Barbara Wakolbinger

Wohnst du schon?

  • 13.05.2013, 15:57

Während die Mietpreise in Wien und anderen Unistädten explodieren, kämpfen die BetreiberInnen von Studierendenwohnheimen mit Platznot und fehlenden Förderungen. Bis zu 90 Prozent der BewerberInnen müssen abgelehnt werden. Eine Entspannung der Lage ist derzeit kaum in Sicht. Wer leistbar wohnen will,braucht vor allem Glück.

Während die Mietpreise in Wien und anderen Unistädten explodieren, kämpfen die BetreiberInnen von Studierendenwohnheimen mit Platznot und fehlenden Förderungen. Bis zu 90 Prozent der BewerberInnen müssen abgelehnt werden. Eine Entspannung der Lage ist derzeit kaum in Sicht. Wer leistbar wohnen will,braucht vor allem Glück.

Drei Jahre lang hat Irina auf den Brief gewartet: Schon 2009, noch mitten in ihrem Archäologie-Studium, hat sie sich für eine Gemeindewohnung in Wien vormerken lassen. Mit dem Kuvert kam vor allem große Erleichterung: 49 Quadratmeter im zweiten Wiener Gemeindebezirk um 367 Euro. Viel nachzudenken gab es da nicht, Irina sagte zu. „Ich hatte Glück“, meint die 26-Jährige aus Steyr. „Da habe ich schon von ganz anderen Wartezeiten gehört.“ Denn der Wohnungsmarkt in Wien ist angespannt. Alleine im vergangenen Jahr stiegen die Mieten um etwa zehn Prozent. Seit 2007 verzeichnen Immobilienportale und -firmen eine Verteuerung von über 30 Prozent. Durchschnittlich elf Euro Miete bezahlt man inzwischen pro Quadratmeter. Besonders teuer sind kleine Wohnungen unter 50 Quadratmetern Fläche und jene in innerstädtischer Lage: zwei Faktoren, die vor allem Studierende treffen. Denn die Hälfte der österreichischen Studierenden lebt laut Studierenden-Sozialerhebung 2011 wie Irina in einem eigenständigen Haushalt, entweder alleine oder mit dem/der PartnerIn zusammen.

Bevor sie in ihre neue Gemeindewohnung gezogen ist, hat Irina im Studierendenwohnheim im Gasometer gewohnt. Ihr Zimmer dort war acht Quadratmeter groß, das Bad teilte sie sich mit einem Mitbewohner, die Küche und die Toilette mit drei. In dem klobigen Betonbau gab es nur wenig Licht und noch weniger Privatsphäre. Denn die beiden Mitbewohner im Doppelzimmer hatten ständig Besuch. „Ab und zu waren bis zu zehn Leute in dem Zimmer“, erzählt Irina. Aber sie war bereit, diese Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Denn immerhin kostete das Zimmer nur rund 260 Euro, Strom, Gas sowie Internet bereits inbegriffen. Im Vergleich dazu geben Studierende, die in einem selbstständigen Haushalt leben, laut Sozialerhebung rund 400 Euro pro Monat für die Miete aus. Das Internet oder die Heizung sind da noch nicht inkludiert. Auch Lisa zog für das Studium von Ottensheim in Oberösterreich nach Wien und erst einmal in ein Wohnheim. „Nach der Matura haben das die meisten Leute bei uns so gemacht. Weil man weniger Verantwortung hat und auch neue Leute kennenlernt“, erzählt sie.

Zu viele Bewerberinnen, überfüllte Wohnheime. Jedes Jahr strömen tausende StudienanfängerInnen in die Universitätsstädte Österreichs. Vielen von ihnen geht es ähnlich wie Lisa. Sie wollen erst einmal sorgenfrei und billig wohnen und bewerben sich in einem Wohnheim. Alleine für Wien listet das Wissenschaftsministerium 94 verschiedene Heime unterschiedlicher Größe: Von acht Plätzen bis zu mehreren hundert Betten ist alles dabei. Trotzdem ist der Andrang weitaus größer als das Angebot. Die Statistiken mehrerer großer Heimträgerorganisationen zeigen: Fast 80 Prozent aller BewerberInnen müssen abgewiesen werden. „In Wien ist die Situation am schlimmsten. Hier mussten wir fast 90 Prozent der Bewerbungen ablehnen“, erklärt Sabine Straßer, Geschäftsführerin von home4students. Die gemeinnützige Heimträgerorganisation ist einer der größten Anbieter und betreibt 16 Wohnheime in Wien, Graz, Klagenfurt, Salzburg und Innsbruck. Nach Wien ist die Lage in Innsbruck und Salzburg am kritischsten, am entspanntesten sei die Situation in Klagenfurt. Dort kann etwa der Hälfte der Anmeldungen stattgegeben werden. Das bestätigen auch die Zahlen der ÖJAB (Österreichischen Jugendarbeiterbewegung), ebenfalls einer der größten gemeinnützigen Heimbetreiber Österreichs: Von 8889 Anmeldungen für das Studienjahr 2012/13 mussten rund 7500 Bewerbungen abgelehnt werden, weil am gewünschten Studienort zur gewünschten Zeit keine Plätze mehr frei waren. Alleine 5012 Bewerbungen für 2400 verfügbare Plätze gab es in Wien, 1811 Bewerbungen für 421 Plätze waren es in Graz. Da viele Studierende länger als ein Jahr in einem Heim bleiben, sind viele der Betten aber schon im Vorhinein besetzt. Der Wettbewerb um die Heimplätze spiegelt auch den Wohnungsmarkt wider: In Wien, Innsbruck und Salzburg, wo die Mieten besonders teuer und der Platz knapp ist, gibt es die meisten Bewerbungen.

Gekürzte Förderungen, kaum Sanierungen. Es besteht also durchaus noch Bedarf an neuen Studierendenwohnheimen. „Wir wollen wachsen“, sagt auch Straßer. Woran es scheitert? „Vor allem an dem Mangel an leistbaren Immobilienobjekten. Das ist natürlich auch wieder eine Frage der finanziellen Mittel“, erklärt die home4students-Geschäftsführerin. Die finanziellen Mittel sind derzeit bei allen Heimträgerorganisationen knapp. Denn 2010 beschloss die Regierung im Zuge der Budgeterstellung, die Förderungen für Studierendenwohnheime zu streichen. Früher übernahm der Bund ein Drittel von Neubauoder Sanierungskosten, jetzt gar nichts mehr. Die Summe der Förderungen bewegte sich dabei jährlich etwa bei zehn bis elf Millionen Euro. „Das Tragische ist, dass diese Kürzung so ansatzlos passiert ist. Fast alle Studentenheimträger sind gemeinnützig. Das bedeutet, man darf keinen Gewinn machen und kann auch keine großen Rücklagen schaffen“, schildert Straßer. Das Geld für Sanierungen und Neubauten muss daher jetzt von den Studierenden kommen. „Wir mussten unsere Preise mehr als um den normalen Verbraucherpreisindex erhöhen, haben aber versucht, sie so niedrig wie möglich zu halten“, so Straßer. Laut Studierenden Sozialerhebung 2011 haben Studierende in Wohnheimen durchschnittlich die geringsten Kosten: 260 Euro müssen sie monatlich veranschlagen. Das liegt deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt der Wohnkosten von 350 Euro.

Noch profitiere die Organisation von einer alten Veräußerung und internen Umstrukturierungen. Im Heim Sensengasse im neunten Wiener Gemeindebezirk, wo auch die Verwaltung von home4students untergebracht ist, wurde im Herbst das Büro verkleinert. So wurden elf zusätzliche Betten geschaffen. Aber auch diese Maßnahmen geschehen in der Hoffnung, dass die Förderung wieder eingeführt wird. „Denn Sinn und Zweck der Übung ist es ja, leistbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Und leistbar hat seine Grenzen“, meint die Geschäftsführerin. Vor allem bei Neubauten könne die Situation ohne eine Wiedereinführung der Förderung kritisch werden. „Die Zimmer in Neubauten müssten dann auf jeden Fall teurer sein“, sagt Straßer. Sie schätzt, dass die Preise sich mindestens bei 400 Euro bewegen würden. Nicht jeder kann einfach in eines der home4students-Heime einziehen. Soziale Bedürftigkeit ist die Grundvoraussetzung, schon bei der Anmeldung müssen die Einkommensverhältnisse der Eltern offengelegt werden. „Der Rest ist Geschwindigkeit und Glück“, meint Straßer. Wer sich zuerst meldet und alle Kriterien erfüllt, bekommt den Platz. Da es keine offizielle Anmeldefrist gibt, sondern das ganze Jahr Bewerbungen eintreffen, wird nicht gereiht.

Auch private Anbieter erkennen zunehmend den Markt Studierendenwohnheim. Im Herbst 2013 wird mit dem Milestones-Wohnheim, unweit des neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien, das größte privatwirtschaftlich geführte Wohnheim Wiens eröffnen. Statt Zimmer gibt es dort Apartments, jedes mit einer Größe von 24 Quadratmetern. Fitness- Raum, Partydach und eine eigene Parkanlage sind selbstverständlich. Dieser Luxus hat allerdings auch seinen Preis: 550 Euro pro Monat wird ein Apartment kosten. „Wenn die Gemeinnützigen nicht mehr können oder die notwendig gewordenen hohen Preise mit ihrer Philosophie nicht mehr vereinbaren können, wird es der private Markt auffangen. Da geht es um Gewinnmaximierung“, sagt Straßer.

Steigende Mieten, befristete Verträge. Das Geld der gemeinnützigen Studierendenwohnheime wird in den nächsten Jahren noch knapper werden, aber schon jetzt hätten einige Heime Sanierungen dringend nötig. Im Herbst 2009 zog sie Lisa in ein Wohnheim in Wien Josefstadt. Dort wohnte sie um 224 Euro in einem „Mini-Doppelzimmer“. Internet musste sie extra bezahlen. „Das war für mich wirklich eine schlimme Zeit. Ich habe in einem ziemlich heruntergekommenen Zimmer gelebt, eingepfercht auf engstem Raum mit einer wildfremden Person. Die Gemeinschaft war zwar nicht schlecht dort, aber es war alles alt, dreckig und ziemlich trist“, schildert die heute 21-Jährige. Sobald wie möglich zog Lisa aus und suchte sich ein neues Heim. Dort gab es mehr Platz und nach kurzer Wartezeit auch ein Einzelzimmer. Auf Dauer war das für sie trotzdem nicht die ideale Wohnlösung. „Irgendwann konnte ich diese Einheitsbrei-Möbel nicht mehr sehen und irgendwann nervt es auch einfach nur noch, beim Kochen immer alles sofort wegräumen zu müssen“, erklärt die Journalismus-Studentin. Heute wohnt sie mit zwei anderen Studentinnen in einer Wohngemeinschaft in Wien Alsergrund. „Ich habe mich so gefreut, als ich das erste Bild an die Wand genagelt habe“, erinnert sie sich. Mit Strom und Gas kommt sie für ein 18 Quadratmeter großes Zimmer auf Mietkosten von rund 350 Euro. Etwa ein Viertel der österreichischen Studierenden teilt sich laut Sozialerhebung die Wohnungskosten mit anderen und lebt in einer WG.

Das käme auch für Manuel in Frage. Seit zwei Jahren sucht er in Wien eine Wohnung. Noch lebt der Biologiestudent bei seinen Eltern. „Sobald ich etwas Leistbares finde, bin ich weg“, meint der 20-Jährige. Bei der WG-Suche scheiterte es oft an der Lage oder an hohen Preisen für kleine Zimmer. Denn immer mehr Menschen leben in Österreichs Städten, oft in Einzelhaushalten. Dagegen werden viel zu wenige Neubauten errichtet, warnen etwa Wohnbaugesellschaften wie die BUWOG. Das schafft ein Platzproblem. Laut den Berechnungen der Plattform immobilien.net steigen die Preise am stärksten in den Ballungsräumen, neben Wien wird so etwa auch der oberösterreichische Zentralraum Linz-Wels-Steyr immer teurer. Absoluter Spitzenreiter in Sachen Mietpreise bleibt allerdings Innsbruck. Die größten Mietsteigerungen gibt es bei privaten VermieterInnen, wobei der Trend auch in Richtung befristeter Verträge geht. Diese Erfahrung hat auch Manuel gemacht. Als er zu Freunden in eine WG ziehen wollte, verlängerte der Vermieter den Vertrag nicht wie mündlich versprochen um weitere drei Jahre. Die zwei Studenten mussten ausziehen und Manuel seine Kartons wieder auspacken. 

Zeit oder Geld

  • 31.03.2013, 23:08

Substandardwohnungen, Aushilfsjobs und trotzdem kein Geld. Vor allem für Studierende aus sozial schwachen Familien tun sich Lücken in Österreichs Sozialnetz auf.

Substandardwohnungen, Aushilfsjobs und trotzdem kein Geld. Vor allem für Studierende aus sozial schwachen Familien tun sich Lücken in Österreichs Sozialnetz auf.

Eine 30-Quadratmeter-Substandardwohnung in Wien Margareten, nur wenn man ein Brett über die Dusche legt, kann man gemütlich aufs Klo gehen. Geheizt wird mit einem Gaskonvektor, im Winter klettert die Temperatur oft nicht über 18 Grad. So wohnt Sina derzeit, sie lebt von 600 Euro im Monat. 290 Euro kostet die Miete für ihr Zimmer mit kleiner Küche im Vorzimmergang, 100 Euro Energiekosten kommen dazu. Die 26jährige Studentin zündet sich eine Zigarette an – auf dieses Laster möchte sie nicht verzichten.   Etwa 100 Euro im Monat hat sie für Zigaretten veranschlagt, mehr als für Essen. In manchen Monaten kommt sie mit 80 Euro für Lebensmittel aus. „Jede neue Jeans ist eine Investition, auf die ich sparen muss. Shoppen gehe ich gar nicht“, erzählt die Romanistikstudentin. Sie arbeitet vier Abende die Woche in einem großen österreichischen Möbelhaus, für achtzehn Stunden  verdient sie etwa 450 Euro. Von ihren Eltern kommen weitere 150 dazu, sie übernehmen auch die Studiengebühren.

Anspruch auf Studienbeihilfe hatte sie nie, die Eltern verdienen zu viel. Und das, obwohl Sinas Mutter schon seit Jahren nicht mehr arbeitet, der Vater ist Alleinverdiener. Er kann die Studentin nur mit kleinen Beiträgen unterstützen. „Einfach mal nur studieren wäre schon toll“, meint die gebürtige Deutsche.

Stipendium, nicht für alle. Damit sich Studierende aus sozial schwächeren Familien, in denen die Eltern keinen oder nur einen sehr kleinen Beitrag leisten können, auf ihr Studium konzentrieren können, hat der Staat Österreich die Studienbeihilfe vorgesehen. Bis zu 679 Euro werden pro Monat überwiesen. Laut Studierenden-Sozialerhebung im Jahr 2011 erhalten 22 Prozent der  österreichischen Studierenden Unterstützung vom Staat – in Form von konventioneller Studienbeihilfe, Selbsterhalterstipendium oder Studienabschluss-Stipendium. Doch die Kriterien sind streng, arbeiten beide Eltern Vollzeit, ist eine Zuerkennung  unwahrscheinlich. Berücksichtigt wird dabei nicht, ob die Eltern ihr Kind tatsächlich unterstützen, sondern nur das Einkommen.  BezieherInnen dürfen nicht mehr als 8000 Euro im Jahr dazuverdienen, das Studium darf nicht öfter als zweimal gewechselt werden  und muss in der vorgesehenen Zeit absolviert werden, ein Toleranzsemester inbegriffen. Wer erschwerende Umstände, wie eine  besonders aufwändige Diplomarbeit oder ein Auslandssemester, vorweisen kann, bekommt ein weiteres Semester Aufschub.

Doch was passiert, wenn sich das Studium länger hinzieht? Ab dem 25. Lebensjahr fällt die Familienbeihilfe weg, die Studienbeihilfe  ebenso, sobald die reguläre Studienzeit um ein Jahr überschritten wurde. „Da begann für mich der ewige Behördenweg“, erinnert sich  Maja. Plötzlich wollte niemand für die 25Jährige zuständig sein, die ein sieben Quadratmeter großes Zimmer im  Studierendenwohnheim Gasometer hatte. „Luxus war sowieso nie“, sagt Maja. Sie kommt aus einer finanziell schlechtergestellten  Familie, die Eltern in der Steiermark konnten sie nicht unterstützen. Studienbeihilfe und Familienbeihilfe garantierten der Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie ein halbwegs sicheres Auskommen, jetzt blieb das Konto plötzlich leer. Die bedarfsorientierte  Mindestsicherung schien ein Ausweg, aber das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hält fest: „Ein Studium, selbst wenn es vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen wurde, ist nicht als Erwerbs- oder Schulausbildung zu werten. Es stellt daher keine  Ausnahme für den Einsatz der Arbeitskraft dar. BezieherInnen der bedarfsorientierten Mindestsicherung müssen bereit sein, ihre  Arbeitskraft einzusetzen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dies kann im Falle eines Studiums in der Regel nicht angenommen werden.“

Ein Verweis auf Studienbeihilfe und Selbsterhalterstipendium folgen. Eine Lücke im sozialen Netz  Österreichs? Für Maja begann ein wochenlanger Amtsweg – vom Arbeitsmarktservice (AMS), wo man für sie als Studentin nicht zuständig sein wollte, zum Sozialamt  Magistratsabteilung 40 und wieder zurück. „Niemand wusste genau, wie mein Fall zu beurteilen ist“, erzählt sie. Schließlich doch  eine Auskunft: Kann die Antragstellerin versichern, dass das Studium innerhalb eines Jahres abgeschlossen wird und meldet sich gleichzeitig  beim AMS als arbeitssuchend, kann der Bezug der Mindestsicherung für ein Jahr gestattet werden. Maja war glücklich –  somit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war der bürokratische Aufwand. Neben den regelmäßigen Terminen beim AMS musste sie  auch Bewerbungen nachweisen und Schulungen – etwa für richtiges Bewerben oder Computerbasiskenntnisse – besuchen.

Zwischendurch arbeitete sie immer wieder, denn Jobangebote durfte sie nicht ablehnen, auch wenn es eigentlich mehr Stunden  waren als vereinbart. Für die Diplomarbeit blieb dabei wenig Zeit, ein Jahr verging schneller als gedacht. Und plötzlich stand sie wieder da: ohne Job, ohne Versicherung und ohne Geld.

Sicherheitsnetz Eltern. Inzwischen hat Maja ihre Diplomarbeit abgeschlossen und steht kurz vor der Diplomprüfung. Um über die  Runden zu kommen, arbeitet sie derzeit 20 Stunden bei der Post, das AMS hat ihr diese Stelle vermittelt. Auch bei der Studierenden- Sozialerhebung erklärten viele der Befragten, finanzielle Schwierigkeiten zu haben. „Die Hauptgründe dafür sind, dass die Eltern  nicht mehr zahlen können und unerwartete Ausgaben“, schildert Angelika Grabher vom Institut für höhere Studien (IHS), das die  Studierenden-Sozialerhebung erstellt. Finanzielle Schwierigkeiten sind neben sozialer Herkunft und Migrationshintergrund auch  stark vom Alter abhängig: 42 Prozent der 29Jährigen klagen über Probleme. Inwiefern sich die Kürzung der Familienbeihilfe auf die finanziellen Schwierigkeiten auswirkt, ist statistisch noch nicht erfasst. „Allerdings führen ein Viertel der Studierenden mit Schwierigkeiten diesen Wegfall als Mitgrund für ihre Probleme an“, führt Grabher aus. Mariela hingegen kann sich auf ihre Eltern  verlassen, die 23Jährige Jusstudentin arbeitet nur in den Ferien.

Im vergangenen Sommer hat sie ein Praktikum bei einer Anwaltskanzlei absolviert. Ihr Zimmer in einer Wohngemeinschaft plus  monatliches Taschengeld für Essen, Shoppen und Freizeit übernehmen die Eltern, die beide selbst AkademikerInnen sind. „Da bin ich echt dankbar“, sagt sie. Der größte Vorteil: Sie kann sich völlig ungestört auf ihr Studium konzentrieren. Das zeigt auch der  Studienfortschritt, Mariela liegt gut in der Zeit, macht neben den großen Jusprüfungen auch ab und zu Kurse auf der Hauptuni.  „Meine Eltern wollen das aber auch sehen, ich dürfte sicher keine zehn Jahre brauchen“, erzählt die Wienerin. Wer keine oder zu wenig Unterstützung vom Staat und von der Familie erhält, muss sich selbst versorgen. Die meisten suchen sich wie Sina einen Job,  oft ist dieser nicht einmal studienrelevant. Auch für Praktika, die den Lebenslauf aufbessern und erste Berufserfahrung bringen,  hatte Sina nie Zeit. „Das ist sicher ein Nachteil bei der Arbeitssuche später“, sagt sie. Die Studierenden- Sozialerhebung 2011 zeigt,  dass 63 Prozent aller Studierenden im Sommersemester 2011 erwerbstätig waren. 47 Prozent sogar das ganze Semester durchgehend. „Eine Zunahme gibt es vor allem bei der durchgehenden Erwerbstätigkeit“, erklärt Grabher.

Dabei bleibt häufig das Studium auf der Strecke. Denn zehn Prozent der Befragten gaben an, 20 bis 35 Stunden in der Woche zu  arbeiten, bei elf Prozent waren es sogar über 35 Stunden. „Die Hälfte der erwerbstätigen Studierenden hat Probleme mit der  Vereinbarkeit von Studium und Erwerbstätigkeit“, so Grabher. Ein Drittel wolle die Arbeitsstunden reduzieren, um mehr Zeit fürs  Studium zu haben.

Studium vs. Arbeit. Acht Prozent der Befragten der Studierenden-Sozialerhebung können nur wenig (unter zehn Stunden pro Woche)  oder gar keine Zeit für ihr Studium aufwenden. Das liegt vor allem an ihrer umfassenden Erwerbstätigkeit. Viel Arbeit hat natürlich  auch Auswirkungen auf die Studiendauer: Für drei Viertel der Studierenden mit geringer Studienintensität  wird sich die Studiendauer über die Regelstudiendauer ausdehnen, rund ein Drittel wird wahrscheinlich doppelt so lang studieren wie in der Regelvorgesehen. Fallen aufgrund dieser Überschreitungen Beihilfen weg, muss noch mehr gearbeitet werden. Ein Teufelskreis zu Lasten des Studiums beginnt. Christoph hat den Vergleich: Sein Bachelorstudium in Volkswirtschaftslehre hat er noch ohne  Nebenjob absolviert, Studienbeihilfe und eine Substandardwohnung, die er zusammen mit seinem Freund bewohnte, haben ihm durch die ersten Semester geholfen. Seine Eltern konnten ihn nie unterstützen. Der Erfolg der reinen Studienzeit ist klar zu sehen:   Der 23Jährige ist inzwischen im Master und immer noch in Mindeststudienzeit.

„Eigentlich wollte ich nie arbeiten, das Studium war mir immer viel wichtiger“, erzählt er. Alser sich allerdings eine eigene Wohnung  suchen musste und die Mutter wieder zu arbeiten begann, sank die Studienbeihilfe, während die Fixkosten stiegen. „Bei der  Berechnung der Beihilfe wird nur das nominale Einkommen berechnet, Kredite der Eltern oder ob sie mir den Betrag tatsächlich  überweisen, spielt keine Rolle“, schildert er. Auf diese spezielle Situation könne keine Rücksicht genommen werden, lautete die  Antwort der zuständigen Stelle. Ohne Job ging es nicht mehr. 18 Stunden die Woche arbeitet Christoph bei einem  Wirtschaftsforschungsinstitut – zusammen mit der Studien- und Familienbeihilfe ergibt das ein solides Einkommen. „Aber natürlich  hat man viel weniger Zeit fürs Studium. Zuerst habe ich versucht, mein übliches Pensum an Lehrveranstaltungen zu  machen. Das war kein angenehmes Semester“, erzählt Christoph.

Die Entscheidung zwischen Arbeit und Studium hat auch weitere Nachteile: Ein Auslandssemester konnte Christoph nicht  absolvieren, obwohl er seine Zukunft nicht in Österreich sieht. Zuerst hatte er kein Geld, nun keine Zeit.

Wiens „Shooting Girls“

  • 24.02.2013, 09:41

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Auf der Treppe zum zweiten Stock des Jüdischen Museums Wien in der Dorotheergasse blickt den BesucherInnen eine Gestalt entgegen: Um den Hals eine große, schwarze Kamera aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein schweres Stativ und eine Lampe geschultert, in der Hand eine Tasche mit weiterem Zubehör: Eine professionelle Fotografin am Weg zur Arbeit. Es handelt sich um Lilly Joss Reich, eines jener „Vienna Shooting Girls“, denen das Museum derzeit eine zweistöckige Ausstellung widmet. Denn die Fotostudios in Wien vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren fest in weiblicher, jüdischer Hand.

Von Trude Fleischmann bis Alice Schalek nutzten jüdische Frauen eine der wenigen Nischen in der bildenden Kunst, die ihnen die Männer gelassen hatten, und betrieben bald die erfolgreichsten und renommiertesten Ateliers der Stadt. 1907 eröffnete Dora Kallmus, später besser bekannt als Madame d’Ora, als erste Frau ein Fotostudio in Wien. An der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt durfte sie nur als Gasthörerin anwesend sein, ihr Atelier wure später zu einer Lehr- und Lernstätte für den Fotografinnennachwuchs. Gleich zu Beginn der Ausstellung begegnen BesucherInnen ihr und ihren rund vierzig Kolleginnen: Ein Selbstporträt zeigt sie halb hinter einer schwarzen Katze versteckt, ein wenig skeptisch in die Kamera blickend. Mit ihrem ganz eigenen Stil der Mode- und Porträtfotografie prägte Kallmus viele jüngere Kolleginnen und wurde selbst in der Metropole Paris berühmt und geschätzt.

Berufsfotografinnen. Schon im 19. Jahrhundert waren in Wiens Fotostudios zahlreiche Frauen zugange, allerdings meist als namenlose Helferinnen oder Ehefrauen. Als eine der ersten selbstständigen Berufsfotografinnen expandierte Bertha Wehnert-Beckmann von Leipzig aus nach Wien und New York. Die Fotografie war jedoch bereits vor ihrer Ankunft in Österreich durchaus auch in weiblichen Händen. In der 1861 gegründeten Photographischen Gesellschaft tummelten sich auch weibliche Mitglieder wie etwa Julie Haftner, Wien konnte zudem drei weibliche k.u.k. Hoffotografinnen verzeichnen. Mit der Entwicklung der handlicheren Klein- und Mittelformatkameras sowie der Öffnung der „Graphischen“ für  Frauen 1908 boomte das Fotografinnenwesen in Wien.

Besonders Frauen des liberalen jüdischen Bürgertums wählten den Beruf der Fotografin. Sie stammten aus Elternhäusern, in denen auch Mädchenbildung ein Thema war. Der Anteil jüdischer Schülerinnen in den Mädchenlyzeen des späten 19. Jahrhunderts war etwa achtmal so hoch wie der Anteil jüdischer BürgerInnen an der Gesamtbevölkerung. Die wachsende Zahl jüdischer Fotografinnen illustrieren sowohl eine Projektion des Wiener Stadt plans in der Mitte des ersten Raumes, auf der immer mehr Punkte für den Zuwachs an Studios stehen, als auch die Porträts erfolgreicher jüdischer Frauen, die sich wiederum von Frauen fotografieren ließen. So finden sich Porträts von Berta Zuckerkandl, Bertha von Suttner, aber auch Rosa Mayreder.

Aber nicht nur Frauen, alles, was Rang und Namen hatte, kam in die Studios der Fotografinnen: Kaiser Karl I. von Österreich samt Thronfolger Otto, Admirale und Fürsten. SchauspielerInnen ließen sich in ihren Rollenkleidern ablichten, Adelige etwa beim „Caroussel“ oder bei feierlichen Umzügen. Später finden sich berühmte und gedruckte Porträts von Karl Kraus, Max Reinhardt oder Stefan Zweig. Die Arbeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf Studiofotografien: Auch in der Kunst- und Amateurfotografie fassten Frauen zunehmend Fuß. Mit bewusst eingesetzten Unschärfen und Glanzlichtern machten die Fotografinnen ihre Studioaufnahmen zu Kunstwerken. Neben klassischen Porträts waren aber auch Landschaften, Großstädte und Architektur begehrte Motive. Mit Mode- und Produktfotografie verdienten die Fotografinnen zusätzlich. Trude Fleischmanns Blumenstillleben Schneeglöckchen im Glas ist hier ebenso zu sehen wie ein Modefoto von Pepa Feldscharek, das eine Dame mit fein ondulierten Haarwellen in einem teuren Blumenrankenkleid zeigt. Vor allem die neu aufkommenden Illustrierten der 1920er-Jahre waren bei solchen Aufnahmen gute Kunden, auch das Aufkommen der Autogramm- und Starpostkarten beflügelte das Geschäft.

Wandelbares Frauenbild. Die Ausstellung zeigt aber nicht nur das Leben erfolgreicher Fotografinnen, in den Werken selbst spiegelt sich das dynamische Frauenbild der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Es sind teils sehr unkonventionelle, moderne und frische Bilder, die an den starren Normen der Gesellschaft rütteln und freche Flapper Girls (ein Trend der 1920er aus den USA, der kurze Röcke und kurzes Haar, Zigaretten und Alkohol durch Provokation für Frauen salonfähig machte), androgyne Garconnes, aber auch Intellektuelle, Akademikerinnen und Anhängerinnen der Frauenbewegung, sogenannte „Blaustrümpfe“, porträtierten.

Für Aufsehen sorgten auch Trude Fleischmanns heute weltberühmte Abbildungen nackter Tänzerinnen, die ebenfalls Ausdruck eines sportlicheren und natürlicheren Körperbilds waren sowie die gesellschaftliche Befreiung zum Ausdruck brachten. Auch Madame d’Ora widmete sich dem Tanz und fotografierte den deutschen Skandaltänzer Sebastian Droste zusammen mit seiner Ehefrau Anita Berber in verschiedenen Tanzszenen. Eine ganz andere Form der Fotografie prägte dagegen Alice Schalek: Als einzige weibliche Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartieres hielt sie den Ersten Weltkrieg dokumentarisch fest, reiste aber auch durch Indien, Sumatra oder Japan und veröffentlichte ihre Werke in Bildbänden.

Emigration, Flucht, Exil. Mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 war die Wiener Sternstunde der jüdischen Fotografinnen schlagartig vorbei. Die roten Punkte der Studios am Wiener Stadtplan nahmen radikal ab und verstreuten sich in Richtung London, Paris und Vereinigte Staaten. Madame d’Ora, jetzt wieder Dora Kallmus, überlebte wie auch Erna Adler-Rabus in der Illegalität in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Noch aus ihrem Versteck in Amsterdam fotografierte Maria Austria (eigentlich Maria Caroline Östreicher) 1943 Deutsche Soldaten marschieren durch die Vondelstraat, nach dem Ende des Krieges besuchte und dokumentierte sie das Versteck der Anne Frank. Jedoch nicht alle konnten sich retten: Eugenie Goldstern, Edith Barakovich oder Hilde Zipper-Strnad wurden zusammen mit vielen weiteren Fotografinnen ermordet oder in den Freitod getrieben. Während sich Trude Fleischmann in New York als Fotografin für Illustrierte eine neue Existenz aufbauen konnte, und etwa Albert Einstein oder Oskar Kokoschka ablichtete, und Camilla Koffler als Ylla mit ihren Tierreportagen weltberühmt wurde, zwang der Krieg andere, ihren Traumberuf für immer aufzugeben. Ein  einschneidendes Erlebnis und Trauma blieb aber bei allen Geretteten zurück: Elly Nieblar dokumentierte in nüchternen schwarz-weißen Aufnahmen den Wiederaufbau des Stephansdoms, Sowjetpanzer am Stalinplatz (heute Schwarzenbergplatz) und zerbombte Häuser in Wien. Auch Dora Kallmus, früher als Madame d’Ora für ihre Mode-, Star- und Glamourporträts bekannt, wandte sich nach dem Krieg realistischeren Sujets zu und fotografierte unter anderem eine Serie in den Schlachthöfen von Paris.

 

Actionheldin im Hintergrund

  • 30.09.2012, 03:09

Wenn Heldinnen fallen, Autos explodieren und sich erbitterte Gegnerinnen duellieren, ist sie zur Stelle. Cornelia Dworak arbeitet als Stuntfrau.

Wenn Heldinnen fallen, Autos explodieren und sich erbitterte Gegnerinnen duellieren, ist sie zur Stelle. Cornelia Dworak arbeitet als Stuntfrau.

Stürze aus großer Höhe, rasante Autofahrten, Kampfduelle – was für manche außergewöhnliche Adrenalinkicks sind, ist für Cornelia Dworak Alltag. Die 31-Jährige arbeitet als Stuntfrau, in Österreich eine Seltenheit. Deshalb studierte Dworak auch Biologie mit  Schwerpunkt auf Zoologie, die Stunts kamen nebenbei und schleichend. „Ich hab während des Studiums jemanden getroffen, der das gemacht hat und meinte: ‚Das wäre was für dich.‘ Zuerst habe ich mir gedacht: ‚Schwachsinn – gerade in Österreich. Und der gesamte Beruf ist ja irgendwie absurd‘“, erzählt die Stuntfrau.

Angefangen hat es mit einem Interesse für Tanz und Bühnenkampf, Kindertanz, Puppentheater und viel Sport. Trainings und Workshops auf der ganzen Welt folgten. 40 Stunden pro Woche in einem Büro zu sitzen, will und kann sich Dworak nicht vorstellen. Am Ende fiel die Entscheidung gegen die Biologie und für das Stuntgeschäft aus: „Ich hab mir gedacht, ich nehm das, was als erstes kommt. Und das waren die Stunts.“ Am Anfang noch bei einer Firma beschäftigt, ist Dworak seit 2009 selbstständige Stuntfrau – und damit in Österreich alleine auf weiter Flur. Denn die Stuntszene ist klein und Frauen sind eine Ausnahmeerscheinung. Die meisten Stuntfrauen üben andere Berufe aus und arbeiten nur hin und wieder für Film oder Bühne.

Heldinnen? – Fehlanzeige! Dworak schätzt die Zahl der aktiven nebenberuflichen Stuntfrauen in Österreich auf rund fünf. Dass es nicht mehr sind, liegt vor allem daran, dass Frauen in Filmen immer noch seltener als Männer in Gefahr geraten. Sei es auf Bühnen oder im Film, kaum eine Frau prügelt sich, wird überfahren oder fällt die Treppe hinunter. Die starken Actionheldinnen finden sich überhaupt nur in Hollywood. „Ich habe viel mit allen möglichen Waffen gearbeitet“, sagt Dworak. „Aber wann kommt man als Frau schon mal dazu, das auf der Bühne auch zu machen?“, fragt sie. Deshalb hat die Stuntfrau ein breites Repertoire – vom Autofahrenbis zum Bühnenkampf. Sie erarbeitet Kampfchoreografien und Anleitungen für SchauspielerInnen.

Zwischendurch unterrichtet sie auch, macht Workshops und hält Stunden in einer Schauspielschule. Im Unterschied zu den USA gibt es für SpezialistInnen in Österreich allerdings wenig Platz. Neben dem Können kommt es auch auf die Statur an – für die Haarfarbe  gibt es Perücken, aber die Körpergröße muss in etwa passen. „Ich kann zwar keine Ein- Meter-sechzig-Frauen doubeln, dafür bin ich auch schon für Burschen gefallen“, schmunzelt Dworak. Auch wenn sich Frauen nur selten durch Filme prügeln, spielt der Kampf eine wichtige Rolle in Dworaks Alltag. Einige Jahre lang hat sie aktiv Kampfsport gemacht, jetzt trainiert sie eher die eleganten Choreografien des Bühnenkampfs wie etwa Fechten. Beides ist in österreichischen Theaterund Filmproduktionen jedoch wenig gefragt: „Der unbewaffnete Kampf, den ich dort mache, ist sehr neutral. Normalsterblichengerangel. Ohne irgendeine Ausbildung, einfach drauflos, das wird hier am ehesten gebraucht.“ Damit stehen die westlichen Bühnen und Filme mit ihrem „dreckigen“, unpräzisen kämpfen in starkem Gegensatz zu Asien, wo es häufig auf die Kunst des Kämpfens ankommt, erklärt Dworak.

Konzentration statt Kick. Ein Leben voller Höhenstürze und Fechteinlagen – klingt aufregender als es ist, meint die 31-Jährige. „Als Profi kann man es gar nicht wegen des Kicks machen. Die Chance, dann eine Verletzung davonzutragen, ist viel zu groß.“  Stattdessen muss man vorher genau abwägen, wie groß das Risiko ist und wie man es minimieren kann. Es geht um Kontrolle und  Kalkulation. „Es ist eher so, dass man sich auch einmal trauen muss, einfach nein zu sagen,“ so Dworak. Denn der Körper ist das Werkzeug der Stuntfrau. Verletzt sie sich, bedeutet das Arbeitspause. Als Frau in einer Männerdomäne hat Dworak keine Probleme: "Ich glaube schon, dass einem als Frau skeptischer gegenübergetreten wird. Man muss sich mehr beweisen. Aber sobald man das geschafft hat, ist es überhaupt kein Problem mehr.“ Trotzdem wurde ihr Auto, auf dem eine Werbung für ihr Stuntgeschäft angebracht ist, automatisch ihrem männlichen Begleiter zugeordnet. „Ich denke, es kommt auf den Typ an, nicht aufs Geschlecht.“

Manchen würde dieser Beruf eben liegen, anderen nicht. Genauso müssten sich Automechanikerinnen beweisen, und dass, „obwohl es genauso viele Männer mit zwei linken Händen gibt“. Ewig wird Dworak den Beruf als Stuntfrau nicht ausüben können. „Körperlich ist man sicher irgendwann zu alt dafür“, sagt sie. Dann muss sie ihre Schwerpunkte verlagern – weg von heftigen Stürzen, hin zu Choreografien oder Präzisionsfahrten mit dem Auto. Hier zählt die Erfahrung.

„Einfach hinhauen kann ja jeder“

  • 30.09.2012, 02:42

Kontrolle statt pure Brutalität: Mirneta und Mirnesa Becirovic trainieren Jiu Jitsu, den „sanften“ Kampfsport aus Japan.

Kontrolle statt pure Brutalität: Mirneta und Mirnesa Becirovic trainieren Jiu Jitsu, den „sanften“ Kampfsport aus Japan.

Lange blonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, zierlich, etwa einen Meter fünfundsechzig groß, die Augen sorgfältig geschminkt, auf dem rechten Eckzahn ein silber funkelnder Schmuckstein – so sehen amtierende Vizeweltmeisterinnen in Jiu Jitsu aus. Seit ihrem siebten Lebensjahr praktizieren die eineiigen Zwillinge Mirneta und Mirnesa Becirovic Jiu Jitsu, die sanfte und  nachgebende Kampfkunst aus Japan. „Wir sind mit dem Sport aufgewachsen, eigentlich können wir uns gar nicht an die Zeit vor Jiu Jitsu erinnern“, sagen die heute Zwanzigjährigen aus Pressbaum in Niederösterreich. Schon als kleine Kinder waren sie fasziniert vom Trainingsgewand der älteren Jiu Jitsuka, dem Gi. Mit dem sechsten Geburtstag war endlich die Altersgrenze für den Verein in Pressbaum erreicht, und seither trainieren die beiden fast täglich. „Der Sport ist ein Teil von uns geworden“, erzählen Mirneta und Mirnesa, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen.

Auch wegen ihrer Leidenschaft für den Kampfsport entschieden sich die beiden nach der HAK für eine Ausbildung in der Polizeischule. Dort haben sie die Möglichkeit, Jiu Jitsu in ihr tägliches Leben zu integrieren. Zwei Jahre länger dauert die Ausbildung, dafür ist ein tägliches Training von etwa drei Stunden möglich. „Natürlich müssen dazu die sportlichen und schulischen Leistungen passen“, nicken die Zwillinge. Und das tun sie in ihrem Fall: Den wichtigsten Wettkampf der Saison, das Paris Open, konnten die beiden für sich entscheiden. Jetzt trainieren sie für die WeltmeisterInnenschaft, die im November und Dezember in Wien stattfinden wird.

Beim Duo-Wettkampf treten die AthletInnen zu zweit an und liefern einen choreografierten Schaukampf – mit Tritten, Schlägen und Schreien. Bewertet werden Präzision, Technik, Timing und Auftreten. „Es sieht brutal aus und natürlich holt man sich den einen oder anderen blauen Fleck, aber wirklich verletzt haben wir uns glücklicherweise noch nie“, erklären die Niederösterreicherinnen. Einen
kleinen Vorteil haben sie als Zwillinge vielleicht schon, geben sie zu: „Wir kennen und vertrauen uns einfach und sind richtig eingespielt. Wir haben eben von Anfang an miteinander trainiert.“ Bei Jiu Jitsu komme es auf die Kunst an, kontrolliert zu schlagen, sagen Mirneta und Mirnesa. Kampfsport müsse nicht brutal sein, das sei gar nicht notwendig. Es sei viel wichtiger, sich verteidigen zu können und die Kraft des Gegners gegen ihn selbst zu verwenden. „Einfach nur hinhauen kann jeder.“ Den einen oder anderen schrägen Blick ernten die Zwillinge immer wieder, wenn sie von ihrem Sport erzählen. Blöde Kommentare wie „Uh, da muss ich ja gleich aufpassen“ inklusive.

Für die beiden sind Frauen im Kampfsport dagegen selbstverständlich. Mit den teils schockierten Reaktionen gehen sie locker um: „Man sieht es uns vielleicht nicht an, aber der Sport gehört zu uns dazu. Wir nehmen den Schock aber keinem übel, genauso wie wir uns daran gewöhnt haben, ständig verwechselt zu werden“, lachen die beiden.

Nach der Haft ist vor der Haft

  • 27.09.2012, 01:49

Der Neubeginn nach einer längeren Gefängnisstrafe ist schwierig. Resozialisierungsmaßnahmen sollen helfen, ehemalige Häftlinge wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Realität innerhalb und außerhalb der Mauern sieht aber anders aus.

Zehn Jahre lang die gleiche Routine: Aufstehen um sechs Uhr, Frühstück, Arbeitsdienst oder schlichtes Zeittotschlagen. Menüplan bis Kleiderwahl – alles ist geplant und fremdbestimmt. So sieht das Leben in Haft für derzeit mehr als 8700 Menschen in Österreich aus. Doch plötzlich ist alles ganz anders, die Entlassung steht bevor, von nun an ist man wieder auf sich selbst gestellt. Beinahe so schwierig wie das Leben hinter Mauern ist die Neuorientierung danach.
Das Gefängnis steht im klassischen Sinn für Bestrafung und sichere Verwahrung von RechtsbrecherInnen – ein wichtiger Aspekt ist aber auch die Resozialisierung von Häftlingen. Diese wird gegenüber Sicherheitsfragen allerdings oft vernachlässigt. So sieht das auch Arno Pilgram, wissenschaftlicher Leiter des außeruniversitären Wiener Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie: „Es ist natürlich das Risiko für die Vollzugsverwaltung wesentlich größer, kurzfristig bei der Sicherheitsverwirklichung zu versagen, als für ein Versagen bei der langfristigen Resozialisierung zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Flucht etwa ist leichter vorwerfbar und medial skandalisierbar.“

Sicherheit an erster Stelle. Für den Staat steht Sicherheit im Vordergrund, für die Häftlinge sieht es aber ganz anders aus. Im Idealfall beginnt Resozialisierung bereits am ersten Tag der Haft. Laut dem Strafvollzugsgesetz steht jedem Häftling ein Vollzugsplan zu. Dieser legt fest, an welchen Schwächen gearbeitet und welche Ziele erreicht werden sollen. Unter anderem sind eine psychotherapeutische Behandlung, aber auch individuelle Maßnahmen wie zum Beispiel Fremdsprachenkurse oder Computerkurse vorgesehen.
Am besten funktioniere die Umsetzung dieser Ziele bei mittleren Haftstrafen von drei bis fünf Jahren. Schwieriger sei es bei längeren Haftstrafen, weil deren Ende für die Justiz oft schwer vorhersehbar sei, so Pilgram. Bei Menschen, die über zehn Jahre inhaftiert werden, wird so ein Vollzugsplan oft gar nicht erstellt: „Bei Leuten, die unbestimmt angehalten werden, passiert in der Regel zunächst gar nichts. Bei lebenslang Verurteilten schaut man, wie man sie über die Tage bringt, ohne dass sie sich etwas antun oder für den Vollzug zu schwierig werden.“
Dabei wäre ein Vollzugsplan gerade für Menschen mit längerer Haftstrafe wichtig; immerhin müssen im Moment rund 2000 Häftlinge mehr als fünf Jahre im Gefängnis verbringen. Generell besteht für alle Inhaftierten nach dem Strafvollzugsgesetz Arbeitspflicht. Dafür erhalten sie ein Gehalt nach dem HilfsmetallarbeiterInnen-Kollektivvertrag, allerdings werden 75 Prozent dieses Lohns vom Gefängnis einbehalten. Übrig bleiben durchschnittlich fünf Euro pro Tag, wovon die Häftlinge die Hälfte sofort und die Hälfte später erhalten.
Die Realität in Österreichs Gefängnissen sieht allerdings anders aus, erzählt Julia Schütz*, die im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Campus Wien ein vierwöchiges Praktikum im Sozialen Dienst der Justizanstalt Garsten absolviert hat: „Es ist schon möglich, drinnen zu arbeiten oder eine Lehre zu absolvieren, aber die Plätze sind beschränkt. In Garsten haben rund 50 Prozent der Leute gar nichts gemacht – die warten einfach. Wenn du dann aber 15 Jahre untätig warst, ist es extrem
schwer, wieder Fuß zu fassen.“ Tatsächlich absolvieren in der größten Strafvollzugsanstalt Österreichs in Stein nur sechs von 100 Häftlingen eine Ausbildung.

Das Leben danach. Fuß zu fassen, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden – das sind in den ersten Wochen in Freiheit die wichtigsten Schritte zurück ins Leben. Dabei hilft Andreas Zembaty von der Organisation neustart. Dort arbeiten 550 BewährungshelferInnen und 950 ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Vor allem nach langen Haftstrafen kann ein Neubeginn schwierig sein, berichtet Zembaty: „Die Menschen drinnen werden zu einem Strafvollzug heranerzogen, der mit den Problemen draußen nichts zu tun hat. Das ist wie bei einem Vogel, dem man das Fliegen in einem Käfig lernen möchte. Dann macht man die Tür auf und wundert sich, dass der Vogel zu Boden stürzt.“ Jeder Schritt im Gefängnis ist vorgegeben, in Freiheit müssen alltägliche Routinen wieder neu gelernt werden. Denn das Leben im Gefängnis hat auch im Umgang miteinander nur wenig mit realen Bedingungen zu tun. Zembaty spricht von der Bildung einer eigenen Gefängnissubkultur, in der strafbare Handlungen an der Tagesordnung stehen: „Gerade in großen Justizanstalten wie Stein oder Garsten sind Häftlinge oft damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Wem muss ich drohen? Mit wem muss ich mich arrangieren? Das sind Verhaltensweisen, die draußen unbrauchbar sind.“ Diese abzulegen, ist harte Arbeit. Die Resozialisierung beginnt meist erst nach der Entlassung.
„Das primäre Ziel des Gefängnisses ist sozialer Ausschluss, Wegschließen, nicht Resozialisierung. Erst wenn sich das Ende der Haft nähert, wird über Resozialisierung nachgedacht“, erklärt Kriminalsoziologe Pilgram. Tatsächlich kommen auf eineN JustizwachebediensteteN nur drei Häftlinge, während einE BewährungshelferIn 45 ehemals Inhaftierte betreuen muss. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Arbeit der SozialarbeiterInnen von neustart mit ihren KlientInnen. Oft kommt es zu Rückfällen, besonders bei langen Haftstrafen. Wenn keine Betreuung in Anspruch genommen wird, liegt die Rückfallsquote bei etwa 80 Prozent und das in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung. Bei einer Begleitung durch neustart sinkt die Quote auf 40 Prozent. Diese in Anspruch zu nehmen, ist allerdings nicht verpflichtend. Nur auf Bewährung Entlassene müssen Betreuungstermine wahrnehmen. Allerdings beobachtet der Sozialarbeiter Zembaty bei WiederholungstäterInnen häufig ein Abschwächungssyndrom: „Das heißt, dass auf ein strafrechtlich schwerwiegendes Delikt oft ein leichteres folgt. Zum Beispiel wird aus schwerer Körperverletzung Diebstahl.“
Zembaty, der bereits über 500 KlientInnen betreut hat, ist überzeugt, dass sich Rückfälle im momentanen Strafvollzug nicht gänzlich verhindern lassen. Dazu gebe es zu wenig Handlungsspielraum, trotz engagierter JustizbeamtInnen. Diese Erfahrung hat auch Schütz in Garsten gemacht: „Ich hatte das Gefühl, dass die Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Jede kleine Veranstaltung muss erst vom Bundesministerium genehmigt werden. Das dauert oft ewig und erschwert kreative Ansätze.“ Das mache die Arbeit mit Häftlingen nicht selten frustrierend.
Und der Job als SozialarbeiterIn lässt diese auch an persönliche Grenzen stoßen. Das leugnet auch Zembaty nicht: „Es gibt auch Situationen, wo man einfach verzweifelt ist und nach Hause geht und heult.“ Trotzdem wiegen die Erfolgserlebnisse stärker: „Man muss bereit sein, diese Rührung auf sich zu nehmen und die eigene Betroffenheit zu leben. Um in der Arbeit mit Menschen wirksam zu sein, muss ich mich auch als Mensch einbringen.“

Muss Strafe sein? In einem Punkt sind sich WissenschaftlerInnen und SozialarbeiterInnen einig: Es gibt Verbesserungsbedarf beim Strafvollzug und der anschließenden Resozialisierung. Die Betreuung hinter den Mauern wird durch Überbelegung und nicht vorhandene finanzielle Mittel erschwert. „Belagszahlen zu reduzieren, ist kein kriminalpolitisches Credo. Es lässt sich beobachten, dass immer neue soziale Probleme mit Strafrecht und Haft gelöst werden sollen, ohne Rücksicht darauf, was das für Justiz und Vollzug bedeutet“, bestätigt Pilgram.
Zembaty von neustart wünscht sich generell einen offeneren Vollzug. Denn kein Strafvollzug der Welt könne die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen und gleichzeitig Menschenrechte wahren. Deshalb setzt neustart auf diversionelle Erledigungen. Das bedeutet, dass auch Alternativen vor dem Gerichtsverfahren wie ein Ausgleich oder ein TäterIn-Opfer-Gespräch stärker genutzt werden sollen.
„Wir wissen, dass der Rückfall dort am größten ist, wo am strengsten gestraft wird.“ Daher hält Zembaty es sowohl für humaner als auch ökonomisch sinnvoller, Alternativen zur klassischen Haft zu suchen. Denn am Anfang jedes Falls sollte die Frage stehen: Muss Strafe überhaupt sein?
Der Strafvollzug in der Schweiz gilt als liberal. Hier überlegt man, welche Strafe den besten Zweck erfüllt. In der Haft selbst werden die Defizite der Strafgefangenen analysiert und es wird gezielt daran gearbeitet. Wann eine Entlassung auf Bewährung in Frage kommt, entscheidet der Vollzug und nicht die/der RichterIn. Die Rückfallquoten sind dementsprechend geringer.
„Wenn man schon früh ambitionierte alternative Maßnahmen setzt, erspart man sich letztlich einen Vollzug, der bei allem Engagement nicht optimal sein kann“, zeigt sich Zembaty überzeugt. In Österreich wird erst langsam mit diesen Alternativen earbeitet, der elektronische Hausarrest – auch Fußfessel genannt – ist ein umstrittenes Pilotprojekt. „In den 70er-Jahren gab es von sozialdemokratischem Optimismus geprägt die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft“, erklärt der Kriminalsoziologe Pilgram. Doch diese Aufbruchsstimmung war schnell vorüber. Auch Zembaty glaubt nicht an die Verwirklichung dieser Idealvorstellung: „Man wird nicht ganz auf den Strafvollzug verzichten können. Es gibt Leute, für die haben auch wir keine bessere Idee.“
Kritisch sehen aber beide, dass sich das Gefängnis heute wieder mehr in Richtung Verwahrungsanstalt entwickelt. Dadurch werden die Häftlinge immer stärker aus dem Sichtfeld der Gesellschaft gedrängt. Fachhochschulstudentin Schütz kann dem zustimmen: „Mir kommt es so vor, als wäre die Gesellschaft damit zufrieden, dass Menschen hinter Mauern gesperrt und von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Es interessiert niemanden, was dahinter geschieht oder auch nicht.“

Barbara Wakolbinger und Elisabeth Mittendorfer studieren Journalismus und Medienmanagement an der FH in Wien.

* Name auf Wunsch geändert.

Der Ausverkauf der Studierendenwohnheime

  • 20.09.2012, 17:17

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Das Leben in Studierendenwohnheimen gilt als sozial und günstig. Doch diese Zeiten könnten bald vorüber sein. Die Streichung der Förderung für Heime zwingt die BetreiberInnen zu gravierenden Maßnahmen.

Ein langer Gang führt in den Gemeinschaftsraum des vierten Stocks im Studierendenheim Haus Döbling im 19. Wiener Gemeindebezirk. Farbe blättert von den Wänden, der Boden ist abgenutzt und fleckig. Drei Sofas stehen um einen Tisch gruppiert, die Bezüge sind aufgeplatzt, das Futter quillt heraus. In einem Kobel in der Mitte des Gangs befindet sich die Gemeinschaftsküche. Vier Kochplatten, ein Kühlschrank für den gesamten Stockbereich. Eine bunte Fotowand zeigt ehemalige und aktuelle BewohnerInnen. Auf beiden Seiten des Gangs liegen die Einzelzimmer der Studierenden, zehn Quadratmeter groß und mit dem Notwendigsten ausgestattet. Zur Mittagszeit öffnen sich die ersten Türen, man trifft sich auf Kaffee und Kipferl. „Die wahren Werte des Haus Döbling liegen im Inneren. Es schaut zwar schirch aus, aber die Gemeinschaft ist das Wertvolle“, sagt Lisa, die seit 2009 hier wohnt. Die Vorsitzende des Heimausschusses setzt sich zusammen mit einigen anderen BewohnerInnen für ihr Haus Döbling ein. Denn Teilen des Hauses aus den 1970er-Jahren droht der Abriss. Vierzig Jahre lang wurde das Gebäude nicht renoviert, jetzt ist es nicht mehr renovierfähig. „Die haben das Haus mutwillig heruntergewirtschaftet“, sagt Michael, der stellvertretende Vorsitzende des Heimausschusses. Zwar sei die Renovierung im Gemeinderat bereits beschlossen gewesen, 2009 hob die SPÖ den Beschluss jedoch wieder auf. Die alten Gebäudeteile sollen abgerissen werden, an ihrer Stelle plant die Stadt den Bau von Genossenschaftswohnungen.

REGIERUNGSKLAUSUR LOIPERSDORF. Grund dafür könnte die Streichung der Sanierungsförderung für Studierendenwohnheime bei der Regierungsklausur in Loipersdorf im Oktober 2010 sein. Aufgrund dieses Beschlusses fällt die Unterstützung des Bundes bei Sanierungsvorhaben und Neubauten von Wohnheimen weg. Problematisch ist das vor allem, weil es den Heimen, die als gemeinnützige Organisationen agieren, bisher nicht erlaubt war, Rücklagen für allfällige Sanierungen zu bilden. Jetzt bleibt vielen Trägerorganisationen von Studierendenwohnheimen nichts anderes übrig, als die Heime zuzusperren oder die Preise drastisch zu erhöhen. Insgesamt wohnen in Österreich laut Studierendensozialerhebung 2009 32.000 Studierende in Wohnheimen, etwa zehn Prozent aller Studierenden in Österreich. Sie zahlen dafür durchschnittlich 245 Euro monatlich, ein Viertel weniger, als sie für Wohnungen ausgeben müssten.

Das Haus Döbling gehört der Wien Holding, einem Tochterunternehmen der Stadt Wien. Als das Haus als nicht mehr renovierungsfähig eingestuft wurde - im Büro des Stadtrates Ludwig spricht man von Baufälligkeit und Ungeziefer, wurde beschlossen, das Baurecht an die Gesiba, ebenfalls eine Tochtergesellschaft der Stadt Wien, zu verkaufen. Laut den Studierenden im Haus Döbling zu einem Preis von 152 Euro pro Quadratmeter. Kein schlechtes Geschäft mitten im Nobelbezirk Döbling. Zwar sehe das Baurecht vor, dass wieder ein Studierendenheim errichtet werden muss, die Stadt Wien als Eigentümer konnte das Grundstück jedoch mit Zustimmung der Heimleitung des Haus Döbling umwidmen, erzählen die engagierten HeimvertreterInnen. Die Studierenden befürchten Konflikte mit den zukünftigen BewohnerInnen der geplanten Genossenschaftswohnungen. Denn die Gebäude teilen sich einen Innenhof, den die Studierenden vor allem in der warmen Jahreszeit gerne nutzen.

Die Geschäftsführerin der base 19, die das Haus Döbling betreibt, Michaela Lindenbauer, erklärt die Situation so: „Die Streichung ist ein großer Einschnitt in die Planung von Sanierungs- oder Bauvorhaben. Wir bekommen für die Sanierung überhaupt keine Bundesförderung oder sonstige Förderungen mehr. Das Geld für die Sanierung müssen wir über ein Wohnbaudarlehen der Stadt Wien aufbringen.“ Ein Teil der Sanierungskosten komme außerdem vom Verkauf des Teilgrundstücks, auf dem die alten Gebäude stehen. Bis Sommer 2013 sollen die verbleibenden Wohneinheiten fertig renoviert sein, erst dann werden die alten Gebäude abgerissen.

EIN DORF IN WIEN. Aber die BewohnerInnen hängen an dem alten Heim, vor allem aufgrund der guten Gemeinschaft. „Das Heim ist wirklich was Besonderes. Vor allem das soziale Zusammenleben“, sagt Lisa. Michael stimmt zu: „Wir sind ein Dorf in Wien.“ Aber auch die günstigen Preise machen das Wohnheim beliebt: 200 Euro Zimmerpreis für zehn Quadratmeter, Betriebskosten und Internet inklusive, machen das Haus Döbling zu einem der günstigsten Studierendenwohnheime in Wien. Da nimmt man gerne ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf. Mit diesen billigen Preisen wäre es nach dem Abriss vorbei. Momentan kostet ein bereits renoviertes Zimmer im Gebäudeteil D schon 299 Euro. Als Alternative für die Studierenden in den abrissreifen Teilen bietet das Heim eine Ausweichmöglichkeit in den neuen Gebäudeteil - diese Variante können aber nur langjährige HeimbewohnerInnen beanspruchen, denn um das Heim zu leeren, vergebe die Heimverwaltung nur noch befristete Plätze, so die Studierenden. Zusätzlich werden Erasmus-Studierende eingemietet. „Seit einiger Zeit kommen hauptsächlich Erasmus-Studierende ins Heim. Das ist zwar gut für die Internationalität, aber schlecht für das soziale Leben, weil die lieber feiern, als sich für das Heim zu engagieren“, erzählt Lisa. Noch ist ungeklärt, ob die Preise für die alteingesessenen BewohnerInnen bei einer Umsiedlung in den neuen Trakt steigen werden.

DIE PREISE WERDEN STEIGEN. Lindenbauer rechnet mit einem Anstieg der Preise, denn das Sanierungsdarlehen müsse auch wieder zurückgezahlt werden. Zusätzlich fallen Kosten für die Möblierung an, die bisher der Bund getragen hat. „Das Haus Döbling ist momentan deshalb so günstig, weil ein enormer Sanierungsbedarf besteht. Eine Preiserhöhung wird kommen müssen. Mehr als 300 Euro wird ein Zimmer aber auch zukünftig nicht kosten.“ Aber nicht nur das Haus Döbling wird teurer. Da Sanierungen in Zukunft durch Kredite finanziert werden müssen, werden die Preise zeitversetzt steigen, erklärt Bernhard Tschrepitsch, Generalsekretär der Akademikerhilfe, die rund 20 Wohnheime betreibt. Die ÖH rechnet damit, dass das Benützungsentgelt mittelfristig um rund zehn bis 20 Prozent teurer wird.

In den Studierendenheimen der WIHAST steht die Preiserhöhung schon fest. Um fünf bis acht Prozent werden die Zimmer ab Herbst teurer, erklärt Martin Strobl, stellvertretender Generalsekretär der WIHAST-Heime. Auf lange Sicht schätzt er die Lage jedoch dramatischer ein: „Damit können wir die Häuser schwer sanieren, beziehungsweise Neubauten finanzieren.“ Strobl hält es für möglich, dass Zimmer in Studierendenheimen in Zukunft sogar über 400 Euro kosten könnten. Wenn dann die Studierenden auf den Wohnungsmarkt drängen, würden auch dort die Preise drastisch ansteigen.

In Salzburg hat das Studentenwerk kreativ kalkuliert: Aufgrund einer Vorausplanung über 40 Jahre, die alle anstehenden Sanierungen berücksichtigt, müssen die Studierenden jetzt nur eine Preiserhöhung von 23 Euro statt den geplanten 60 Euro in Kauf nehmen. Die Erleichterung bei den BewohnerInnen sei groß, erzählt Georg Leitinger, Geschäftsführer des Salzburger Studentenwerks. „Unser Ziel war es, günstigen Wohnraum für Studierende zu erhalten. Wir holen das Geld von den Banken, nicht von den Studierenden. Denn die 23 Euro wandern als Rücklage auf ein separates Konto, das jederzeit von den BewohnerInnen einsehbar ist.“ Weil über 40 Jahre geplant wurde, muss der Betrag nicht an den Index angepasst werden und bleibt somit gleich, da die Bank eine Verzinsung garantiert. Das sei in der Stadt Salzburg besonders wichtig, da es kaum leistbaren Wohnraum für Studierende gebe, sagt Leitinger. Denn einerseits fehlen die großen WG-geeigneten Altbauten, andererseits sind kleinere Wohnungen unerschwinglich. Das hat zur Folge, dass Salzburg den zweitgrößten Anteil an Studierendenheimen hat. 18 Prozent wohnen hier in Heimen, viele andere müssen pendeln.

ZURÜCK NACH DÖBLING. Im Haus Döbling leben im Moment 860 Studierende. 360 von ihnen müssen sich nach einer anderen Wohngelegenheit umsehen. Das Büro des Wohnbaustadtrats Michael Ludwig weist auf Ausweichmöglichkeiten hin: In der Gasgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk, in der Kandlgasse im Siebten oder in dem geplanten Heim in der im Bau befindlichen Seestadt Aspern. Aber die Studierenden schätzen vor allem die gute Lage des Hauses Döbling. Fünf Minuten sind es von hier zur Wirtschaftsuniversität, zur Universität für Bodenkultur und auch die Hauptuniversität ist nicht weit. Von den Ausweichmöglichkeiten im 22. Bezirk sind die Studierenden nicht begeistert: „Wer will denn dort hin? Da fährst du ja überall ewig hin.“ Ähnlich sieht das auch Tschrepitsch von der Akademikerhilfe. Seiner Meinung nach fehle das Commitment, das Studierende dazu berechtigt, sozialverträglich und zentrumsnah zu wohnen. „Nur weil der Grund an der Stadtgrenze billig ist, ist das noch lange kein Grund, Studierende in die Peripherie abzuschieben.“ Seit etwa zwei Jahren bietet die Stadt Wien auch die Wohnungsaktion für Studierende an. Wer unter 26 Jahren ist und mindestens ein Jahr in einem Studierendenwohnheim gewohnt hat, kann sich von der Stadt Wien ein einmaliges Wohnungsangebot für eine Kleinwohnung von bis zu 35 Quadratmetern unterbreiten lassen. Der Haken an der Sache: Es gibt Wartezeiten von ein bis eineinhalb Jahren. Ähnlich sieht es vermutlich bei den oben genannten Ausweichheimen aus. Zwar schätzt das Sozialreferat der Österreichischen HochschülerInnenschaft, dass alle Studierenden, die in Wien einen Heimplatz suchen, auch einen bekommen. Jedoch sind vor allem Heime in Universitätsnähe oder Innenbezirkslage begehrt. Hier gibt es ebenfalls Wartelisten.

LOKALAUGENSCHEIN KLAGENFURT. Das Haus Döbling ist kein Einzelfall. Während die großen Heimträgerorganisationen wie zum Beispiel die STUWO, die sich durch Genossenschaftswohnungen querfinanziert, größere Überlebenschancen haben, sieht die Lage bei kleinen Heimen düster aus. So auch im Mozartheim in Klagenfurt. Dort sollen bis August 2012 die 145 HeimbewohnerInnen ihre Zimmer räumen, das günstigste Heim in Klagenfurt muss seine Türen schließen. Ähnlich wie im Haus Döbling wurde auch hier seit den 1970er-Jahren nicht mehr renoviert. Eigentlich wäre hier die Sanierung bereits geplant gewesen. Der Bund hätte von den Gesamtkosten von rund 1,5 Millionen Euro 900.000 übernommen, erzählt Hermann Riepl, der Geschäftsführer der Volkshilfe Kärnten, die das Heim betreibt. Doch mit dem Sparpaket Loipersdorf fiel dieses Vorhaben ins Wasser. Das Land war nicht bereit, die Kosten zu übernehmen. Am Faschingsdienstag 2012 bekam Riepl daher völlig überraschend ein E-Mail: Das Land Kärnten kündigt den Vertrag mit der Volkshilfe. Ein Grund dafür ist auch der enorme Verlust, den das Land mit dem Heim erwirtschaftet. Die jährliche Miete von 265.000 Euro, die das Land dem Eigentümer des Gebäudes, der Landesimmobiliengesellschaft (LIG) bezahlen muss, ist zu teuer. So viel kann die Volkshilfe mit den Benützungsgebühren der Studierenden nicht einnehmen. Das Heim steht vor dem Aus. Geschäftsführer Riepl hält diese Kündigung weder für frist- noch formgerecht. Laut Studentenheimgesetz haben Erstsemestrige das Recht, zwei Jahre lang im Heim zu wohnen. Die letzten Studierenden wären somit erst im Herbst 2013 kündbar, noch gibt es keine Alternativlösung. Das Land Kärnten sucht derzeit einen neuen Heimbetreiber, der auch die Sanierungskosten trägt. Ob sich dieser finden lässt, bleibt offen, genauso wie die rechtliche Situation der HeimbewohnerInnen. Diese Suche läuft noch bis Juni 2012, findet sich dann kein Betreiber, wird das Gebäude zum öffentlichen Verkauf ausgeschrieben. Das könnte bedeuten, dass aus einem Studierendenwohnheim private Wohnungen werden. Der Geschäftsführer des momentanen Hausbesitzers LIG, Rene Oberleitner, hält diese Variante durchaus für möglich. Bisher hatte der Bund durch die Förderung der Heime ein Mitspracherecht bei der Platzvergabe, die vor allem nach sozialen und örtlichen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel dem Einkommen der Eltern, erfolgte. Da diese Förderung nun weggefallen ist, können die Heime nach eigenen Kriterien Plätze vergeben und müssen, um auch in Zukunft kostendeckend arbeiten zu können, privatwirtschaftlicher agieren. Das könnte eine Verlagerung von Benützungsverträgen zu klassischen Mieten bedeuten. Schon jetzt fällt bei manchen Neubauten der soziale Gesichtspunkt weg.

„WIR BLEIBEN.“ Um ihr Sozialleben fürchten auch die Studierenden im Haus Döbling. Für die neuen Zimmer ist jeweils eine Kochnische vorgesehen. Gemeinsames Kochen im Stockwerk wird es dann nicht mehr geben. „Wir merken schon jetzt, dass es im neu renovierten Gebäudeteil kein aktives Stockleben mehr gibt. Die Leute lernen sich erst auf den Heimpartys kennen. Viele sieht man gar nicht“, sagt Lisa. Die Studierenden wehren sich: Protestfeste, Flyerverteilen oder ein Herbergsgesang für zukünftig obdachlose Studierende. Neben den öffentlichen Protesten in Wien und Klagenfurt versuchen die Studierenden des Haus Döbling auch auf rechtlichem Weg, gegen den Abriss ihres Heimes vorzugehen. Denn die Heimverwaltung hätte mit ihrem Beschluss die Informationsrechte der BewohnerInnen verletzt, die von dem Abriss aus der Zeitung erfahren haben. In Paragraph acht des Studentenheimgesetzes heißt es: „(2) Der Heimträger hat die Heimvertretung über alle wesentlichen Angelegenheiten, die das Studentenheim betreffen, zu informieren bzw. über Verlangen umfassend Auskunft zu geben.“ In den Heimstatuten des Haus Döbling sei laut Heimvertretung zusätzlich ein Mitspracherecht der Studierenden verankert. Soeben ist die Bildung eines Schlichtungsausschusses nach dem Studentenheimgesetz abgeblitzt, der sich in dieser Sache für nicht zuständig erklärt hat. Jetzt bleibt nur noch der zivilgerichtliche Weg, der teuer und aufwändig wäre - ohne Garantie auf Erfolg. Denn im Studentenheimgesetz sind keine Konsequenzen für einen Verstoß gegen dasselbe angeführt. Der Abriss im Sommer 2013 scheint nicht mehr abzuwenden.

Inzwischen ist der Mitbewohner Lauschi zur Kaffeerunde im Haus Döbling dazugestoßen: „Die müssen uns schon wegtragen“, sagt er: „Wir haben uns für den Sommer 2013 auf jeden Fall nichts vorgenommen.“