Folklore als Weg zu sich selbst
progress: Könnt ihr euch an eure erste Begegnung
mit Volksmusik bzw. Volkstanz erinnern?
Hanna Góral:
Alicja Zell: Ich kann mich an solch eine Begegnung nicht erinnern, bestimmt nicht bewusst. Ich glaube, dass alles in der Musikschule begonnen hat. Ich habe den Klavierunterricht in unserer städtischen Musikschule besucht, wo ich in Kontakt mit Volksmelodien gekommen sein muss. Wir hatten auch Tanzunterricht in der Schule, bei dem wir Volkstänze gelernt haben.
progress: Kann es sein, dass ihr noch früher in
den Kontakt mit der Folklore treten konntet? Hat
ein Familienmitglied etwa Volkslieder gesungen
oder wurden Volkstänze während eines Anlasses
getanzt?
H.G.:
A.Z.: Das Zuhause war bestimmt der Ort, wo ich das erste Mal in Kontakt mit Musik getreten bin. Ich weiß, dass meine Mutter Cello gespielt hat, obwohl ich mich daran nicht erinnern kann. Sie hat mir auch viel vorgesungen. Ich glaube, dass das einfache Volksmelodien waren. Meine Großeltern waren auch musikalisch. Mein Großvater hat Akkordeon gespielt, meine Großmutter hat viel gesungen. Ich denke mir gerade, was sonst hätten sie singen können, wenn nicht gerade Volkslieder?
progress: Wie sieht die Arbeit in einem institutionalisierten Ensemble für Volksmusik und Volkstanz
aus?
H.G.:
A.Z.: Die Arbeit in solch einer Tanzgruppe hat in der Gesangs- und Bewegungsbildung bestanden, d. h. wir haben uns zwei Mal wöchentlich getroffen, wobei eine Hälfte des Unterrichts dem Gesangsunterricht am Klavier, die zweite Hälfte des Unterrichts dem Tanz gewidmet war. Ich kann mich an viel Musik und wirklich viel Bewegung erinnern. Die erste Begegnung eines Kindes mit einem Volkstanz geschieht während des Tanzspiels im Kreis. Das ist die wohl einfachste Figur, aber spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Kindererziehung, denn sie lehrt Integration, Zusammensein und Zusammenarbeit. Ich denke ebenfalls, dass ein sehr wichtiger Aspekt der Arbeit in solch einer Tanzgruppe das Miteinbeziehen der Kinder in regionale Traditionen ist. Es wurden mehrere Volksfeiern organisiert, die die Menschen in polnischen Großstädten heute kaum mehr veranstalten werden, wie beispielsweise Ostatki (poln. „die letzten Tage des Karnevals“) oder Andrzejki (poln. „Andreasnacht“). Die Kinder haben die Möglichkeit, während solcher Feiern eine lebendige Folklore zu erfahren, d. h. sie singen ein Volkslied nicht, um zu zeigen, welche Gesangstechniken sie gemeistert haben, sondern um eine Geschichte zu erzählen, die in dem Lied versteckt liegt, die vor Jahrhunderten entstanden ist und die diese Kinder schlussendlich verstanden haben. Sie werden also zum Teil einer gewissen Kultur.
progress: Was bedeutet für euch Folklore? Wo ist
ihr Platz heutzutage unter anderen Kunstarten?
H.G.:
A.Z.: Folklore ist für mich eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Ich habe in der Folklore, in diesen Melodien, Schritten, Trachten, Zöpfen, im Zusammensein mit Anderen mich selbst wiedergefunden. Ich habe den starken Eindruck, wenn ich einen Volkstanz aufführe oder die Tracht anziehe, dass ich mein wahres Gesicht zeige. Vielleicht begebe ich in eine Rolle hinein, aber ich bin mit ihr im Einklang. Deine Frage erinnert mich daran, als ich einmal beim Casting zu „America‘s Got Talent“ in New York war und mir vorgenommen habe, etwas aus der polnischen Folklore darzustellen. Tanzen konnte ich allein nicht. Deswegen habe ich ein Volkslied ausgewählt, das mich ausdrückt. Das Lied handelt von einem jungen Mädchen, das heiraten musste und ihre Freiheit verloren hat. Ich kenne diese Situation zwar nicht, weil ich so was niemals erlebt habe, aber ich spüre, dass mein Alter Ego sie doch kennt. Ich fühle den Schmerz dieser Frau, kann mich mit ihr identifizieren. Persönlich war ich immer von jeglichen Freiheitsbewegungen berührt. Ich habe das starke Gefühl, dass Frauen immer viel zu sagen gehabt haben, aber aus politisch-soziologischen Gründen keine Möglichkeit dazu hatten. Durch die Folklore fühle ich mich, als ob ich diesen Frauen ihre Stimme zurückgeben würde. Dort in Amerika auf dieser Bühne habe ich genau das gesungen, was ich dem Publikum erzählen wollte, über dieses Mädchen, das einmal etwas erlebt hat. Ich habe die Anwesenheit ganzer Generationen, die diese Geschichte weitergegeben haben, gespürt. Die Folklore ist für mich eine Chance, sich anderen Kulturen zu öffnen. Wenn ich keine Ahnung über meine eigene Kultur hätte, was könnte ich in andere Kulturen einbringen bzw. was könnte ich von anderen Kulturen lernen? Wenn ich mich nicht mit Folklore beschäftigen würde, würde ich heute auch nicht so viel reisen, hätte ich nicht die gleiche Wissbegierde. Ich würde nicht wissen, was ich suche. Dank der Folklore weiß ich, wonach ich suche, und das ist jedes Mal eine Kultur.
progress: Nach der Absolvierung des Trainer_innenlehrganges für Volkstänze in Krakau habt ihr
euch entschieden, die Volkstanzgruppe „Mazurki“
für kleine Kinder in Wien zu begründen. Was wollt
ihr euren kleinen Schützlingen von Folklore vermitteln, denn ich verstehe, dass es nicht um Hebefiguren und ballettartige Zehentechnik geht?
H.G.:
A.Z.: Das Wertvollste, was die Folklore zu vermitteln hat, sind meiner Meinung nach Werte. Werte, die sehr unterschiedliche Lebensaspekte strukturieren, von der Familie über die Kultivierung der Tradition bis zur Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen. Kinder können sich natürlich einer anderen Freizeitgestaltung widmen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass man innerhalb einer Volkstanzgruppe intuitiv einen gemeinsamen Nenner finden kann, sprich eine gemeinsame Kultur, die auf Herkunft zurückgeht. Unsere Volkstanzgruppe hat in meiner Vorstellung auch eine starke Erziehungsfunktion abseits der Folklore: wir treffen uns regelmäßig, pünktlich um eine bestimmte Uhrzeit. Wir üben in einer Gemeinschaft, jede_r hat eine Rolle in der Gruppe. Wenn diese Rolle fehlt, kann die Choreographie nicht ganz klappen. Was interessant ist, ist die Tatsache, dass keiner von unseren Schützlingen in Polen geboren ist. Alle Kinder sind in Österreich geboren und sie sehnen sich nicht nach Polen, weil sie dieses Land als Heimat gar nicht kennen. Wir möchten ihnen die polnische Kultur ein bisschen näherbringen, aber sie auf keinen Fall damit bombardieren. Wir bemühen uns, ihnen zu zeigen, dass die polnische Kultur attraktiv und wertvoll ist, da sie Freude und Vergnügen bereiten kann. Sie kann auch eine gemeinsame Sprache für diese Kinder sein. Es zeigt sich, dass polnische Volkstanzspiele, polnische Sprache und Kultur eine gemeinsame Bezugsebene haben können.
progress: Wo seht ihr Folklore in Zukunft?
H.G.:
A.Z.: Ich erfahre persönlich ein großes Interesse an der Folklore, nicht nur in Polen oder in Österreich, sondern allgemein auf der ganzen Welt. Es werden zahlreiche Volksfestivals organisiert, wo sich verschiedene Volkstanz- oder Gesangsgruppen aus der ganzen Welt treffen. Man bemerkt auch ein gesteigertes Interesse an der Volkskultur im Kino. Ich meine hier z.B. den oscarnominierten Film „Cold War“ von Paweł Pawlikowski, in dem die polnische Volksmusik den Hintergrund für eine Liebesgeschichte bildet. Wir sehen Volksmotive in der Mode, wenn bunte Blumenmuster aus traditionellen Trachten auf tagtägliche Kleidungsstücke überspringen. Wenn es um die Aufführung der Folklore selbst geht, gibt es heute leider einen starken Trend zur Stilisierung und ich befürchte, dass dieser Trend in Zukunft weiter zunehmen wird.