauscht von der Gewalt, lassen die ZuschauerInnen die PerformerInnen enthemmt aufeinander einprügeln. GE macht Mitmachperformances: Sich zurücklehnen und einfach nur zusehen, ist de facto nicht möglich. PerformerInnen und Publikum prallen ungeschützt aufeinander. „Indem man ins Theater geht, ist man schon involviert. Es ist nur die Frage, ob man auch beteiligt wird“, ergänzt Maja.

SETTINGS ERZEUGEN. GE beantwortet diese Frage immer mit „Ja“. Bei ihrer letzten Produktion „Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust (Nach Büchners „Woyzeck“)“ im Wiener brut erzeugen sie zu Beginn ein Setting, in dem sich die ZuschauerInnen im Klassenzimmer wiederfinden. Die Lehrerin ruft einzelne SchülerInnen im Publikum auf und fragt ihr Wissen zu Georg Büchners Drama „Woyzeck“ ab. GE arbeitet mit bekannten Situationen aus Alltag und Medien. Diese werden zugespitzt und für ihre Themen nutzbar gemacht. So konfrontiert die Gruppe die ZuschauerInnen mit ihren eigenen Positionen und zwingt sie, sich damit auseinanderzusetzen. God’s Entertainment macht politische Kunst. Aber nicht nur, indem sie politisch relevante Themen - wie Integration, Rassismus, Gewalt und Strafvollzug - aufgreifen, sondern indem sie ihr Publikum zu Menschen machen, die über diese Themen nachdenken. Ziel ist, etwas bei den ZuseherInnen auszulösen. Wieso sich das Publikum ihren Produktionen aussetzt, weiß die Gruppe auch nicht so ganz genau. Vielleicht, weil man sich bei GE selbst spüren könne und die Leute das mögen, meint Simon. Erfolgreich sind ihre Performances dann, wenn sie „funktionieren“ - das heißt, wenn sie beim Publikum eine Reaktion auslösen, wenn die Menschen nicht einfach unberührt davon bleiben, wenn in der Fußgängerzone ein Weißer für Spenden in den eigenen Hut den Schwarzen neben sich verprügelt - wie in ihrer Performance „Stadt ist anders“. „Theater ist nicht ein reiner Unterhaltungstempel, wo man sich reinsetzt, um mal kurz zu entspannen“, sagt Simon. Obwohl sich die ZuschauerInnen oft nicht wohlfühlen, verlässt nur ganz selten jemand die Performances. Wohl auch, weil es bei GE nie langweilig sei, schmunzelt Simon.

BEZIRKSVORSTEHERIN HAT ANGST. Obwohl die Produktion „Österreicher integriert euch“ bei den Wiener Festwochen erst im Mai ansteht, funktioniert die Performance für die Gruppe schon jetzt. GE dreht den Spieß in der Integrationsdebatte um und will ÖsterreicherInnen in die problematischsten Migrationsgruppen integrieren. Den ersten Teil bildet eine Research-Phase, in der über Infostände in allen Wiener Bezirken ermittelt wird, welche MigrantInnengruppen von den ÖsterreicherInnen als die problematischsten empfunden werden. Danach können sich „waschechte“ ÖsterreicherInnen in drei Integrationslagern am Urban-Loritz-Platz, in Meidling und neben dem Museumsquartier in diese Hauptproblemgruppen integrieren lassen. „Leider“, sagt B. bezüglich der Veranstaltungsorte: „Eigentlich wollten wir lieber in rechtere Bezirke. Aber im zehnten, elften, 13. und 21. Bezirk haben wir keine Genehmigung bekommen.“ Schon bevor es überhaupt losgeht, haben die BezirksvorsteherInnen Angst vor den Reaktionen. Je nach AusländerInnenfeindlichkeitsstufe müssen sich die ÖsterreicherInnen in den Integrationslagern unterschiedlichen Maßnahmepaketen unterziehen. Helfen werden ihnen dabei sogenannte IntegratorInnen aus den verschiedenen Hauptproblemgruppen. Spätestens nach drei Tagen soll die perfekte Integration geglückt sein. Nicht nur der Name „Österreicher integriert euch“ erinnert an Christoph Schlingensiefs Containershow und Abschiebeperformance „Ausländer raus“ neben der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2000. Genauso wie die damalige Festwochenproduktion haben GE heuer Potential zum Skandal. Und da sie kein Theater machen, meint es God’s Entertainment auch ernst mit „Österreicher integriert euch“: „Wir wünschen uns, Strache im Lager zu haben. Zusammen mit Sebastian Kurz.“

gods-entertainment.org

Der Autor Dominik Wurnig hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien studiert.

Eichmanns Ankläger in Wien

  • 20.09.2012, 16:15

Genau vor 50 Jahren fand in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann, den „Organisator der Shoa“, statt. Anlässlich einer Ausstellung im Justizpalast war der damalige Ankläger Gabriel Bach für ein ZeitzeugInnengespräch in Wien.

Genau vor 50 Jahren fand in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann, den „Organisator der Shoa“, statt. Anlässlich einer Ausstellung im Justizpalast war der damalige Ankläger Gabriel Bach für ein ZeitzeugInnengespräch in Wien.

Gabriel Bach ist 84 Jahre alt. Schon oft hat er vom Eichmann-Prozess erzählt. Doch wenn er erklären soll, welcher Moment ihn am stärksten berührt hat, wird seine Stimme zittrig. Der Ankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann erzählt von einem Zeugen, der im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau seine ganze Familie verloren hat: „Er sagte: Ich habe meine Frau nicht mehr gesehen, die war verschwunden in der Menge. Ich habe meinen Sohn nicht mehr gesehen, der war verschwunden in der Menge. Aber mein Töchterchen, zweieinhalb Jahre alt, die hatte einen roten Mantel. Und dieser rote Punkt wurde immer kleiner. So verschwand meine Familie aus meinem Leben. Und ganz zufällig hatten wir eine kleine Tochter. Genau zweieinhalb Jahre alt. Ich hatte ihr zwei Wochen vorher einen roten Mantel gekauft.“ Als der Zeuge das gesagt hatte, da verschlug es Bach vollständig die Stimme, erzählt er heute: „Es hat vielleicht zwei oder drei Minuten gedauert, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Wahrscheinlich eine banale, kleine Geschichte, aber für mich symbolisiert das diesen Prozess mehr als irgendwelche anderen Momente.“
Gabriel Bach war der stellvertretende Chefankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961. Ein halbes Jahrhundert später war er Ende November anlässlich der Ausstellung „Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht“ im Justizpalast zu einem Gespräch in Wien. Schon oft habe er von seinen Erfahrungen erzählt, merkt Bach man an. Doch jedes Mal auf neue Weise, ergreifend und voll innerer Überzeugung, spricht er über diesen Prozess, der bis heute sein Leben geprägt hat.

Glückskind. Bach überlebte den Nationalsozialismus wie durch ein Wunder – sein Vater hatte die richtige Intuition und flüchtete mit der Familie nur zwei Wochen vor den Pogromen am 9. November 1938 nach Holland. Und nur ein Monat vor der deutschen Invasion in den Niederlanden konnte die Familie auf einem Schiff weiter nach Jerusalem reisen. Er ist der einzige aus seiner Schulklasse, der die Zeit überlebt hat. „Wir konnten vorher all die Jahre hindurch immer nur hören und lesen, was da geschehen war und nie etwas dagegen tun“, sagt Bach heute. Daher auch der Wille, „auf demokratischste und juristisch fundierteste Weise die Sachen zu beweisen gegen den Mann, der verantwortlich war für alle Aspekte. Das hat einem doch eine große Befriedigung gegeben.“
Der Angeklagte, der ehemalige Leiter des nationalsozialistischen „Judenreferats“ Adolf Eichmann, wurde 1960 vom israelischen Geheimdienst Mossad in Argentinien aufgespürt und für seinen Gerichtsprozess nach Israel verschleppt. Eichmann, der in Linz aufgewachsen war, war maßgeblich für die Organisation und Durchführung der Deportationen und Ermordungen von sechs Millionen Juden und Jüdinnen verantwortlich. Jeder Transport nach Auschwitz ging über seinen Schreibtisch. Und so leitete er beispielsweise das ungarische „Judenkommando“, im Zuge dessen in der kurzen Zeit von März 1944 bis Juli 1944 eine halbe Million ungarischer Juden und Jüdinnen nach Auschwitz deportiert wurden. Mit Eichmann hatte man den Fachmann für die „Judenfrage“ im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) dingfest gemacht.
Zuvor war er, wie viele andere NS-Funktionäre untergetaucht und über die „Rattenlinie“ nach Südamerika gelangt, wo er unter falschem Namen lebte. Eichmanns Verteidigungsstrategie war es, sich als Befehlsempfänger und kleines Rädchen darzustellen. Aber das stimmte nicht, erzählt Bach: „Am Ende des Krieges hat Eichmann gesagt: ,Ich weiß, der Krieg ist verloren, aber ich werde meinen Krieg noch gewinnen.‘ Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10.000 am Tag auf 12.000 heraufzubringen.“

Eichmann in Jerusalem. Bis heute kontrovers sind die Prozessbeobachtungen Hannah Arendts, die den SS-Obersturmbannführer in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ als Befehlsempfänger und banalen Schreibtischtäter schildert. „Das ist von Hannah Arendt völlig falsch wiedergegeben“, sagt Bach. Zu einem Gespräch zwischen den beiden ist es nicht gekommen, erinnert er sich: „Ich hörte, da ist eine Frau nach Israel gekommen. Eine Philosophin aus Amerika, um gegen den Prozess zu schreiben. Das hat mich gewundert und ich habe ihr mitteilen lassen, ich würde mich freuen, mich mit ihr zu treffen. Sie hat geantwortet, dass sie nicht bereit sei, mit irgendjemand von der Staatsanwaltschaft zu sprechen. Das war ziemlich typisch.“
Die Bedeutung des Gerichtsprozesses für die Identität des jungen Staates Israel ist kaum zu ermessen. „Ich werde nie den ersten Moment dieses Prozesses vergessen, als die Richter in den Saal kamen mit dem Israeli-Wappen hinter sich und Eichmann da reinkam und Haltung annahm vor einem souveränen israelischen Gericht. Die Bedeutung des Staates Israel wurde mir auf einmal klarer als in irgendeinem Moment davor. Mehr als jede Parade, jeder Leitartikel in der Zeitung oder jede Zeremonie hat mich das ungeheuer beeindruckt“, sagt Bach.
Eichmann wurde der Verbrechen gegen das jüdische Volk und gegen die Menschheit schuldig befunden und im Mai 1962 hingerichtet. „Er ist der einzige Mensch, der in Israel jemals zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ich glaube, ich kann objektiv sagen, dass er wirklich ein Mann ist, der das absolut verdient hat“, sagt sein Ankläger.

Der Autor hat Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien studiert. Die Gedenkstätte Yad Vashem hat den gesamten Prozess online gestellt: www.youtube.com/eichmanntrial

Studieren gegen die Uhr

  • 13.07.2012, 18:18

Schon vor Jahren wurden fast alle Diplomstudien auf Bachelor und Master umgestellt. Für Studierende, die doch noch im Diplom begonnen haben, tickt nun die Uhr: Ihre Studienpläne laufen jetzt endgültig aus.

Schon vor Jahren wurden fast alle Diplomstudien auf Bachelor und Master umgestellt. Für Studierende, die doch noch im Diplom begonnen haben, tickt nun die Uhr: Ihre Studienpläne laufen jetzt endgültig aus.

Anna Schwab* hat Angst. Angst davor, dass sie mit ihrer fertigen Diplomarbeit ganz am Ende nochmal zurück an den Anfang geworfen wird. Sie ist 25 Jahre alt und studiert Pädagogik „auf Diplom“, also nach dem alten Studienplan, an der Universität Wien. 100 Seiten hat ihre Arbeit bereits, 30 sollen noch dazukommen. In einem Monat will sie die wissenschaftliche Abschlussarbeit abgeben. Bis heute arbeitet sie ins Blaue hinein: „Ich kriege so wenige Rückmeldungen, dass ich nicht weiß, wo ich stehe.“ Ihre Diplomarbeitsbetreuerin ist zwar bemüht, hat aber einfach keine Zeit für intensive Betreuung. Von Anna Schwabs fast fertiger Diplomarbeit hat die Professorin noch keine Zeile gelesen. Es sind zu viele Studierende für zu wenig Lehrende: Alleine auf der Pädagogik wollen heuer noch 650 Studentinnen und Studenten abschließen. Anna Schwab sagt: „Ich fühle mich alleine gelassen. Ich habe Angst, dass das Feedback zu spät kommt und ich die Änderungen nicht mehr rechtzeitig einarbeiten kann.“ Dann müsste sie in den neuen Studienplan umsteigen und noch einige Lehrveranstaltung zusätzlich absolvieren.

Plötzliches Ende? Am 30. November 2012 ist es zu spät. Im neuen Bachelor-Studienplan der Pädagogik heißt es auf amtsdeutsch: „Studierende, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Curriculums in einen vor Erlassung dieses Curriculums gültigen Studienplan unterstellt waren, sind berechtigt, ihr Diplomstudium der Pädagogik bis zum 30.11.2012 abzuschließen.“ Das heißt: Alle Lehrveranstaltungen, die Diplomarbeit sowie die kommissionelle Diplomprüfung müssen bis dahin absolviert sein. Wer die Diplomprüfung beim ersten Mal verhaut, hat eigentlich noch drei weitere Chancen. Anna Schwab darf sich nicht so viele Fehltritte erlauben: Die Universität Wien garantiert die vier Prüfungsantritte nur, wenn die Abschlussarbeit bereits im Jänner 2012 eingereicht wurde.
Prinzipiell ist das Ende des Diplomstudiums schon lange bekannt. Das Ablaufdatum der alten Diplomstudien konnten alle Studierenden in den neuen Bachelorstudienplänen nachlesen: Seit 2007 im Fall der Pädagogik bzw. Bildungswissenschaft. Sie wussten, bis wann sie mit dem Diplom fertig werden müssen und hätten jederzeit in den aktuellen Bachelor- oder Masterstudienplan umsteigen können. Die absolvierten Lehrveranstaltungen werden beim Umstieg meistens kulant für den neuen Studienplan angerechnet. Trotzdem haben es sehr viele Studentinnen und Studenten an der Universität Wien vorgezogen im Diplom zu bleiben. Warum?

Option Umstieg. Raphaela Blaßnig hat es sich nie überlegt. Die Pädagogikstudentin schreibt jeden Tag im Lesesaal der Universitätsbibliothek an ihrer Diplomarbeit. „Ich bin keine Bachelor-Freundin: Es ist mir zu schulisch aufgebaut, zu wenig frei, zu wenig Entscheidungen, zu wenig Bildung um ihrer selbst willen“, sagt die 25 jährige Studentin. Es mache Sinn länger zu studieren – für die Selbsterfahrung und die allgemeine Bildung. Schlussendlich aber auch, um am Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben. In die selbe Kerbe schlägt der baldige Politikwissenschafts-Magister Michael Wögerer. Der 30-jährige war immer nur zur Hälfte Student. Die andere Hälfte der Zeit hat er mit Arbeit und politischem Engagement verbracht. In der kleinen niederösterreichischen Gemeinde Winklarn war er einst der jüngste Gemeinderat. „Gerade bei einem Studium wie Politikwissenschaft sagen sie einem durch die Bank, man solle sich nicht nur auf das Fach konzentrieren. Es ist sicher kein Problem, das Studium in der Frist zu schaffen. Aber du hast keine Chance am Arbeitsmarkt, wenn du dich nicht vorher umgesehen hast“, sagt Wögerer. In Studienrichtungen ohne ein konkretes Berufsbild ist es wichtig, Erfahrungen zu sammeln, eigene Interessen zu entwickeln und sich mit den Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Wer sich rein auf sein Fach konzentriert, tut sich danach noch schwerer im Kampf um die Jobs.

Problemfall Uni Wien. Wie viele Studenten und Studentinnen noch in einem auslaufenden Diplomstudien studieren, weiß man nicht. Die Sprecherin des Rektorats der Universität Wien geht von 15.000 Studierenden aus, die in diesem und dem nächsten Jahr ihr Studium abschließen müssen. Wie viele es genau sind, kann die Universität Wien auch nach mehrmaligem Nachfragen des PROGRESS

nicht sagen. Jedenfalls müssen Diplomstudierende aus 33 Studienrichtungen 2012 und 2013 abschließen. Der große Zeitdruck für die Studierenden und Mehrbelastungen für die Lehrenden sind aber hausgemacht: An keiner anderen Universität oder Hochschule in Österreich gibt es solch massive Probleme. Die Universität Wien hat sich bei der Befristung der Diplomstudien an der Mindeststudienzeit plus zwei Extra-Semestern orientiert – also im Regelfall zehn Semester. Dass der Durchschnitt aber 13,3 Semester bis zum Diplom braucht, wollten die Vorsitzenden der zuständigen Stellen im Senat nicht gelten lassen.

In vielen Studienrichtungen haben Studierende und Lehrende Initiativen gesetzt, um die Frist zur Beendigung des Diplomstudiums zu verlängern. An der Uni Wien bisher stets erfolglos. „Die Leute im Diplomstudium sollen fertig machen dürfen. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso man ihnen da Steine in den Weg legt“, fragt sich Michael Wögerer. Sein Vorschlag lautet: „Alle, die den ersten Studienabschnitt abgeschlossen haben, dürfen das Diplomstudium noch fertig machen.“ Die Umsetzung für die Universität wäre ein Leichtes: Alter und neuer Studienplan kosten gleich viel und mittels Äquivalenzlisten – die gleichwertige Lehrveranstaltungen für das BA/MA und das Diplomsystem ausschildern – hat es auch bisher bestens funktioniert, beide Systeme parallel laufen zu lassen. Die Universität für Bodenkultur war jedenfalls toleranter. Insgesamt 16 Semester wurden dort beispielsweise den Diplomstudierenden des Fachs Lebensmittel- und Biotechnologie Zeit gegeben. Auch eine Verlängerung der Frist war dort im Gegensatz zur Uni Wien kein Ding der Unmöglichkeit: Die Auslauffrist des Diplomstudiums Kulturtechnik und Wasserwirtschaft wurde im Nachhinein um ein Jahr verlängert.

Genau weiß die Universität Wien nicht, was in den nächsten Monaten auf sie zukommt. Die Dekanin der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Ines Maria Breinbauer, fühlt sich aber organisatorisch gut gerüstet: „Ich versuche, es so gut es geht aufzufangen. Ich kann aber nicht garantieren, dass es gelingt. Probleme gibt es dann, wenn irgendwer krank wird oder ausfällt.“ Allein 650 Studierende der Pädagogik arbeiten daran, noch heuer fertig zu werden. Mit zusätzlichem Geld aus dem Wissenschaftsministerium will die Uni Wien die angespannte Lage verbessern: „In auslaufenden Diplomstudien, in denen noch viele Abschlussarbeiten anstehen, werden Gastprofessuren zur Unterstützung der DiplomandInnen eingesetzt, um Betreuungsengpässen entgegenzuwirken“, sagt eine Sprecherin der Uni Wien.

„Diese Professoren und Pofessorinnen kommen mit März 2012 zu spät“, kritisiert der Studienvertreter der Vergleichenden Literaturwissenschaft Andreas Maier, der eigentlich auch sein Diplomstudium noch abschließen wollte. „Aber ich müsste mein ganzes politisches Engagement in der ÖH sein lassen oder die Diplomarbeit wird nicht fertig“, sagt der Student im elften Semester. Ein halbjähriges Auslandspraktikum in Ankara, die Zusatzausbildung „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ und das Engagement als Studienvertreter kosten zu viel Zeit. Statt seine komplette Aufmerksamkeit der Diplomarbeit zu widmen, wird er in das Masterstudium wechseln: Zehn absolvierte Lehrveranstaltungen sind damit quasi umsonst, weil sie nicht anrechenbar sind. Außerdem braucht er dadurch ein Jahr länger bis zum Abschluss.

Während am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft noch ein Jahr Zeit ist, hat die Politikwissenschaft der Uni Wien den Diplomarbeitsmarathon schon hinter sich. Wer vor dem 30. April – und damit das Diplomstudium – abschließen will, musste am 31. Jänner die Diplomarbeit einreichen. Stundenlanges Warten, überforderte BetreuerInnen, das Versagen der elektronischen Plagiatsprüfung und Frust bei allen Beteiligten waren die Folge. „Den Unmut bekommen die an der Basis zu spüren, nicht die Oberen, die das entschieden haben“, ärgert sich Michael Wögerer. Auch die Ellenbogenmentalität unter den Studierenden habe in den letzten Monaten zugenommen, hat er beobachtet: „Durch den großen Druck hat keiner mehr Ressourcen, um anderen zu helfen.“

Harte Monate.Schon unter normalen Bedingungen ist das Leben für Studierende nicht einfach, in einer solchen Drucksituation geht es aber an das Eingemachte. Ohne die finanzielle Unterstützung der Eltern würde die Studienbeihilfebezieherin Raphaela Blaßnig die Diplomarbeit nicht fristgerecht schaffen. Ihr Arbeitsleben als Outdoortrainerin bei Schulprojektwochen ist im Moment gestrichen. Auch Michael Wögerer hat einige harte Monate hinter sich, aber für ihn persönlich hatte die nahende Frist auch eine positive Auswirkung: Es motivierte. „So kann man die Diplomarbeit nicht mehr hinausschieben. Einen 10-Stunden-Schreib-Marathon macht man ohne Druck einfach nicht“, sagt er, und gibt zu bedenken: „Der enorme Stress war sicher nicht gesund. Ich war noch nie so oft krank wie in diesem Jahr.“

*Da die Diplomprüfung noch bevorsteht, wurde der Name von der Redaktion geändert.