Patrick Gensing

Hoffnungslos überfrachtet

  • 28.06.2013, 16:03

Die Erwartungen an den NSU-Prozess sind vollkommen überhöht. Viele Medien konzentrieren sich seit Monaten auf das Verfahren in München und auf die Hauptangeklagte „Nazi-Braut“ Zschäpe. Doch ein Prozess kann keine gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Rechtsterrorismus ersetzen. Ein Kommentar zum NSU-Prozess von Felix M. Steiner und Patrick Gensing*

Die Erwartungen an den NSU-Prozess sind vollkommen überhöht. Viele Medien konzentrieren sich seit Monaten auf das Verfahren in München und auf die Hauptangeklagte „Nazi-Braut“ Zschäpe. Doch ein Prozess kann keine gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Rechtsterrorismus ersetzen. Ein Kommentar zum NSU-Prozess von Felix M. Steiner und Patrick Gensing*

Eigentlich taugen Medienthemen in der großen Öffentlichkeit eher zur Randnotiz. Beim NSU-Prozess ist das anders: Die Frage, wie viele JournalistInnen am Oberlandesgericht einen reservierten Sitzplatz erhalten, wurde zum Topthema in den größten Medien des Landes. Akkreditierungsverfahren und Losentscheidungen wurden erklärt, Anträge von Journalisten an das Oberlandes- sowie das Bundesverfassungsgericht als Eilmeldungen, also Breaking News, eingestuft. Dabei war das Kind zu diesem Zeitpunkt längst in den Brunnen gefallen. Bereits im Februar hatte beispielsweise der ARD-Terrorexperte Holger Schmidt auf die fatale Entscheidung des Oberlandesgerichts hingewiesen, den NSU-Prozess in einem viel zu kleinen Saal durchführen zu wollen. Schmidt erklärte, warum es durchaus möglich gewesen wäre, das Verfahren in einem größeren Saal, in einer anderen Stadt, in einem anderen Bundesland zu beginnen, so dass es keine Platzprobleme gegeben hätte. Und er appellierte, noch sei „Zeit, die nächste NSU-Panne zu verhindern“.

Erst mehrere Wochen später, Ende März, sprang die Öffentlichkeit auf das Thema an, als alles zu spät war, weil das Gericht – wie bereits abzusehen war – die gesellschaftliche Bedeutung des NSU-Prozesses unterschätzt hatte. Zudem scheint den Verantwortlichen am Oberlandesgericht nicht klar zu sein, dass die Medienlandschaft nicht mehr nur aus zwei Nachrichtenagenturen und einigen großen Sendern sowie Zeitungen besteht, sondern auch ausländische Medien und freie FachjournalistInnen vollkommen zu Recht ihren Platz einfordern. Gerade das Wissen von FachkollegInnen ist im NSU-Prozess unverzichtbar, damit die Berichterstattung eigene Rechercheansätze verfolgt und die Strukturen der Szene dargestellt werden. Denn hier liegt der Ansatz für weitere Fragen im NSU-Komplex.

So war es beispielsweise lediglich eine Randnotiz, dass das Oberlandesgericht die Terrorgruppe kurzerhand für aufgelöst erklärte, weil Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot sind und Beate Zschäpe in Haft sitzt. Es sei „naheliegend“, dass sich der NSU damit aufgelöst habe, so das Gericht. Doch lässt sich bereits jetzt, vor der Aussage der Angeklagten und ZeugInnen, mitten in der Aufklärung des Komplexes ausschließen, dass der NSU lediglich aus mehr als drei Mitgliedern bestand und möglicherweise weiter existiert? Zudem soll in dem Prozess ja gerade erst gerichtsfest bewiesen werden, dass Beate Zschäpe bei den zehn Morden Mittäterin war, also Böhnhardt und Mundlos alle Morde verübten. Dass der NSU aber möglicherweise aus mindestens einer weiteren Person bestand und von vielen UnterstützerInnen getragen wurde, ist bereits in seinem Bekennervideo zu erkennen. Dort heißt es: „Der Nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden.” Hätte man diese Behauptung zunächst noch mit Größenwahn abtun können, ist mittlerweile klar geworden, dass es zahlreiche weitere HelferInnen – und möglicherweise auch weitere TäterInnen – gab. Wie hat beispielsweise Beate Zschäpe überhaupt vom Tod ihrer beiden Gesinnungsgenossen nach dem Banküberfall in Eisenach im November 2011 erfahren? Zudem werden in dem Film an zwei Stellen vier Paulchen-Panther-Köpfe rund um den Schriftzug NSU gruppiert. Auch die ErmittlerInnen schlossen daher nicht aus, dass es ein weiteres Mitglied gegeben haben könnte. In internen Akten heißt es dazu: „An dieser Stelle würden auch weniger Köpfe eine symmetrische Darstellung ermöglichen, so dass die Wahl von vier Köpfen an zwei Stellen des Films auch Hinweis auf die zahlenmäßige Zusammensetzung des NSU sein könnte.“

Die Überraschung, dass Beate Zschäpe vor Gericht nicht als aggressive, hassverzerrte „Nazi-Braut“ auftritt, sondern adrett und harmlos, dominiert bislang die Berichterstattung. Doch zum einen war es eben der Umstand, dass Neonazis sich wie „Fische im Wasser“ mitten in der Gesellschaft bewegen können, weil sie genau aus jener kommen, zum anderen ist es naheliegend, dass Zschäpes Verteidiger ein möglichst seriöses Bild der Angeklagten inszenieren wollen. Im NSU-Komplex sind viele Fragen weiter offen: Welche Rolle spielten die „V-Leute“, Neonazis, die Informationen an den Staat verkaufen? Warum verdächtigte die Polizei in mehreren Bundesländern die Opfer und ihre Angehörigen? Warum wurde der Nazi-Terror in der Bundesrepublik jahrzehntelang verdrängt? Die Anklageschrift des Generalbundesanwalts umfasst 488 Seiten. Mehr als 600 ZeugInnen werden benannt, fast 400 Urkunden sollen die Anklage stützen, 22 Sachverständige werden zitiert. Fünf Angeklagte müssen sich in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht München verantworten. Allein Zschäpe werden 27 rechtlich selbstständige Handlungen gemeinschaftlich mit Böhnhardt und Mundlos vorgeworfen. Darunter werden zehn Morde und mehr als 20 versuchte Morde aufgeführt. Dazu kommen mehrere Banküberfälle, die Zschäpe als NSU-Mitglied mitgetragen haben soll, sowie die Brandstiftung in ihrer Wohnung in Zwickau, wobei sie den Tod von mehreren Menschen in Kauf genommen habe, so die Anklage.

Es geht in dieser Verhandlung um die persönliche Schuld der Angeklagten – nicht mehr und nicht weniger. „Dies ist schon viel, wenn man bedenkt, dass jahrelang die Falschen, nämlich die Familienangehörigen und enge Freunde, verdächtigt wurden“, betonen die Rechtsvertreter der Familie Tasköprü. Süleymann Tasköprü ist im Jahr 2001 mutmaßlich vom NSU in Hamburg ermordet worden.

 Ein Prozess kann keine gesellschaftliche Debatte über Alltagsrassismus und die Ursachen von Rechtsterrorismus ersetzen. Das Kapitel NSU wird auch nach einer möglichen Verurteilung von Zschäpe und weiteren Angeklagten nicht abgeschlossen sein. „Wir werden nicht aufhören nachzufragen, bis alle Verantwortlichkeiten geklärt sind“, betonen die Vertreter der Familie Tasköprü, denn: „Niemand darf sich durch eine mögliche Verurteilung der fünf Angeklagten reinwaschen.“

* Felix M. Steiner und Patrick Gensing betreiben das Blog Publikative.org. Steiner ist Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, Gensing Autor des Buchs „Terror von rechts – die Nazi-Morde und das Versagen der Politik“.