Rosanna Atzara

Apolitische Vertretung

  • 24.06.2015, 17:25

Die ŠRVŠ, die junge Studierendenvertretung der Slowakei, will,,unideologisch“ gegen Studiengebühren kämpfen.

Die ŠRVŠ, die junge Studierendenvertretung der Slowakei, will ,,unideologisch“ gegen Studiengebühren kämpfen.

Vor etwas mehr als 25 Jahren haben sie für einen Systemwechsel gesorgt. Die slowakischen StudentInnen hatten bei der Samtenen Revolution im November 1989,  mit der die Regierung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei friedlich zu Ende ging, eine Schlüsselrolle gespielt. Mit Massenprotesten, Streiks und dem Ruf nach Demokratie haben sie zur Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen. Die heutige Studierendenvertretung der Slowakei, die SRVS, passt da nicht ganz ins Bild. Zumindest nicht, wenn es um radikale Forderungen geht.

Foto: Rosanna Atzara

POLITIK OHNE WAHLKAMPF. „Wir sind sehr demokratisch", sagt Jana Smelkova über die SRVS. Seit Oktober letzten Jahres steht sie an der Spitze der Generalversammlung der Studentska rada vysokych sköl. Sie vertritt die rund 175.000 Studierenden der Slowakei gegenüber dem Bildungsministerium. Die 26-Jährige ist Doktoratsstudentin an der Rechtsfakultät der Comenius. Alle zwei Jahre können slowakische StudentInnen ihre Delegierten wählen. Mit einer Zweidrittelmehrheit wird ihre Vorsitzende oder ihr Vorsitzender gewählt. Eine direkte, bundesweite Wahl der studentischen Vertretung gibt es damit im Gegensatz zu Österreich, wo diese heuer wieder eingeführt wurde, nicht.

Alle, die sich aktiv beteiligen, machen dies pro bono. Auch Jana übt ihren Job neben einer Lehrtätigkeit an der Uni und ihrem Studium ehrenamtlich aus. Der SRVS steht nur ein kleines, vom Bildungsministerium kommendes Budget zur Verfügung, Gebühren für die Studierenden gibt es nicht.

Mit der Struktur der SRVS ist Jana großteils zufrieden. „Die Delegierten werden direkt von den StudentInnen gewählt und kennen deren Anliegen sehr gut", sagt Jana. Dass es weder Wahlkampf noch politische Studierendenorganisationen gibt, die sich bei der SRVS engagieren, stört sie nicht. „Wenn wir Entscheidungen in der Generalversammlung treffen, brauchen wir ohnehin eine Mehrheit." Generell sieht sich die SRVS als nicht politisch, es gibt keine sozialpolitischen, gesamtgesellschaftlichen Forderungen und Ansprüche und auch keine - offiziellen - parteipolitischen Präferenzen von Delegierten und VertreterInnen. 

Frencien Bauer ist seit 2012 bei der SRVS. Er betont hingegen, dass Vertretungsarbeit immer auch politisch sei. „Sobald du die Rechte einer Gruppe vertrittst, machst du natürlich Politik. Ich finde, dass wir in der politischen Debatte mehr mitmischen sollten", sagt der Student der Wirtschaftsuniversität in  Bratislava. 2004 sind die slowakischen StudentInnen das letzte Mal auf die Straße gegangen. Damals wollte die Mitte-rechts-Regierung Studiengebühren einführen. Ein solches Bedrohungsszenario ist auch das einzige, bei dem sich Jana Smelkova vorstellen kann, die StudentInnen zu mobilisieren, denn die SRVS tritt gegen Studiengebühren ein. Auch mehr Geld für die Unis fordert die Vertretung regelmäßig. „Die Stimme der StudentInnen wird hier nicht wirklich gehört", beklagt Matej Smalik, Student an der Comenius. „Wir sind die einzige offizielle StudentInnenvertretung der Slowakei und in den repräsentativen Entscheidungsgremien des Hochschulwesens vertreten. Natürlich bringen wir dort unsere Forderungen ein. Wir sprechen mit dem Bildungsministerium", sagt Jana Smelkova.

Foto: Rosanna Atzara

KEIN PLATZ. Auch wenn die SRVS gegen Studiengebühren ist, für Zugangsbeschränkungen spricht sich Jana Smelkova dennoch aus. Das liege vor allem an der finanziellen Situation an den Universitäten: „Die Universitäten bekommen mehr Geld, wenn sie mehr Studierende aufnehmen. Darunter leidet dann das Betreuungsverhältnis und die Qualität des Studiums." Ein akademischer Titel sei, so die Befürchtung vieler StudentInnen, nichts mehr wert, wenn es zu viele AkademikerInnen am Markt gebe. „Ein Test vor der Zulassung zum Studium würde dafür sorgen, dass nur die Besten genommen werden und die AbsolventInnen bessere    Chancen am Arbeitsmarkt haben. Und wenn man den Test nicht besteht, kann man ihn wiederholen", so Jana. Derzeit obliegt es den Unis, solche Zugangstests zu machen. Und viele tun es auch.

Mit der Bologna-Struktur - also der Aufteilung in Bachelor, Master und PhD - ist die SRVS zwar grundsätzlich einverstanden, an der Umsetzung hapert es aber. „Wir finden es gut, dass die internationale Mobilität verbessert wurde, aber bei der Änderung der Curricula gab es schon Probleme", sagt Jana Smelkova. „Die Lehrpläne wurden oft einfach übernommen. Und der Bachelor als Abschluss ist in der Gesellschaft nicht wirklich angekommen", sagt auch Frencien Bauer.

SERVICE. Gesetzlich verankert ist die SRVS erst seit 1996. Aktuell besteht sie aus 136 Delegierten, die von den 36 privaten, öffentlichen und staatlichen Universitäten entsandt werden. Je nach Zahl der Studierenden variiert die Anzahl der Delegierten. Die größte Universität des Landes, die Comenius-Universität in Bratislava, schickt derzeit 15 Delegierte. Dort studieren aktuell etwa 29.000 StudentInnen. Zum Vergleich: An der Uni Wien waren im Wintersemester 2013 rund  92.000 Studierende  inskribiert.

Zu den größten Errungenschaften der SRVS zählen die Errichtung einer Ombudsstelle für StudentInnen an den Unis, die Einbindung der Studierenden bei der Qualitätssicherung und steuerliche Begünstigungen für StudentInnen. Die SRVS gliedert sich in sechs Arbeitsbereiche: Es gibt SekretärInnen für interne Angelegenheiten, Finanzielles, internationale Beziehungen, akademische Angelegenheiten, soziale Angelegenheiten und für Öffentlichkeitsarbeit.

Die Wahlbeteiligung an den Unis ist eher niedrig, sagt Jana Smelkova. „Es ist schon frustrierend, dass sich die StudentInnen kaum für Politik und ihre Vertretung interessieren." Auch die Studentin Kristina Jurkovicova beklagt, dass sich die slowakischen StudentInnen wenig organisieren: „Ich habe auch im Ausland studiert, dort war das ganz anders. Es gab Vereine für alles Mögliche. Hier haben wir nur die SRVS."
 

Rosanna Atzara hat Politikwissenschaft und Transkulturelle Kommunikation an der Universität Wien studiert. Jetzt studiert sie Journalismus und Neue Medien an der FH Wien der WKW. 

Austria, zero points

  • 11.05.2015, 08:00

Undurchschaubare Vergabe, Probleme bei der Anrechnung, gesunkene Mobilität und imaginäre Workloads – die Bologna-Reform hat versagt. Mitschuld sind die ECTS-Punkte.

Undurchschaubare Vergabe, Probleme bei der Anrechnung, gesunkene Mobilität und imaginäre Workloads – die Bologna-Reform hat versagt. Mitschuld sind die ECTS-Punkte. 

„Wie viele ECTS hast du dieses Semester gemacht?“ Diese Frage ist zu einem fixen Bestandteil studentischen Smalltalks avanciert. Je nach Antwort kann ein wohliges Gefühl der Wärme und Selbstzufriedenheit oder aber abgrundtiefe Scham aufkommen. Das „European Credit Transfer and Accumulation System“, besser bekannt als ECTS, weist jedem Lernziel eine bestimmte Anzahl an Credits zu. Es soll sicherstellen, dass die Leistungen von Studierenden an Hochschulen des europäischen Hochschulraums vergleichbar sind.

Offiziell steht ein ECTS-Punkt – zumindest in Österreich – für etwa 25 Stunden Arbeit. Doch wie viele Stunden braucht es, um die einzigartige Ästhetik der Werke Frida Kahlos gebührend zu erfassen? Wann hat man die kritische Theorie und das Wirken der Frankfurter Schule tatsächlich begriffen? Und wie viel Zeit verstreicht, bis das physikalische Phänomen der Zeitdehnung wirklich durchschaut ist? Unmöglich, das allgemein zu definieren? Tja. Über solche Widersprüche setzt sich das ECTS-System hinweg: Wichtig ist es zu zählen, zu messen und zu vergleichen.

Etwa 9.000 Credits vor unserer Zeit, also im Europa des Jahres 1989, wurde die Einführung des ECTS
im Rahmen eines EU-Projektes erstmals erprobt. Die Semesterwochenstunden, die nur die Dauer der Lehrveranstaltung gemessen haben, waren damit Geschichte. ECTS-Punkte sollten von nun an – zumindest in der Theorie – den tatsächlichen Arbeitsaufwand der Studierenden messen. Nicht nur das Sitzen in der Vorlesung oder im Seminar ist also relevant, auch Selbststudium, die Vorbereitung von Referaten und das Büffeln für die Prüfung werden so angeblich eingerechnet.

NOTHING COMPARES TO YOU. In der Praxis bestimmen die Curricularkommissionen über die korrekte Anzahl der ECTS-Punkte – im Idealfall in enger Abstimmung mit den verantwortlichen Lehrenden und den betroffenen Studierenden. Mathias, der lieber anonym bleiben möchte, ist Teil einer solchen Kommission und erzählt, dass es mit den Punkten oft nicht so genau genommen wird: „Als unser Studienplan überarbeitet wurde, wollten natürlich möglichst viele Institute in den Pflichtlehrveranstaltungen vertreten sein. Da geht es dann oft auch um finanzielle Überlegungen. Damit sich die eine Vorlesung für das eine Institut noch ausging, hat man bei der anderen Lehrveranstaltung halt noch einen ECTS-Punkt abgezwackt. Das Arbeitspensum für die Studierenden blieb aber bei der gekürzten Lehrveranstaltung im Endeffekt gleich. Dem Lehrenden war es wurscht. Der wollte einfach sein Programm durchziehen.“

Im Universitätsgesetz ist festgelegt, dass das Arbeitspensum eines Studienjahres 1.500 Stunden betragen muss. Umgerechnet sollen Studierende also etwa sechs Stunden pro Arbeitstag für das Studium aufwenden, um in Mindeststudiendauer abzuschließen – auch in der vorlesungsfreien Zeit. Diesem jährlichen Idealpensum, das für berufstätige Studierende ohnehin illusorisch ist, werden 60 ECTS-Punkte zugeteilt. Dass 25 Arbeitsstunden für einen Punkt aufgebracht werden müssen, ist aber nicht überall so. Obwohl das System der internationalen Vergleichbarkeit dienen soll, müssen Studierende für den Erwerb eines Leistungspunktes in den 49 Bologna-Staaten unterschiedlich viele Stunden aufwenden. In Deutschland sind es beispielsweise 30 Stunden, in Portugal oder Dänemark 28 Stunden, in Finnland 27 Stunden, in Estland 26 Stunden und in Österreich oder Spanien nur 25 Stunden. Für ein gleichwertiges Bachelorstudium mit 180 ECTS-Punkten müssen Studierende in Österreich also rein formell 900 Stunden weniger aufbringen als Studierende in Deutschland.

(c) Natali Glišić

Doch selbst innerhalb Österreichs gibt es trotz formaler Gleichrangigkeit erhebliche Unterschiede in der durchschnittlichen Studiendauer. So brauchen Studierende der Lebensmittel- und Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur (BOKU) durchschnittlich 8,3 Semester bis zum Bachelorabschluss, Studierende der Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Klagenfurt durchschnittlich 6,1 Semester. Beide Studien werden mit 180 ECTS – also dem selben Zeitaufwand – bewertet. Ein solch eklatanter Unterschied dürfte in der streng genormten ECTS- Welt gar nicht auftreten. Tatsächlich bestehen jedoch zwischen den kalkulierten Zeiteinheiten und den real aufgewendeten Zeiten erhebliche Unterschiede.

Ein einigermaßen absurdes Beispiel liefert die interuniversitäre Wiener Ringvorlesung „Sustainability Challenge“ im aktuellen Sommersemester 2015. Während Studierende der Wirtschaftsuniversität, der Technischen Universität und BOKU nach erfolgreichem Bestehen vier ECTS-Punkte erhalten, dürfen sich Studierende der Universität Wien bei gleichen Anforderungen über zehn Punkte freuen. Der ungerechtfertigte Unterschied entspricht einem Zeitraum, in dem man sich zweimal hintereinander alle 208 Folgen „How I Met Your Mother“ oder dreizehnmal alle extended Versions der „Herr der Ringe“-Trilogie reinziehen kann.

Beispiele für eine nicht nachvollziehbare Zuteilung von ECTS-Punkten gibt es viele: So berichtet Andreas Thaler, dass er für eine Vorlesung mit drei Punkten insgesamt überhaupt nur eine Stunde aufgewendet habe. Janine, die ihren vollen Namen lieber nicht nennen möchte, beschwert sich, dass ihr für eine Übung mit verpflichtenden Präsenzterminen, Seminararbeit und Referat nur zwei ECTS-Punkte gutgeschrieben wurden. Beide studieren Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der BOKU. Selbst innerhalb der einzelnen Studienrichtungen ist es also mit der Vergleichbarkeit des tatsächlichen Workloads nicht weit her.

BOULEVARD OF BROKEN DREAMS. Brisant wird die durchwegs verschieden interpretierte Vergabe von ECTS-Punkten spätestens, wenn es um den Anspruch auf Familienbeihilfe, Studienbeihilfe und Mitversicherung geht. Denn dazu muss jeweils eine Mindestanzahl an Credits nachgewiesen werden. Für ausländische Studierende geht es beim semesterlichen Punktesammeln gar um die Aufenthaltsgenehmigung in Österreich. Soll diese verlängert werden, müssen 16 ECTS vorgelegt werden. Wird dieses Pensum nicht erreicht, droht die Abschiebung.

Auch Studierende, die ein Doppelstudium betreiben, müssen bei ihrer Semesterplanung mit den ECTS- Punkten jonglieren. Durch zwei Studien kommen sie häufig über die Mindeststudiendauer hinaus und müssen Studiengebühren entrichten. Damit sie für ihr Interesse an zwei Fachgebieten nicht bestraft werden, refundiert das Wissenschaftsministerium die Gebühren. Vorausgesetzt es werden pro Studium 15 Punkte im Semester absolviert. Ein bürokratisch ohnehin schon aufwendiges Doppelstudium wird durch diese Vorgabe zusätzlich erschwert. Noch-WU- Rektor Christoph Badelt überlegt gar „Prüfungsinaktive“, also Studierende, die unter 16 Punkte im Semester absolvieren, von der Uni zu schmeißen. Angesichts solcher willkürlichen Regelungen, die nur wenig Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse nehmen und deren Nichteinhaltung massiv sanktioniert wird, verwundert eines nicht: In vielen Studierendenforen gibt es dutzende Threads über ECTS-Punkte, die sich möglichst leicht verdienen lassen.

(c) Natali Glišić

CAN’T GET NO SATISFACTION. Eines der großen Ziele des Bologna-Prozesses war es, die Mobilität der Studierenden zu fördern. Sie sollten es leichter haben, Erfahrungen im Ausland zu sammeln, aber auch im eigenen Land zwischen den Hochschulen zu wechseln. Kehrt man aus dem Auslandssemester in Reykjavík, Zagreb oder Edinburgh an die eigene Uni zurück, sollten die erbrachten Leistungen durch das einheitliche Punktesystem theoretisch ganz einfach an der Heimatuni angerechnet werden. In Wahrheit ziehen jedoch viele nach dem Erasmus-Aufenthalt ein eher nüchternes Resümee. Laut letzter Studierendensozialerhebung haben etwa 26 Prozent der Studierenden Probleme bei der Anrechnung ausländischer Zeugnisse.

Die Mühlen der Uni-Bürokratie hat auch Rita Korunka durchlaufen müssen. Im Zuge ihres Masterstudiums der Politikwissenschaft an der Universität Wien hat sie 2013 über das Erasmus-Programm ein Semester in Kopenhagen verbracht. Ganz wie vorgesehen hat Rita ein „Learning Agreement“ abgeschlossen. Darin wird festgehalten, welche Kurse an der Gastuni besucht werden. Außerdem kann man so vereinbaren, welche Kurse zuhause angerechnet werden. „Von den 42 ECTS, die ich in Kopenhagen absolviert habe, wurden mir gerade mal zehn angerechnet“, sagt Rita. Die zuständige Person am Institut habe die Anrechnung verweigert, weil Rita in Kopenhagen für zwei Seminare nur ein „absolviert“ statt einer Note bekommen hat. Ein Sprachkurs, den Rita in Kopenhagen besucht hat und der im Learning Agreement stand, wurde genauso wenig anerkannt. „Das Learning Agreement wird nicht ernst genommen. Im Endeffekt hängt es von den einzelnen Erasmus-BetreuerInnen ab, welche Leistungen du angerechnet bekommst.“

Dass ein Semester im Ausland seine Tücken hat, hat sich anscheinend herumgesprochen. In den hübsch aufgemachten Mobilitätsstatistiken zur viel beschworenen internationalen Mobilität werden die Balken, die die Erasmus-AbenteurerInnen repräsentieren, zwar jedes Jahr höher. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch, dass der relative Anteil – gemessen an der Gesammstudierendenzahl – seit 2009 wieder rückläufig ist. So bleiben jedes Jahr hunderte Erasmus-Plätze frei.

Konstanze Fliedl, Professorin für Germanistik an der Universität Wien, konstatiert im Aufsatz „Entrüstung in Bolognien: Zur Hochschul- und Studienreform“ (siehe Lesetipp), dass das Vorhaben der gesteigerten Mobilität durch Bologna gescheitert sei. Ganz im Gegenteil zu ihren hochgesteckten Zielen habe die Bologna-Reform durch die straffen Studienpläne und die Anrechnungsprobleme mehr Mobilitätshindernisse geschaffen.

Doch nicht nur bei der Anrechnung über Grenzen hinweg liegt vieles im Argen. Felix, der lieber anonym bleiben will, gelang es etwa erst mit Hilfe der Rechtsmeinung einer Juristin, seine Uni von der Rechtmäßigkeit seiner Anrechnung zu „überzeugen“. Die Studienabteilung wollte pauschal eine Lehrveranstaltung nicht anrechnen, weil sie Teil der Studieneingangsphase ist. Warum die Grundlagen der Mikroökonomie an der BOKU anderen Gesetzen folgen sollte als die Einführung in die Volkswirtschaftslehre an der JKU Linz konnte nicht begründet werden. Dabei hatte Felix sogar den Lehrenden auf seiner Seite, der meinte, dass es wohl sinnlos wäre, dasselbe nochmal zu lernen.

Was durch die ECTS-Punkte einfacher und einheitlicher funktionieren soll, entscheiden also erst recht wieder einzelne Hochschulen und verantwortliche Personen nach eigenem Gutdünken.

(c) Natali Glišić

LOSING MY RELIGION. Doch selbst wenn das System einwandfrei funktionieren würde, wenn sämtlicher Aufwand für die Studierenden punktgenau, individuell und leistungsgerecht abgebildet werden könnte, wenn Anrechnungen so gut funktionieren würden, wie es die Theorie vorsieht, selbst dann bleibt ein massiver Kritikpunkt am ECTS-System. Und zwar jener, der sich gegen die Messbarkeit und Vergleichbarkeit, schlussendlich gegen die Warenförmigkeit von Bildung an sich richtet.

Ungewohnt scharfe Worte kommen dabei von jemandem, der mit dem Bologna-System bestens vertraut ist. So nennt der ehemalige Wissenschaftsminister und ÖVP-Wissenschaftssprecher Karlheinz Töchterle in einem Gastkommentar in Die Zeit die Entwicklungen rund um die ECTS-Punkte einen „Wahnsinn, dem da ganz Europa anheimfällt“. Er spricht von der „Untauglichkeit der Messung“ durch die „Währung“ ECTS-Punkte. „Die einem Thema gewidmete Zeit sagt wenig über den damit verbundenen Studienerfolg aus. Relevant ist der Grad des Könnens und Wissens, aber nicht, wie viel Zeit man dafür verwendet hat“, so Töchterle. Auf Nachfrage von progress präsentiert er ein Gegenkonzept: „Was am Ende des Studiums ge- konnt und gewusst werden soll, wird definiert – der Weg dahin bleibt den Studierenden frei überlassen. Man würde auf ein Großes und Ganzes hin studieren, nicht kleinste Portionen in sich hineinwürgen, um sie dann wieder vergessen zu dürfen.“

„Aber“, so schließt Töchterle gleich im Anschluss an, „das alles ist Utopie und scheint mir völlig unrealistisch, weshalb ich weder als Rektor noch als Minister eine Umsetzung versucht habe. Nicht einmal die Studierenden als Betroffene erwartete ich mir hier als Verbündete. Auch sie wollen eben gerne ‚abhaken‘.“ Er spricht damit ein grundsätzliches Dilemma an, das auch Konstanze Fliedl beschreibt: „Nach einer Phase der geduldig vorgetragenen Einwände oder des ungehaltenen Protests setzt die Resignation ein. Und, vor allem: das Mitmachen. Die Bologna-Reform und zahlreiche Studienreformen haben sich als eine gallertartige Masse herausgestellt, in die wir versunken sind.“

ANOTHER BRICK IN THE WALL. Und in dieser haben sich auch viele Studierende scheinbar zurechtgefunden. Das ECTS-System ist zum Werkzeug der Fremd- und Selbstanalyse geworden und das ist in Zeiten der allgegenwärtigen Selbstvermessung, des ständigen Sammelns, Teilens und Vergleichens auch willkommen. Die vermeintlich neutralen Leistungs- punkte lassen nicht nur die Studierenden, sondern auch zukünftige ArbeitgeberInnen auf einen Blick erkennen, was ihr Gegenüber schon geleistet hat. Die Employability ist mit Bologna zur Priorität im Hoch- schulwesen geworden, gekrönt durch die imaginäre „Währung ECTS“.

Das Mitmachen und das wohlige Gefühl in der Masse scheint trotz mancher Kritik von Studierenden, Lehrenden, WissenschaflerInnen und selbst BildungsexpertInnen zu überwiegen. Ein erster subversiver Akt wäre vielleicht, die Frage „Wie viel ECTS hast du heuer gemacht?“ aus den Köpfen zu streichen und stattdessen zu fragen: „Was habe ich eigentlich gelernt?“

 

Rosanna Atzara und Klemens Herzog studieren Journalismus und Neue Medien an der FH Wien der Wirtschaftskammer Wien.

Lesetipp:

„Empörung! Besichtigung einer Kulturtechnik. Beiträge aus Literatur- und Sprachwissenschaft“. Herausgegeben von Alexandra Millner, Bernhard Oberreither, Wolfgang Straub. Wien, facultas Verlag, erscheint 2015. 

 

Das Geschäft mit der Arbeitslosigkeit

  • 16.12.2014, 11:49

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird mitunter zum Kampf gegen Arbeitslose. Dabei werden jährlich Millionen an öffentlichen Geldern ausgegeben. Eine Spurensuche.

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird mitunter zum Kampf gegen Arbeitslose. Dabei werden jährlich Millionen an öffentlichen Geldern ausgegeben. Eine Spurensuche.

Bernhard starrt mit gesenktem Blick auf seine Terminkarte, die er zu jedem AMS-Gespräch mitnehmen muss. Seit Mai 2013 ist er erfolglos auf der Suche nach einer passenden Arbeitsstelle. Die Tür des Zimmers 4002 öffnet sich mit Schwung. Wie auf Kommando zücken die Wartenden synchron ihren „Passierschein“. Bernhard darf als erster eintreten.

Nach dem Wirtschaftsstudium fand der 26-jährige Akademiker nicht sofort eine Arbeit. Trotz unzähliger fruchtloser Bewerbungen konstatierte das AMS rasch, dass Bernhard, der lieber anonym bleiben möchte, entweder zu wenig Motivation aufweise oder etwas mit seiner Bewerbung nicht stimmen könne. Deshalb wurde er in die Schulung mit dem Titel „Bewerbungswerkstatt“ gebucht – und das, obwohl er wegen seines Studiums Erfahrung mit Bewerbungen hat und Kenntnisse im Bereich Human Resource Management und im Arbeitsrecht vorweisen kann.

„Ein Tag dauert vier Stunden und besteht aus 40 Prozent Kursinhalten, 30 Prozent Pausen und 30 Prozent Diskussion über Themen wie ‚Slowaken, die uns den Job wegnehmen‘. Ein anderes Mal wurde darüber gestritten, wo man in Wien das beste Schnitzel findet“, schildert Bernhard den Kursalltag. Kurse, die er selbst vorgeschlagen hatte, wurden mit dem Argument, dass hierfür kein Budget vorhanden sei, abgelehnt. Für ihn fühlt es sich so an, als würde das AMS gegen ihn arbeiten.

Angesprochen auf sinnlose Maßnahmen verweist das AMS auf die enorme Anzahl an SchulungsteilnehmerInnen und die in Relation dazu geringe Anzahl an Beschwerden. Natürlich könne es vorkommen, dass sich Einzelne in einem Kurs wiederfinden, der nicht für sie passt, meint etwa Martin Kainz, Abteilungsleiter des Service für Arbeitskräfte beim AMS Wien. Auf Kritik werde schnell reagiert und jeder einzelne Fall überprüft. Obwohl die Zufriedenheit der TeilnehmerInnen dem AMS sehr wichtig sei, gehe es letztendlich um den Erfolg am Arbeitsmarkt. „Selbst bei diesen sogenannten Aktivierungskursen fangen 30 Prozent binnen drei Monaten zu arbeiten an“, so Kainz. Ein Argument, das Bernhard nicht gelten lassen will. Er erklärt: „Wenn ich jetzt zehn Wochen in diesem Kurs bin und eine Woche danach etwas finde, dann hat das rein gar nichts mit diesem Kurs zu tun. Ich lerne dort nichts Neues.“

Doch nicht nur KursteilnehmerInnen sind frustriert, auch TrainerInnen haben am System einiges auszusetzen. Von den Millionengewinnen der Institute merken diejenigen, die die Kurse tatsächlich abhalten, relativ wenig. Kritisiert wird neben der verhältnismäßig schlechten Bezahlung und der hohen Jobunsicherheit auch die zum Teil mangelnde Bereitstellung von Lehrmaterialien. Vor- und Nachbereitungszeiten werden vom Dienstgeber oder der Dienstgeberin meist nicht bezahlt. „Wir zerreißen uns für die KursteilnehmerInnen“, berichtet Sebastian Reinfeldt, Betriebsrat und Deutschtrainer beim Schulungsanbieter Mentor. „Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen legen ihre Geschichten und persönlichen Probleme nicht an der Tür ab“, schildert er den fordernden Alltag der TrainerInnen. Sie brauchen jedenfalls ein dickes Fell.

Auf pädagogischer Ebene wird kritisiert, dass viele Schulungsmaßnahmen unter Zwang stattfinden, während selbstgewählte Kurse, wie in Bernhards Fall, oft nicht finanziert werden. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für die Vermittlung von Wissen und Know-how. Diese Problematik ist dem AMS sehr wohl bewusst. So erhält man etwa bei selbstgewählten Kursen wie etwa für Staplerscheine, Sprachen oder Lehrabschlüsse fast keine Beschwerden von den TeilnehmerInnen. „Wer das macht, will das auch machen“, merkt Sebastian Paulick, Pressesprecher des AMS Wien, an.

Die GewinnerInnen der Krise. Laut einem aktuellen Bericht des Sozialministeriums wurden im Jahr 2013 443 Millionen Euro für Schulungsmaßnahmen im Auftrag des AMS ausgegeben. Weitere 78 Millionen flossen in die Förderung von individuellen Kurs- und Kursnebenkosten. Doch nicht nur das Geschäft mit den Kursen boomt. 92 Millionen Euro gingen als Eingliederungsbeihilfen direkt an Unternehmen. Werden arbeitslose Menschen eingestellt, so übernimmt das AMS in gewissen Fällen für eine vereinbarte Zeit bis zu zwei Drittel der Lohnkosten. NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker konstatiert dabei erhebliche Mitnahmeeffekte. Das bedeutet, dass Unternehmen Förderungen für Angestellte beziehen, die sie vielleicht ohnehin beschäftigt hätten.

Das AMS schreibt seine Aufträge gemäß dem Bundesvergabegesetz aus; genaue Zahlen bleiben aber ein wohlbehütetes Geheimnis. Seitens des AMS Österreich heißt es, dass diese Zahlen nicht zentral gesammelt werden und eine Weitergabe auch datenschutzrechtlich nicht möglich sei. Einen Bericht der Tageszeitung Kurier kann das AMS Österreich indes bestätigen. 40 Prozent des gesamten Auftragsvolumens gehen an fünf Institute. Die größten ProfiteurInnen der Kurspolitik sind etwa das Berufsförderungsinstitut (bfi), welches von der Arbeiterkammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund getragen wird; das Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFI), das Teil der Wirtschaftskammer ist, der SPÖ-nahe, gemeinnützige Verein Jugend am Werk, das Arbeiterkammer-nahe Berufliche Bildungs- und Rehabilitationszentrum (BBRZ) sowie der private Schulungsanbieter Ibis Acam.

Gemeinnützige vs. Private. 20 Millionen Euro betrug 2014 der Umsatz des bfi, so Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer des bfi Wien. Beim größten Kooperationspartner des AMS werden pro Jahr etwa 50.000 Kursteilnahmen gezählt. An die 800 TrainerInnen arbeiten für das bfi. Mehr als die Hälfte davon sind freiberuflich tätig. Laut Lackinger bezieht das bfi insgesamt 65 Prozent des Umsatzes durch AMS-Aufträge. Dabei ist die Branche in den letzten Jahren viel härter geworden. Einem vorliegenden internen Dokument des AMS Wien zufolge bekommen in der Bundeshauptstadt die privaten KursanbieterInnen bereits einen Hauptteil der teils millionenschweren Aufträge. Im Bildungs- und Schulungsbereich von Arbeitssuchenden lässt sich offenkundig viel Geld verdienen, InvestorInnen haben dies erkannt. Der Ausbildner Ibis Acam wurde etwa erst vor kurzem von einem deutschen Investmentfonds übernommen. „Diese Unternehmen werden von internationalen FinanzinvestorInnen als Cashcows betrachtet“, sagt bfi-Chef Lackinger.

Er stellt deshalb das System der Ausschreibungen als Ganzes in Frage. Dass man in der Erwachsenenbildung glaubt, der freie Markt würde die beste Qualität liefern, sei oft ein Trugschluss. „Das heißt nicht, dass Arbeitssuchenden hier schlechte Qualität angeboten wird, aber als grenzwertig kann man das schon betrachten“, so Lackinger im Interview. Wie viel Rücklagen sich beim gemeinnützigen bfi über die Jahre angehäuft haben, wollte Lackinger nicht offenlegen.

Transparenz gesucht. An genaue Zahlen zu kommen, erweist sich im gesamten Bereich der Arbeitsmarktförderung als schwierig. Mangelnde Kontrollmöglichkeiten kritisiert auch Lukas Wurz, Referent für Sozialpolitik bei den Grünen. Eine seriöse Kontrolle der Tätigkeiten und Ausgaben des AMS sei nicht möglich. Gerüchte, parteinahe Institute würden sich das Gros des AMS-Kuchens untereinander aufteilen, halten sich hartnäckig. Die von den jeweiligen Regierungsparteien dominierten SozialpartnerInnen sind jedenfalls auf allen Ebenen der AMS-Entscheidungsgremien vertreten. Obwohl bei den Ausschreibungen für alle die selben Kriterien gelten, wird behauptet, die parteinahen Institute hätten zumindest einen Informationsvorteil. Franz-Josef Lackinger bestreitet dies vehement. „Wenn es Informationen vorab gibt, um Ausschreibungen sinnvollerweise besser zu gestalten, sind alle GeschäftsführerInnen, egal ob schwarz, blau oder rot, gleichermaßen informiert. Wir als bfi haben keinerlei Info-Vorsprung“, insistiert er. Institute wie das bfi hätten jedoch einen klaren Vorteil, was die Infrastruktur betrifft. Das sieht man auch beim AMS ähnlich. „Große, breit aufgestellte Institute können aufgrund ihrer Marktmacht mitunter einfach die besseren Angebote stellen. Das selbe Problem besteht in der Bauwirtschaft, wo sich die Porr und die Strabag vieles teilen“, so AMS-Sprecher Paulick. „Das ist ein Problem, das nicht in unserem Bereich liegt.“

Fakt ist: Die vom AMS beauftragten Institute, gemeinnützig oder privat, schreiben Millionengewinne; das Geld fließt in nicht einsehbare Rücklagen. 2013 erreichte hingegen die Zahl an existenzgefährdenden Bezugssperren von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe einen traurigen Rekord. Widerstand gegen die gängige Praxis hält sich in einem überschaubaren Rahmen. Vereine wie die Aktiven Arbeitslosen oder die Plattform soNed üben harsche Kritik und treiben die Selbstorganisation von Betroffenen voran. In der zivilgesellschaftlichen und parteipolitischen Landschaft stehen sie damit jedoch auf recht einsamem Posten. „Für uns ist es sehr schwer, AllianzpartnerInnen zu finden“, beklagt sich der Vereinsobmann der Aktiven Arbeitslosen Martin Mair über die fehlende Lobby. Aktuell wird an der dritten Auflage des „Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose“ gearbeitet. Ein Rüstzeug, um mit den Schikanen des AMS und seiner HelferInnen fertigzuwerden und das eigene Recht zu erkämpfen.

Mit Anfang November hat in Wien nach der zunehmenden Kritik an den viel gescholtenen Aktivierungskursen indes ein neues, zwölf Millionen schweres Kurskonzept gestartet. Über modulare Einheiten sollen KursteilnehmerInnen nun aktiver über die Lehrinhalte mitbestimmen können. Immerhin reagiere man beim AMS rasch auf Kritik – genauso wie schon vor fünf Jahren, wo aufgrund heftiger Kritik an den damaligen „Jobcoachings“ Korrekturen angekündigt wurden. Ob die nun neu konzipierten „Jobwerkstätten“ qualitativ hochwertiger sind, bleibt abzuwarten. Auch inwieweit es dem AMS überhaupt um die Qualität geht, steht zur Diskussion. 2009 gab der AMS-Geschäftsführer Johannes Kopf gegenüber der Wochenzeitschrift Format zu, dass Kurse manchmal nur einem einzigen Zweck dienen: die Leute daran zu hindern, es sich in ihrer Arbeitslosigkeit gemütlich einzurichten. Von dieser Gemütlichkeit merkt Bernhard zumindest nichts. Er muss den ihm verordneten Kurs noch zwei Wochen besuchen. Erst dann kann er sich wieder voll auf die Jobsuche konzentrieren.

Rosanna Atzara und Klemens Herzog studieren „Journalismus und Neue Medien“ an der FH der Wirtschaftskammer Wien.