Wo Milch und Honig fließen
Brasília liegt am Wochenende und in der Nacht wie ausgestorben da. Ist dieses Projekt, eine positivistische Vision der späten 50er Jahre, gescheitert? Leben und Gegenwart in der Stadt der Zukunft.
Brasília liegt am Wochenende und in der Nacht wie ausgestorben da. Ist dieses Projekt, eine positivistische Vision der späten 50er Jahre, gescheitert? Leben und Gegenwart in der Stadt der Zukunft.
Sonntagnachmittag, die Sonne brennt auf den Platz des Sector Bancário Sul. Die kleinen Verkaufsstände, die den Platz säumen, sind alle dicht verhängt mit Plastikplanen oder mit Schlössern versperrt. Heute arbeitet niemand. Der Platz ist bis auf einen Wächter, der vor dem Eingang eines der vielen hohen Bankgebäude seine Zigarette raucht, menschenleer. Sobald die Nacht hereinbricht, wird es allerdings an der einen oder anderen Ecke wieder Leben geben, wovon die am nächsten Tag herumliegenden Kondome zeugen. Es sei an dieser Stelle vor allem Frauen davon abgeraten, sich selbst davon zu überzeugen.
Die Gewaltbereitschaft und die Kriminalität sind hoch, begangene Verbrechen sind zumeist Folge der bestehenden sozialen Ungleichheit zu interpretieren. Brasilien gehört mit einem Gini-Index von 58 zu jenen 10 Ländern der Welt, in denen das Einkommen am ungleichsten verteilt ist. Ein Index von 0 bedeutet, dass das Einkommen perfekt gleichverteilt ist, während bei 100 nur eine Person das gesamte Einkommen beziehen würde. Die ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung in Brasilien sind für nur 0,8 Prozent aller Einkommen und Ausgaben verantwortlich, das ärmste Fünftel lebt von USD 2 pro Tag.
Candango. In Brasília jedoch, das am 21.04.2010 seinen 50.Geburtstag feiert, ist die Lage eine andere. Der Konflikt zwischen Arm und Reich kommt hier nicht zum Vorschein. Im Plano-Piloto, dem Grundriss der Stadt, der einem Flugzeug gleicht, war von Anfang an kein Platz für den armen Teil der Bevölkerung vorgesehen. Aus den Siedlungen der ArbeiterInnen, die 1956 innerhalb von vier Jahren die Stadt erbaut haben, entstanden Satellitenstädte, die in ihrer EinwohnerInnenzahl den Plano Piloto mit seinen etwa 200.000 BewohnerInnen längst überholt haben. Die gesamte Metropolregion zählt mittlerweile 2,3 Millionen Menschen, rund 63mal so viele wie noch vor 50 Jahren. Diese Städte tragen malerische Namen, wie Samambaia, Taguatinga oder Candangolândia (der „candango“ ist in deutscher Übersetzung ein/eine ArbeiterIn ohne Qualifikation). Das Leben in vielen dieser Städte verläuft aber weniger pittoresk. Seit der Geburt der neuen Hauptstadt wurde in einigen Säuberungsaktionen zwischen 1985 und 1990 auch der letzte Rest der verbliebenen armen Bevölkerung – Menschen mit kleinem oder gar keinem Einkommen – dorthin zwangsübersiedelt. Zurückgeblieben sind AnzugträgerInnen der Regierung, der Botschaften und der Banken und die ihnen dienende Bevölkerung, die auf kleinen Ständen auf dem Markt, in den Restaurants, Frisier- und Manikürsalons oder den Juweliergeschäften arbeitet und am Abend zumeist mit der Metro in eine der Satellitenstädte verschwindet. Einzig am Busbahnhof, der genau auf der Kreuzung des Flugzeugkörpers mit seinen Flügeln liegt, wird man noch leise an Armut erinnert. Dort, wo am Abend Geschäfte mit Drogen und Sex gemacht werden, sammeln sich arbeits- und wohnunglose Familien.
Progress e Ordem. Visionär erdacht vom Stadtplaner Lúcio Costa, dem Architekten Oscar Niemeyer und dem Präsidenten Juscelino Kubitschek, der mit diesem Projekt die Umsetzung seines Wahlslogans Fünfzig Jahre Fortschritt vorantrieb, sollte diese klassische Planhauptstadt eine Stadt der Zukunft werden, die typischen Defiziten anderer Großstädte den Rücken kehrt. So sollten breite Straßen Staus verhindern und weite Grünflächen den BewohnerInnen Luft zum Leben lassen. Enstanden ist jedoch eine Stadt, die von Autos beherrscht ist und sich zu Fuß kaum erobern lässt. Gehsteige enden abrupt im Nichts und völlige Verkehrsüberlastung bestimmt das alltägliche Straßenbild. Die großzügig angelegten Grünflächen, die erst mit Beginn der Regenzeit diesen Namen verdienen, und die ausgedehnten Plätze haben ihr Ziel verfehlt – sie sind vereinsamt und leer. Niemeyer selbst bezeichnet das Experiment Brasília als nicht erfolgreich.
Brasília liegt dort, wo nach der Prophezeihung Don Boscos von 1883, dem Schutzpatron der Stadt‚ „Milch und Honig fließen werden“. Dieses glänzende städtische Vorbild hat sich dem stolzen Wahlspruch der Nation Fortschritt und Ordnung, der in Hommage an Auguste Comte in der Landesflagge verewigt wurde, ergeben untergeordnet. Der Plano-Piloto beherbergt monumentale Space-Architektur sowie exakt vorgegebene Linien und Flächen für Banken, Kaufhäuser, Hotels und Wohnsiedlungen. Die Regierung bildet mit dem Platz der drei Gewalten das Cockpit, die Bevölkerung ist in Appartmentblocks, die in Superquadras zusammengefasst werden, in den Tragflächen untergebracht.
Brasília in Szenen. Spaziert man in den Flügeln von Superquadra zu Superquadra, fühlt man sich von einem nichtendenwollenden Déjà-vu verfolgt. Menschen aus ganz Brasílien strömen in die Hauptstadt mit der Hoffnung auf eine Anstellung bei der Regierung, die sehr hohe Gehälter zahlt. Alle kommen sie wegen der Arbeit, nicht wegen der Stadt, denn leben wollen hier die Wenigsten. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, weisen stolz auf die Architektur, Sauberkeit und Sicherheit der Stadt hin. Jene, die die Arbeit hierher gezogen hat, vermissen jedoch das kulturelle Leben ihrer Heimatstädte.
Rafael lebt jetzt seit zwei Monaten hier. Seine Frau und seine 5-jährige Tochter sind in Rio de Janeiro geblieben. Kann man sich die hohen Mietpreise nicht leisten, lebt man wie er und viele andere ArbeiterInnen und Angestellte in einer der vielen oft illegalen Pousadas, die billige, fensterlose Quartiere im Keller monatsweise, tageweise und man sagt auch stundenweise anbieten. Die Zimmer sind mit Pappwänden, die mit Licht- und Luftluken versehen wurden, voneinander getrennt und der Geruch von Schimmel und Moder mischt sich mit dem eines billigen Insektenvernichtungsmittels. Bis jetzt war Rafaels Arbeitssuche nicht erfolgreich, aber noch will er nicht aufgeben.
Dea ist 29 Jahre alt und hat nach ihrem Abschluss an der Universität von Belo Horizonte begonnen in Brasilia für die Regierung zu arbeiten. Sie hatte Glück. Und trotzdem ist das Leben hier als Frau nicht einfach. Sie erzählt mir von Übergriffen und Aufdringlichkeit, die einem hier am helllichten Tag begegnen. „Gewalt ist hier nicht arm, sondern männlich“, meint sie und führt dies auf die Einsamkeit und Leere in der Stadt zurück.
Überall im Plano Piloto hängen Werbeplakate für Vorbereitungsskurse auf den „Vestibular“ – die Aufnahmeprüfung für die öffentliche Universität, die allen Jugendlichen gleichermaßen das Studium ermöglichen sollte. Da jedoch das Niveau der Ausbildung an öffentlichen Schulen im Gegensatz zur öffentlichen Universität ein sehr niedriges ist, enstand damit die absurde Situation, die es reichen Kindern mit dem Background einer privaten Schule ermöglicht, gratis zu studieren, aber StudentInnen aus ärmeren Verhältnissen selbst mit Vorbereitungskursen Schwierigkeiten haben, den Vestibular zu bestehen.
Einzig dort, wo gearbeitet wird, gibt es zur Mittagszeit ein wenig Trubel. Mit etwas Geduld stößt man abends auf Bars, in denen weniger getrunken und mehr getanzt wird, wo jene Menschen, die sich tagsüber in den unzähligen Büros hinter Computern verschanzen, dann die Kravatten abnehmen, aus den Stöckelschuhen schlüpfen, oder diese bewundernswerterweise anbehalten und kolibriähnliche Sambaschrittfolgen vorführen.
Auch am Torre de TV, dem höchsten Punkt der Stadt, um den sich ein Kunsthandwerksmarkt drängt, wird man nicht müde das rege Treiben, die Farben und die Bewegung der HändlerInnen, Hippies und MusikerInnen, der Kinder und der herumstreunenden Hunde zu beobachten. Diesem Markt ist jedoch keine lange Lebensdauer beschieden. Er soll Opfer einer Säuberungsaktion der Regierung werden, womit ein Stück Leben mehr aus der Stadt verschwinden wird.
Man trifft in Brasília auf Menschen aus allen Regionen Brasiliens und findet alle Dialekte, Akzente, kulturelle Traditionen, Hautfarben und Bräuche des Landes. So sehr das auch nach Potential für eine lebendige Stadt klingt – Brasília kann dieses im Moment nicht nützen. Denn am Wochenende, wenn viele, die es sich leisten können, in andere Städte des Landes oder an die Küste flüchten, bleiben in Brasília nur wenig attraktive Leerflächen, geschlossene Stände und Sicherheitsbeamte zurück.
Victoria Reitter studiert Internationale Betriebswirtschaft in Wien und Brasilia.
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Wo Milch und Honig fließen
Brasília liegt am Wochenende und in der Nacht wie ausgestorben da. Ist dieses Projekt, eine positivistische
Vision der späten 50er Jahre, gescheitert? Leben und Gegenwart in der Stadt der Zukunft.
Was blieb vom konzeptionierten
Lebensraum?
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