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Au Revoir Rojava?

  • 30.12.2019, 15:39
Das progress hat sich im November mit Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger getroffen und mit ihm über Rojava und den türkischen Angriffskrieg gesprochen.

progress: Bricht die Türkei gerade Völkerrecht?

Thomas Schmidinger: Völkerrechtlich ist das eindeutig ein Angriffskrieg. Es gab keine Angriffe von syrischen Kräften auf die Türkei - ein Verteidigungskrieg lässt sich nicht mit Behauptungen argumentieren.

progress: Vergangenen Herbst hat Trump angekündigt, dass die USA ihre Truppen an der syrisch-türkischen Grenze abziehen werden – ein implizites Go für eine türkische Invasion. Wie lässt sich dieser Schritt der USA erklären?

Schmidinger: Angekündigt hat das Präsident Trump ja schon mehrmals. Insofern ist es auch schwer zu sagen, ob es einen konkreten Grund für diesen Zeitpunkt dafür gegeben hat. Ich vermute tatsächlich, dass es die Sprunghaftigkeit von Trump ist – dass, nachdem er ein Telefonat mit Präsident Erdogan geführt hat, er da spontan entschieden hat, sich zurückzuziehen. Ich sehe keine strategische Planung hinter diesem Schritt, kein strategisches Interesse.

progress: Was erhofft sich Erdogan von diesem Angriff?

Schmidinger: Die Hauptgründe für die Türkei liegen mehr in der Innenpolitik als in der behaupteten Bedrohung durch die YPG/YPJ (Anm.:Kurdische „Volksverteidigungseinheiten“/„Frauenverteidigungseinheiten“). Es gibt auch keine anderen Interessen, die die Türkei in Syrien hätte, sondern der Hauptgrund ist schlicht und einfach der, dass es in der Türkei immer funktioniert, bei innenpolitischen Krisen die Aggression nach außen zu lenken. Das hat 2018 schon geholfen. Auch damals hat sich die CHP (Anm.: „Republikanische Volkspartei“ der Türkei) als größte Oppositionspartei hinter den Angriffskrieg gegen in Afrin gestellt. In der Zwischenzeit hat die CHP mit Istanbul und Ankara große Städte dazugewonnen und das Regime in Zugzwang gebracht. Wenn es aber Krieg gegen ein Nachbarland gibt, steht die CHP wieder hinter der Regierung. Dieses innenpolitische Kalkül in einer schweren wirtschaftlichen Krise war wohl das Hauptmotiv.

progress: Wie sieht’s derzeit in der Region aus?

Schmidinger: Es ist sehr unterschiedlich an verschiedenen Ecken des Gebiets. In der Mitte des Gebiets gibt es einen türkisch besetzten Streifen. Dort gibt es eine Einigung zwischen russischen und türkischen Truppen, dass dort die Türkei einmarschieren darf. Es gibt in diesen Gebieten keine YPG/YPJ mehr, aber sehr wohl noch immer die lokalen demokratischen Kräfte und die lokale kurdische Polizei. Auch die Selbstverwaltungsstrukturen sind weiterhin aufrecht. In einem Teil, nämlich dort, wo die Ölquellen sind, sind auch weiterhin die USA präsent. Insgesamt gibt es sogar mehr amerikanische Soldat_innen in der Region als vor dem Rückzug, allerdings sind sie weniger aufs gesamte Gebiet verteilt, sondern nur mehr bei den Ölvorkommen präsent. Was es im ganzen Gebiet gibt, sind gehäufte Anschläge vom IS.

progress: Der Angriff der Türkei hat dafür gesorgt, dass jetzt hunderte IS-Mitglieder auf freiem Fuß sind, da die kurdischen Kräfte die Gefängnisse nicht mehr bewachen konnten. Ist ein neues Erstarken des Fundamentalismus in der Region zu erwarten?

Schmidinger: Ja, definitiv. Statistisch wurde ein Anstieg der Angriffe um 300% erfasst. Aber ob das ausreicht, um Territorium unter Kontrolle zu bringen, weiß ich nicht. Man darf nicht übersehen, dass viele ehemalige IS-Kämpfer jetzt bei anderen Milizen sind. Was ich fast für wahrscheinlicher halte als ein Wiederauferstehen des IS ist, dass andere ähnlich ausgerichtete Organisationen mehr an Einfluss gewinnen.

progress: Erdogan geht nicht nur militärisch gegen Kurd_innen vor. Wie spielt sich die antikurdische Gewalt in der türkischen Innenpolitik ab?

Schmidinger: Wir wissen, dass eben erst eine Reihe demokratisch gewählter Bürgermeister_innen abgesetzt worden sind, dass es tausende politische Gefangene gibt, die wegen vermeintlicher Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung oder der PKK (Anm.: „Arbeiterpartei Kudistans“) oder anderen vorgeblich staatsfeindlich Gesinnten eingesperrt werden. Die Willkür dieser Repression führt dazu, dass auch die, die noch auf freiem Fuße sind, sich selbst zensurieren. Das geht bis in die Diaspora herein. Wir haben auch hier in Österreich jede Menge Personen, die sowas direkt in der Türkei melden. Jede Person, die noch Familienangehörige in der Türkei hat und die noch sehen möchte, überlegt halt zweimal, ob sie etwas kritisches veröffentlicht. Es hat kürzlich den Fall gegeben, dass die Goethe-Universität in Deutschland die dortige Studierendenvertretung aufgefordert hat, Namen der Mitglieder der YXK (Verband kurdischer Studierender) bekannt zu geben. Anscheinend hatte sie das türkische Konsulat in Frankfurt angefragt. Es ist ein Skandal, dass eine deutsche Universität sowas tut. Es ist dann glücklicherweise nicht erfolgt, aber nur weil die Studierendenvertretung schlau genug war, nicht nachzugeben.

progress: International hat es ja einiges an Aufschrei gegeben. Ist diese Solidarität in Rojava angekommen? Welche realen Konsequenzen hat die Türkei für die Offensive erfahren?

Schmidinger: Ankommen tut der Protest in Rojava sehr. Die Leute verfolgen sehr genau, was in Europa und der ganzen Welt passiert. Das ändert sicher etwas am Durchhaltevermögen der Bevölkerung, aber ob das reale Auswirkungen auf das Verhalten von Staaten in der internationalen Gemeinschaft hat, ist eine andere Frage. Was der Türkei wirklich weh tun würde, wären wirtschaftliche Sanktionen. Gezielte Sanktionen gegen Mitglieder des Regimes. Natürlich würde es auch weh tun, wenn die Türkei aus der NATO fliegen würde. All das ist eben nicht geschehen. Man hat im Großen und Ganzen versucht, die Türkei zu appeasen, sie also zu beschwichtigen und Konflikt zu vermeiden, indem Zugeständnisse gemacht werden.

progress: Nun - wie gehts’s weiter?

Schmidinger: Ich glaube nicht, dass die Selbstverwaltung schon völlig am Ende ist. Auch wenn das syrische Regime versuchen wird, die Gebiete vollends zu übernehmen, werden sie noch geraume Zeit auf die Kooperation mit den Syrischen Demokratischen Kräften (Anm.: Militärbündnis, in dem die kurdischen Streitkräfte operieren) angewiesen sein.

100 Jahre B-VG

  • 11.05.2020, 12:36
Interview mit Verfassungsjurist em. Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer zur aktuellen Lage des österreichischen Rechtsstaates 100 Jahre nach dem B-VG 1920

Progress: 100 Jahre B-VG im Jahr 2020 – Was sind aus Ihrer Sich die wichtigsten Errungenschaften der österreichischen Bundesverfassung?

H.M.: Die wichtigsten Errungenschaften sind die Möglichkeit des Verfassungsgerichtshofes Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, dann die Gewaltenteilung der Verfassung und die unabhängige Justiz.

 

Progress: Sehen Sie bundesstaatliche Struktur auch als wichtig an?

H.M.: Das war eine politische Entscheidung am Beginn der Republik, dass Österreich als Bundesstaat eingerichtet werden soll und das ist passiert.

 

Progress: Österreich hat heuer zum Jubiläum die so ziemlich schwerste Prüfung für seine Verfassung seit 1945, sehen Sie den Rechtsstaat, den Verfassungsstaat als ausreichend robust gegen den politischen Missbrauch durch Regierungen?

H.M.: Missbrauch kann man nie ausschließen, aber unsere Verfassung trifft ausreichend Vorkehrungen, um die Gefahr des Missbrauchs möglichst gering zu halten, die jetzige Situation führt uns nicht in ein autoritäres System.

 

Progress: Es hat in den letzten Tagen und Wochen einige Kritik an der Gesetzgebung, bzw. an diesem „Verordnungsstaat“ der Bundesregierung, wie ist ihr Urteil zu dieser Vorgangsweise, die sich auf die COVID-Krise bezieht?

H.M.: Man muss davon ausgehen, dass hier möglichst rasch Maßnahmen gesetzt werden mussten, weil sich ja nicht leugnen lässt, dass wir es hier mit einem Virus zu tun haben, der sich rasch ausbreitet. Daher ist die Gesetzgebung im Rahmen der Verfassung passiert, wenn auch in einem Schnellverfahren, das auf Dauer nicht wünschenswert wäre. Die Verordnungen, die erlassen wurden, sind auf Gesetze gestützt, einzelne Verordnungen könnte man besser formulieren oder besser gestalten, aber das war im Wesentlichen wahrscheinlich auf die Eile zurückzuführen, die hier bestand.

 

Progress: Der VfGH wird sich ja mit einigen dieser Gesetze und VO beschäftigen müssen, d.h. aus Ihrer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es hier zu Aufhebungen kommt?

H.M.: Offensichtliche Gesetzwidrigkeiten oder Verfassungswidrigkeiten, sehe ich eigentlich nicht, es gibt hier vielleicht eine Ausnahme. Ob sich im Detail hier Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeiten verbergen, muss man sehr genau prüfen, das kann man so allgemein nicht einfach sagen. Der VfGH hebt im Jahr ca. 40 Gesetze und sehr viele Verordnungen auf, dies wird auch heuer so sein, aber das sind teils auch Flüchtigkeitsfehler, die durch den Zeitdruck zustande gekommen sind.

 

Progress: Was wäre die eine Ausnahme, von der sie gesprochen haben?

H.M.: Das COVID-Gesetz sieht vor, dass durch Verordnung das Betreten bestimmter öffentlicher Orte verboten werden kann, und in der Verordnung ist der gesamte öffentliche Raum erfasst, das ist jedoch kein „bestimmter“ öffentlicher Raum. Auch hier gibt es unterschiedliche Ansichten, meiner Ansicht nach ist dies gesetzwidrig.

 

Progress: Ein Thema, welches noch mehr diskutiert wurde und heute wieder durch diesen Leak des Protokolls einer Expertenratssitzung öffentlich wurde, inwieweit es rechtspolitisch problematisch ist, dass in Form von Pressekonferenz seitens Bundesregierung suggeriert wird, dass reine Empfehlungen zu Rechtsnormen werden.

H.M.: Dies ist problematisch, wenn Regierungsmitglieder auf Pressekonferenzen Behauptungen aufstellen, die so durch die Rechtsordnung nicht gedeckt sind, dann führt dies dazu, dass die Exekutive dazu verleitet wird strenger vorzugehen als dies geboten oder zulässig wäre und dies ist auch tatsächlich passiert in einzelnen Fällen.

 

Progress: Das heißt solche Strafbescheide haben dann schon auch im Wege des Rechtsschutzverfahrens Chance auf Aufhebung?

H.M.: Ja, sehe ich so.

 

Progress: Sehen Sie als Verfassungsjurist einen Bedarf an grundlegenden Reformen des österreichischen Rechtsstaates oder denken Sie, dass nach Aufhebung der COVID-Normen zur Tagesordnung übergegangen werden kann?

H.M.: Wir haben in den letzten Jahren eine grundlegende Rechtsschutzreform durchgeführt, wir haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz zwischen 2012 und 2014 implementiert, dies funktioniert einigermaßen gut, einzelne Dinge müssen sich noch einspielen. Was man andenken könnte, wäre ein Eilverfahren, dass der VfGH vorläufigen Rechtsschutz gegen Gesetze oder Verordnungen gewähren kann, wenn gravierende Mängel drohen.

 

Progress: Das Versammlungsrecht ist eine besonders heikle Materie, wie weit ist dieses Grundrecht durch die COVID-Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder kann man das am Ende wieder schadlos herstellen?

H.M.: Es ist so, dass das Recht sich zu versammeln, Versammlungen zu bilden, Demonstrationen abzuhalten, durch die Menschenrechtskonvention verfassungsrechtlich geschützt ist und nur unter ganz bestimmten Umständen eingeschränkt werden darf, wenn es z.B. für die Gesundheit der Menschen nötig ist und dann nur unter ganz bestimmten Umständen. Wenn sich Menschen also mit einem Sicherheitsabstand zueinander versammeln, unter Umständen auch Schutzmasken tragen, müsste das auch zulässig sein.

 

Progress: Letzte Woche fand ja diese aus dem Ruder gelaufenen Versammlung in Wien statt, wenn die Schutzmaßnahmen eingehalten werden, müsste diese zulässig sein?

H.M.: Ja halte ich für zulässig, wenn die entsprechenden Schutzmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind, besteht natürlich die Möglichkeit der Auflösung.