Mirijam Müller

Schlagabtausch: Vollbeschäftigung

  • 01.10.2012, 12:18

Vollbeschäftigung: Pro und Contra

PRO Vollbeschäftigung

VOLLBESCHÄFTIGUNG: EIN WEG UND ZIEL

Vollbeschäftigung wurde in den letzten Jahren als Begriff ausgedehnt. In Österreich wird die Vollbeschäftigung ausgerufen, wenn die Arbeitslosenquote unter die 3,5-Prozent-Marke sinkt. Es stellt sich aber die Frage, was sich hinter diesen Prozentzahlen verbirgt, und warum die Linke von der Forderung nach Vollbeschäftigung nicht Abstand nehmen darf.
Klar ist, dass es im derzeitigen kapitalistischen System die 100-prozentige Beschäftigung nicht geben kann, weil es immer Menschen geben wird, die gerade Job wechseln oder ein paar Monate auf der Suche nach ihrem ersten Arbeitsplatz sind. Die derzeitige staatliche Definition vom Zustand der Vollbeschäftigung ist aber sicherlich weit entfernt von dem Ziel, das eine systemkritische Position verfolgt. Vollbeschäftigung darf nicht bedeuten, dass eine Zahlenbeschönigung durch AMS-Programme stattfindet, dass Frauen nach wie vor in prekären Arbeitsverhältnissen leben müssen oder in Teilzeit gedrängt werden. Diese Entscheidung muss eine individuell zu treffende sein, was sie momentan nicht ist. Dennoch ist eine echte Vollbeschäftigung, bei der der Arbeitsmarkt Platz für alle bietet, ein gesamtgesellschaftliches Ziel, das es zu verfolgen gilt.

Wer sich eine Gesellschaft nach Solidaritätsprinzip wünscht, wird schnell erkennen, dass das am besten funktioniert, wenn alle arbeitsfähigen Menschen auch tatsächlich Arbeit finden. Arbeit, die sie fördert und fordert und nicht krank macht, oder sie in die Klasse der sogenannten Working Poor drängt. Allein eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sprich die Abkehr von der regulären 40-Stunden-Woche, würde die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze bedeuten und Menschen auch wieder mehr Zeit geben, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Der Weg von einer kapitalistischen Gesellschaft zu einer sozial-solidarischen mit neuem Arbeitsbegriff kann nur über Vollbeschäftigung passieren. Wir dürfen uns nur die Definition des Begriffes nicht entreißen lassen und müssen den Arbeitskampf endlich wieder mit vereinten Kräften aufnehmen.

Mirijam Müller studiert Medizin an der Meduni Wien.
 

CONTRA Vollbeschäftigung

VOLLBESCHÄFTIGUNG - GEHT'S NOCH?

Gemeinsam mit meiner AMS-Betreuerin arbeite ich daran, dem Zustand der Vollbeschäftigung in Österreich in Zeiten der Krise näherzukommen. Zur Schönung der diesbezüglichen Statistik trainiere ich fünf Wochen lang mit zwei Dutzend anderen „Überflüssigen“, mich am Arbeitsmarkt richtig zu positionieren und meine Nische am Markt zu lokalisieren. Der Geheimtipp der Trainer*innen bei völliger Missachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Du kannst alles erreichen, wenn du es nur wirklich willst. Und wenn es mit dem Traumjob doch nicht klappt, bist du jedenfalls selbst schuld. Diese „Maßnahme“ ist allerdings noch die harmlose Variante.

Abgesehen davon: Vollbeschäftigung im Kapitalismus langfristig zu realisieren, ist rein ökonomisch unmöglich, denn die damit kurzfristig erreichbaren hohen Löhne führen schließlich zu sinkendem Mehrwert und damit über kurz oder lang zu einer notwendigen Steigerung der Produktivkräfte. Diese Erhöhung des Ertrages lässt sich beispielsweise durch neue Maschinen realisieren, wodurch Arbeitskräfte letztlich wieder freigesetzt werden.
Und außerdem: Was wäre mit einer Vollbeschäftigung überhaupt gewonnen? Die Ausbeutung (also: die Nicht-Bezahlung des durch die Arbeitskraft produzierten Mehrwerts) endlich auch der „Langzeitarbeitslosen“ und „nicht vermittelbaren“ Klient*innen des AMS, sofern das in den aus- und vorgelagerten „sozialökonomischen“ Betrieben nicht ohnehin schon und in noch viel krasserem Ausmaß geschieht?

Wäre es nicht vielmehr an der Zeit, den Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft bei ansonsten drohendem persönlichem Untergang auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen? Das hieße wiederum, an die Stelle der Verwertung des Kapitals endlich die menschlichen Bedürfnisse zu setzen – damit man und frau sich schließlich geruhsam auf ihr Recht auf Faulheit zurückziehen, oder, jenseits jeglichen Arbeitszwangs in jener Art und Weise betätigen kann, die die Bezeichnung „Arbeit“ nicht mehr verdient. Um mit Marx zu sprechen: Jede nach ihren Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!

Die Autorin möchte anonym bleiben.