Moritz Ablinger

Geräumter Haushalt

  • 06.07.2013, 17:27

Rund 22.300 Delogierungsverfahren gegen Mieter_innen wurden im Jahr 2011 alleine in Wien eingebracht. Steht eine Räumungsklage ins Haus, wird als Erstes die Fachstelle für Wohnungssicherung informiert, die Betroffene auf ihrem Weg unterstützt.

Rund 22.300 Delogierungsverfahren gegen Mieter_innen wurden im Jahr 2011 alleine in Wien eingebracht. Steht eine Räumungsklage ins Haus, wird als Erstes die Fachstelle für Wohnungssicherung informiert, die Betroffene auf ihrem Weg unterstützt.

Herr Zettel* hatte seit Monaten versucht, eigenständig seine Wohnung zu retten. Seine Mietschulden wuchsen ihm jedoch immer weiter über den Kopf. Zettel machte Zahlungsversprechungen oder vereinbarte Raten, aber er konnte seinen Zahlungsrückständen nicht nachkommen. Schließlich fand man in einem Räumungsverfahren einen gerichtlichen Vergleich. Aber auch diesen konnte Zettel nicht einhalten. Da er keine anderen Möglichkeiten mehr sah, wandte er sich an die Fachstelle für Wohnungssicherung (FAWOS), die seine Geschichte dokumentierte.

Zettel ist kein Einzelfall: Laut dem Bundesministerium für Justiz wurden im Jahr 2011 in ganz Wien 22.294 Räumungsverfahren eingebracht. Gemeindewohnungen betreffend, für die die Fachstelle eigentlich gar nicht zuständig ist, wurde sie über 11.094 eingebrachte Räumungsverfahren informiert. Für private Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Firmenlokale erhielt sie 7.138 Verständigungen. In Summe ergibt das 18.232 eingebrachte Räumungsverfahren, über die die FAWOS informiert wurde. Das entspricht einem Anteil von 81,8 Prozent aller im Jahr 2011 eingebrachten Verfahren in Wien. Zettel ist einer von rund 8.800 Klient_innen, die 2011 in den Zuständigkeitsbereich der Fachstelle fielen. Die Fachstelle für Wohnungssicherung der Volkshilfe Wien ist eine der ersten Anlaufstellen für von Zwangsräumungen gefährdete Personen. 1996 ins Leben gerufen, ist sie für alle Privat- und nicht von der Stadt Wien verwalteten Genossenschaftswohnungen zuständig. Eine Arbeit, die insofern besonders wichtig ist, „da es eher der Privatbereich ist, der delogiert“, erzählt Renate Kitzmann, Sozialarbeiterin bei FAWOS. Zunächst betreute die Stelle nur Klient_innen des 20. Wiener Gemeindebezirks, aber schon 1998 wurde die Verantwortlichkeit auf die ganze Stadt ausgeweitet. Sie gilt als die Stelle zur Prävention für Gefährdete in Privatwohnungen.

Schnellere Hilfe. Seither hat sich aber auch der Kampf um die angemessene Finanzierung der Stelle intensiviert. Mit einer Mietrechtsänderung im Jahr 2000 wurde „endlich die Gesetzesänderung erreicht“, die lange von FAWOS angestrebt wurde, meint Kitzmann: Davor wurde die Stelle erst ab dem Exekutionstermin verständigt. „Seitdem werden wir schon bei Vorliegen eines Verfahrens benachrichtigt, was natürlich auch heißt, dass es doppelt so viele Informationen und potentielle Klient_innen gibt“, sagt Kitzmann.

Das Geld für das Personal wurde allerdings nicht erhöht, was die adäquate Betreuung deutlich erschwert. Hausbesuche seien kaum mehr machbar, genauso wenig wie ein zweiter Brief an gefährdete Wohnungsbesitzer_innen. Von den 8800 bedrohten Klient_innen war die FAWOS 2012 mit etwa 2900 in näherem Kontakt, in 1002 Fällen fiel dieser auch intensiver aus. In fast 40 Prozent aller Fälle handelt es sich um Alleinerziehende; in etwa gleich vielen Haushalten sind minderjährige Kinder von der Delogierung bedroht. Bei den intensiver beratenen Klient_innen dominierten Haushalte ohne Kinder und dort die Ein-Personen-Haushalte. Die Geschlechter- und auch Altersverteilung waren relativ ausgeglichen, rund 51 Prozent der Klient_innen waren im Jahr 2011 männlich und 49 Prozent weiblich. Damit setzt sich die Tendenz des Jahres 2010 fort, als sich erstmals mehr Männer als Frauen bei FAWOS beraten ließen. Die Mehrzahl der betreuten Personen hatte außerdem die österreichische Staatsbürger_innenschaft. Im Jahr 2011 bezogen auffallend
viele der betroffenen Mieter_innen – mit knapp 47Prozent – eine Leistung des AMS als Haupteinkommen, weitere 31 Prozent ein Erwerbseinkommen, die durchschnittliche Höhe des zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens bewegte sich zwischen 500 und 1499 Euro.

Mietrückstand als Hauptgrund. Wieso es für Zettel unmöglich war, seine rückständigen Mieten zu zahlen, war lange unklar. Dringende Anschaffungen waren dem Pensionisten mit gepfändetem Pensionsbezug wichtiger als seine Mietzahlungen. Anscheinend war er ein Käufer, der den Überblick über sein eigenes Konto verloren hatte.

Der häufigste Grund für eine Räumungsklage ist mit rund 90 Prozent wie in Zettels Fall jener des Mietrückstandes. Wie es zu diesem kommt, ist vielschichtig: Arbeitslosigkeit, Schulden, zu hohe Miete oder das lange Warten auf Transferleistungen macht die Volkshilfe als Ursachen aus.

In Erstgesprächen versucht FAWOS die genauen Ursachen und Gründe für den Mietrückstand herauszufinden, Perspektiven zu ermitteln und Lösungsstrategien zu finden. Die Arbeit beläuft sich aber auch auf Information und Beratung, diese reicht von Rechts- und Sozialberatung bis hin zu Finanzcoaching und auch der gemeinsamen Erstellung eines Haushaltsplans. In etwa 70 Prozent der betreuten Fälle können bereits alleine dadurch weitere rechtliche Schritte gegen die Gefährdeten verhindert werden.

FAWOS brachte 2007 gemeinsam mit verschiedenen anderen Sozialeinrichtungen ein Konzept zur umfassenderen und intensiveren Betreuung von gefährdeten Haushalten bei der Stadt Wien ein. Seitdem wartet man auf Auswertung. Zwar sei die Politik angetan gewesen, „aber dann kam die Wirtschaftskrise“, erzählt Renate Kitzmann.

Selbstmordhäufung in Spanien. Spanien ist im europäischen Raum vergleichsweise stark von Delogierungen betroffen: Während der Wirtschaftskrise wurden über 46.000 Haushalte geräumt, seit Beginn der Krise über 350.000. Die Situation, in die Betroffene dadurch kommen, ist verheerend. Oft so verheerend, dass die Häufung von Selbstmorden in Verbindung mit Delogierungen die konservative Regierung letzten November dazu brachte, diese in Fällen „äußerster Not“ auszusetzen.

Das Problem ist damit aber keineswegs gelöst. Alleine in diesem Frühjahr gingen an einzelnen Tagen über 500 Anträge auf Delogierungen bei den spanischen Gerichten ein. Dadurch wuchs auch der Widerstand. In Pamplona weigerte sich zu Beginn des Jahres eine Gewerkschaft von Schlosser_innen den Behörden bei Delogierungen zur Hand zu gehen. Die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH: Plattform der Hypotheken-Betroffenen) gewinnt im öffentlichen Diskurs immer weiter an Stärke. Die Organisation mobilisiert gegen Delogierungen und gewann landesweite Aufmerksamkeit, als sie gemeinsam mit tausend Menschen in Madrid erstmals eine Zwangsräumung verhinderte.

Sichtbarkeit. Eine Praxis, die mittlerweile auch in Berlin angekommen ist. Seit im Oktober 2012 im Stadtteil Kreuzberg eine Zwangsräumung durch eine Sitzblockade verhindert wurde, wird das Bündnis Zwangsräumung verhindern zunehmend zur Anlaufstelle für bedrohte Personen. Wöchentlich melden sich seitdem bedrohte Familien bei dem Bündnis, fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland überproportional von Zwangsräumungen betroffen sind. Regelmäßig mobilisiert die Organisation nun zu Räumungsterminen, die per SMS-Ketten bekannt gemacht werden. Aber nicht immer geht es um die Blockade von Zwangsräumungen. Es gehe auch darum, eine Öffentlichkeit für das Problem zu schaffen und sichtbar zu machen, wozu die massive Privatisierung von öffentlichem und sozialem Wohnbau führt, sagt Sara Walther von Zwangsräumungen verhindern. Dass sich mittlerweile bis zu 500 Menschen zu Protesten bei gefährdeten Wohnungen versammeln, zeigt, dass dies tatsächlich gelingt.

Aus der Welt ist das Problem damit allerdings nicht, erzählt Walther. Nach einer Delogierung, bei der rund 150 Demonstrant_innen vor Ort waren, starb diesen April eine Frau in einer Notunterkunft. Auch die FAWOS sieht einen politischen Anspruch in ihrer Tätigkeit: Neben dem Ziel der Vermeidung ansteigender Wohnungslosigkeit und der Erhaltung von preiswertem Wohnraum setzen sie auf Prävention statt der im Ernstfall anstehenden „Reintegration“. Die Stelle untermauert ihr Anliegen mit einer einfachen Kostenrechnung: So würde eine Reintegration mit einer Aufenthaltsdauer von einem Jahr 600 Euro pro Monat ausmachen. Die Präventionsarbeit würde das selbe für einen Haushalt kosten, jedoch einmalig.

Dass es überhaupt soweit kommt, dass Menschen um ihren Wohnraum fürchten müssen, ist allerdings nicht selbstverständlich. In Artikel 25 der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet.“ Auch in der Europäischen Sozialcharta ist ein „Recht auf Wohnung“ festgeschrieben, ratifiziert hat Österreich diesen Artikel allerdings nicht. Generell scheint fraglich, wie sehr das erwähnte Menschenrecht mit der Realität zu vereinen ist.

Egal ob in Berlin, Madrid oder Wien: Zwangsräumungen sind ein gesellschaftliches Problem. Leistbarer oder geförderter Wohnraum wird seit Jahren weniger. Wie eklatant die Zustände tatsächlich sind, zeigt sich in der Krise immer offensichtlicher. Dazu kommt, dass sich Hilfseinrichtungen in ihrer Arbeit immer mehr auf das Wesentliche beschränken müssen. Betroffen sind Menschen, aber auch Einrichtungen, die es im Normalfall kaum über die gesellschaftliche Wahrnehmungsgrenze schaffen. Dass sich in Spanien die Wohnungslosigkeit mittlerweile in die Mitte der Gesellschaft gedrängt hat, verändert dort den Blickwinkel auf Delogierungen. Sie sind beinahe Thema in der Politik. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht überall so lange dauert.

Die Autor_innen Oona Kroisleitner und Moritz Ablinger studieren Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften an der Uni Wien.

*Name wurde von der Redaktion geändert.