Unversichertes Amerika
Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.
Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.
Seit Oktober 2011 ist Tobias Salinger nicht mehr krankenversichert. Über zwei Jahre sind seit seinem letzten Arztbesuch vergangen – keine Zahnärztin, keine Vorsorgeuntersuchung. Wenn seine Allergien unerträglich werden, holt er sich Medikamente aus der Apotheke. „Ich weiß, es ist nicht gut, solange nicht zum Arzt zu gehen“, sagt der Amerikaner, der Journalismus studiert und in Brooklyn wohnt.
Doch nun soll sich das ändern. Seit 1. Oktober ist das Kernstück des Affordable Care Act – auch Obamacare genannt – in Kraft: Alle 48 Millionen unversicherten Amerikaner_innen sollen bald eine Krankenversicherung haben. Das Gesetz schreibt den privaten Versicherungsanbietern Mindeststandards vor und verpflichtet Amerikaner_innen bis 31. März 2014 eine Krankenversicherung beim Anbieter ihrer Wahl abzuschließen. Ansonsten ist eine Strafgebühr von ein Prozent des Einkommens fällig. Ganz im Sinn der Marktlogik soll der Wettbewerb zwischen den priva- ten Versicherungsanbietern Krankenversicherungen günstiger machen.
Obamacare räumt mit den schlimmsten Ungerechtig- keiten im amerikanischen Gesundheitssystem auf. Mehr Menschen mit geringem Einkommen haben
in Zukunft Anspruch auf die staatliche Gratiskran- kenversicherung Medicaid. Eine gesetzlich geregelte Mutterschaftskarenz oder Krankenstand treten zwar auch mit der Reform noch immer nicht in Kraft, aber die Versicherungen dürfen Patient_innen nicht mehr wegen früherer Erkrankungen ablehnen, höhere Prämien für Frauen verlangen oder eine Obergrenze für bezahlte Leistungen einziehen. Bisher blieben Patient_innen trotz bestehender Krankenversicherung oft auf sechsstelligen Krankenhausrechnungen sitzen, weil ihre Versicherungspolizze nur Behandlungskosten bis maximal 150.000 Dollar pro Jahr deckte. Dementsprechend waren horrende Behandlungskosten für 62 Prozent der Privatkonkurse in den USA verantwortlich.
Tobias hat seine Krankenversicherung verloren, als er seine Stelle im Büro der Kongressabgeordneten Claire McCaskill aufgab. Als der Kongress im März 2010 mit einer knappen Mehrheit für den Affordable Care Act stimmte, arbeitete er gerade für die Demokratin aus Missouri. An den Tag erinnert sich der Student noch gut: „Für mich war es ein Grund zu feiern“, sagt Salinger: „Doch niemand organisierte eine Party.“ Den 900 Seiten langen Gesetzestext, den damals alle Kongressmitarbeiter_innen ausgehändigt bekamen, hat sich Salinger aufgehoben. Über drei Jahre später kann sich der Student nun endlich für Obamacare anmelden.
Craig Giammona hingegen ist sauer. Für ihn und viele andere bedeutet der Affordable Care Act in erster Linie höhere Kosten. Anders als der Name vermuten lässt, wird eine Krankenversicherung für viele durch das Gesetz weniger „affordable“. Der Student hatte bisher eine sogenannte Katastrophenkrankenversicherung („catastrophic health insurance“). Das bedeutet: Alles unter 10.000 Dollar muss Giammona selbst bezahlen, erst bei höheren Kosten setzt seine Versicherung ein. „Das ist mein Plan: Ich versuche gesund zu bleiben“, sagt er. Doch eine solche Minimalversicherung ist unter dem neuen Gesetz nicht mehr zulässig und Giammonas Versicherung musste ihn kündigen. Statt 185 Dollar im Monat wird er nun 307 Dollar monatlich zahlen müssen. „Es ist ein schlechtes Gesetz. Eine umfassendere Reform würde ich jedoch unterstützen“, sagt Giammona. Gerade junge, gesunde Menschen wie Craig sind jedoch für den Erfolg der Versicherungsreform entscheidend. Jede Versicherung funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Je größer die Masse der Versicherten, desto stärker verteilt sich das Risiko und umso niedriger ist die Versicherungsprämie. Nur wenn sich genug gesunde Menschen anmelden, kann das System auch für Kranke kostendeckend sein.
Kritik von allen Seiten. Obamas Gesundheitsreform wurde von Anfang an von lautstarker Kritik von rechts begleitet. 47 Mal hat die republikanische Mehrheit im Repräsentant_innenhaus für eine Aufhebung des Gesetzes gestimmt. Und 47 Mal hat Präsident Obama dagegen sein Veto eingelegt. Schon jetzt ist klar, dass die republikanische Partei versuchen wird, Obamacare zum Hauptthema bei den Parlamentswahlen im November 2014 zu machen. Endgültig entschieden wird die Debatte aber wohl erst 2016, wenn ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt wird.
Die konservative Vereinigung der Kleinunternehmer_innen National Federation of Independent Business (NFIB) ist eine jener Gruppen, die in Washington massiv für eine Gesetzesänderung lobbyiert. Sie befürchtet beträchtliche Mehrkosten für ihre Mitglieder. Traditionell beziehen die meisten Amerikaner_innen ihre Krankenversicherung über ihre Arbeitgeber_innen. Wichtiges Kriterium für die Jobwahl sind neben dem Gehalt immer auch die sogenannten „benefits“. Dabei verhandeln Arbeitgeber_innen mit Versicherungen über die Bedingungen für ihre Arbeitnehmer_innen. Waren erstere bisher nicht dazu verpflichtet, ihre Angestellten zu versi- chern, ändert Obamacare diesen Umstand ab 2015. Firmen mit mehr als 49 Vollzeitangestellten müssen von nun an eine Krankenversicherung für jede_n vollbeschäftigte_n Mitarbeiter_in abschließen oder 2.000 Dollar Strafe pro Angestelltem_r zahlen. „Viele Arbeitgeber kürzen deshalb die Arbeitsstunden von Angestellten, um so Vollzeit- in Teilzeitstellen umzuwandeln“, sagt der Sprecher von NFIB Jack Mozloom. So können sie die Strafgebühren und die Kosten für Krankenversicherungen umgehen. An die komplette Rücknahme des Gesetzes glauben jedoch selbst die Gegner_innen nicht mehr wirklich. „Wir erkennen an, dass eine volle Aufhebung vorerst unwahrscheinlich ist“, schätzt Cynthia Magnuson von NFIB die Situation ein.
Die Diskussion um Obamacare spiegelt die tiefen ideologischen Spaltungen in den USA wider. Vor allem in den republikanisch dominierten Bundesstaaten im Süden und im Mittleren Westen ist ein Großteil der Bevölkerung skeptisch gegenüber allen staatlichen Regelungen und denkt, dass der oder die Einzelne für sein Schicksal selbst verantwortlich sei, nicht der Staat. Das bedeutet, niemand solle verpflichtet werden, eine Krankenversicherung abzuschließen. Kostensenkungen im Gesundheitssektor wären demnach am besten durch einen entfesselten Markt erreichbar.
Seit dem Anlauf von Obamacare im Oktober, reißt aber auch die Kritik von linker Seite nicht mehr ab: Das Gesetz gehe nicht weit genug. Wie in vielen anderen Ländern solle der Staat die Krankenversicherung übernehmen. Dadurch würde sich das Kostenrisiko tatsächlich auf viele verteilen und die Kosten für Behandlungen und Medikamente könnten gesenkt werden. Der eigentliche Hintergrund der Reform sind nämlich die horrenden Kosten der medizinischen Versorgung in den USA. Während in Österreich im Jahr 2011 pro Kopf umgerechnet 4.546 Dollar für Gesundheitsleistungen aufgewendet wurden, waren es in den USA laut OECD 8.508 Dollar. Dabei gehen die Österreicher_innen im Schnitt 6,9 mal im Jahr zum Arzt, während Amerikaner_innen nur auf 4,1 Arztbesuche kommen.
Teurere, bittere Pillen. Richtig zufrieden mit dem Gesetz ist eigentlich nur die Versicherungsbranche. Viele der 48 Millionen Amerikaner_innen ohne Krankenversicherung (bei einer Gesamtbevölkerung von 311 Millionen) werden demnächst zu ihren Kund_innen. Die günstigste und gleichzeitig populärste Versicherungsvariante, der sogenannte „Bronze Plan“, kostet laut marketwatch.com im Schnitt 249 Dollar pro Monat. Doch bisher ist der Andrang auf Obamacare „bescheiden“, wie Susan Millerick vom Versicherungsriesen Aetna sagt. Obamacare ist für viele schlichtweg zu teuer. Die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit haben die Mittelklasse schwer getroffen – die Reallöhne stagnieren seit Jahren.
Tatsächlich tut das Gesetz auch wenig, um die hohen Kosten für Gesundheitsleistungen einzudämmen. Wie das Time-Magazin mit der Titelgeschichte „Bitter Pill“ im März gezeigt hat, verrechnen Krankenhäuser ihren hilflosen Patient_innen Fantasiesummen. Als Teil einer 84.000 Dollar schweren Rechnung für eine Chemotherapie verlangte die Krebsklinik MD Anderson sieben Dollar pro Alkoholtupfer. Online kann man 200 Stück davon um 1,91 Dollar bestellen.
Anders als in Österreich agieren Krankenhäuser in den USA gewinnorientiert. Die Kliniken erwirtschaften riesige Überschüsse und zahlen Millionengehälter an ihre Leiter_innen. In dünn besiedelten Gegenden besitzen die Krankenhäuser oft Monopolstatus und können den Versicherungen und Patient_innen die Preise diktieren. Die Gesundheitsbranche ist in den USA inzwischen bei weitem der größte Wirtschaftssektor.
Überraschend an der großen Krankenversicherungsreform ist vor allem auch die holprige Umsetzung. Die staatliche Website healthcare.gov zur Anmeldung für die Krankenversicherung war so fehlerhaft, dass sie bald wieder offline ging. Im ersten Monat haben gerade einmal 106.000 Amerikaner_innen die Obamacare-Versicherung abgeschlossen.
Auch Tobias Salinger kann sich heute nicht anmelden. Die Homepage des Bundesstaats New York sagt, dass seine Identität nicht festgestellt werden kann. Am Telefon erfährt er, dass er auf einen Brief mit weiteren Instruktionen warten solle. Erst dann wird er erfahren, ob er sich eine Krankenversicherung überhaupt leisten kann. Mehr als 100 Dollar pro Monat könne er nicht zahlen. Immerhin lebt der Student derzeit von Studienkrediten. Als letzte Hoffnung bleibt ihm noch ein Antrag auf Medicaid, die Kran- kenversicherung für Arme.
Dominik Wurnig studiert Journalismus an der CUNY Graduate School of Journalism in New York.