Unter Neonazis: Eine Stadt im Ausnahmezustand
Seit 1997 findet in der Hauptstadt Ungarns jeden 8. Februar eines der größten Vernetzungstreffen der mittelund osteuropäischen Neonazi-Szene statt. Unter dem Deckmantel einer geschichtsrevisionistischen „Gedenkveranstaltung“ wird der sogenannte „Tag der Ehre“ von ungarischen Neonazis organisiert. Daran anschließend findet ein 60 km langer Marsch statt, dessen Organisation vom Bürgermeisteramt, der Fidesz-Partei und dem Militärhistorischen Museum gestützt wird. Diesjährige Organisatorin der „Gedenkveranstaltung“ ist „Legio Hungaria“, eine 2018 gegründete rechtsextreme Vereinigung, die bereits internationale Schlagzeilen gemacht hat: Im Oktober 2018 beschmierten Mitglieder nach einer Gedenkveranstaltung zur Revolution von 1956 ein jüdisches Gemeindezentrum in Budapest. Es gab immer wieder Probleme mit der Organisation der Veranstaltung, trotzdem wurde sie Jahr um Jahr wieder zugelassen. Kreative Lösungen gab es zur Genüge: Einmal hat man die Kundgebung unter dem Deckmantel einer gemeinnützigen Organisation abgehalten, ein anderes unter verfassungsrechtlichem Schutz als Wahlveranstaltung angemeldet. Dieses Jahr hatte die ungarische Polizei auf Grund von absehbaren Ausschreitungen den Organisator_ innen ein Veranstaltungsverbot ausgesprochen, welches jedoch kurz darauf von einem Budapester Gericht unter Berufung auf das Versammlungsrecht kassiert wurde. Zurückblickend eine sehr zynische Erkenntnis der Justiz, die längst nicht mehr die saubere Luft der Unabhängigkeit atmet.
Erst Anfang März wurde die Pressefreiheit der Medien massiv eingeschränkt. Diese dürfen nun zu unliebsamen Themen nur mehr mit vorheriger Genehmigung „von oben“ berichten. Solch ein unliebsames Thema ist beispielsweise die Klimaprotestbewegung Fridays for Future und deren Symbolfigur Greta Thunberg. Wie die jüngsten politischen Entwicklungen zeigen, scheinen diese Einschränkungen der Pressefreiheit nicht die letzten Verletzungen verfassungsrechtlich geschützter Grundrechte zu sein. Nichtsdestotrotz wird die Gedenkveranstaltung dieses Jahr erstmals von breitem antifaschistischem Protest begleitet. Mehrere hundert Menschen haben sich eingefunden, um gegen den Aufmarsch lautstark zu demonstrieren. In der Vergangenheit waren nur kleine Gruppen von Gegendemonstrant_innen zugegen. Unter den Antifaschist_innen ist die bürgerliche Mitte stark vertreten; mit wehenden EU-Fahnen und Schildern treten sie den Nazis entgegen. Anwesend sind der KZ-Verband und mehrere Roma und Sinti Verbände, die in Reden an die systematische Verfolgung im Zweiten Weltkrieg erinnern. Die Redner_innen verlassen den Protestzug jedoch bald, aus Angst vor polizeilicher Repression und Zusammenstößen mit den Nazis.
Zusammenstöße bleiben 2020 jedoch erfreulicherweise aus. Diesen fast surreal ruhigen Verlauf hat man den Polizist_innen vor Ort zu verdanken. Diese hatten nämlich das Gelände zum Schutz der Nazis vor Gegendemonstrant_ innen weiträumig abgeriegelt. Es sind neben Hundestaffeln auch mehrere Hundertschaften Polizei mit Pfefferspray, Schlagstöcken und Gasmasken gewappnet im Einsatz. Dieses Jahr fällt der 8. Februar auf einen Samstag. Die Veranstaltung findet im Városmajor-Park im Zentrum von Budapest statt. Es ist ein kalter aber sonniger Tag. Mathias Deyda, Sprecher von „Die Rechte“, hält die erste deutschsprachige Rede. Er steht auf einer kleinen Bühne vor einem Denkmal, neben ihm wehen Fahnen der rechtsextremen „Legio Hungaria“ und der „Hammerskins“: „Nachdem ich im letzten Jahr bereits hier einige Worte verlesen hatte, gab es großen Druck durch die etablierten Parteien und die Lügenpresse in Deutschland. Ich soll es gewagt haben, den größten deutschen Staatsmann der Geschichte zitiert zu haben“.
Er bezieht sich auf Kritik im Zusammenhang mit seiner Ansprache aus dem vorangegangenen Jahr, in der er ein Zitat von Adolf Hitler verwendet hatte: „Wenn unser alter Feind und Widersacher noch einmal versuchen sollte, uns anzugreifen, dann werden die Sturmfahnen hochfliegen, und dann werden sie uns kennenlernen.“ Deydas Stimme dröhnt laut aus den übersteuerten Verstärkern über den sonnendurchfluteten Park. Er versucht vergeblich, den Trommelwirbel des antifaschistischen Gegenprotests zu übertönen: „Wir haben dieselben Feinde wie vor 75 Jahren. Der Feind heißt nicht Meier oder Müller. Unser Feind heißt Rothschild oder Goldman und Sachs“. Und wieder beendet er seine Rede provokant mit einem Hitler-Zitat. Mathias Deyda, Ende zwanzig, ist aktives Mitglied von „Die Rechte“ in Deutschland und gehört zur Führungsriege der Dortmunder Neonazi-Szene. Er ist für seine Reden auf rechtsextremen Demonstrationen bekannt. 2014 sprach er am NS-verherrlichenden Lukow-Marsch in Sofia und beteiligte sich danach an Angriffen auf Sinti und Roma sowie auf eine Moschee in der zweitgrößten bulgarischen Stadt Plovdiv. Zwischen ihm und dem Publikum steht ein hüfthohes Holzkreuz mit einem Stahlhelm. Seine Zuhörer_innen sind etwa 600-700 schwarz gekleidete glatzköpfige Männer, militant in Reih und Glied aufgestellt.
Unschwer an den Bannern ist die Zugehörigkeit der einzelnen Teilnehmer zu erkennen. Gekommen sind rechtsextreme Gruppierungen, die längst als Kleinstparteien in der deutschen Gemeinde- und Lokalpolitik institutionalisiert sind. Auch militante Gruppen wie die „Hammerskins“ oder „Sons of Asgard“ sind anwesend. Still stehen sie da, hören den Reden zu und nicken zustimmend. Sie tragen Thor- Steinar-Kleidung, germanische Runen, SS-Insignien und Armbinden mit dem SS-Spruch „Meine Ehre heißt Treue“. Viele sind mit einschlägigen Symbolen tätowiert. Ein Teilnehmer hat ein „2YT4U“ (too white for you) Tattoo am Unterkiefer und ein faustgroßes Hakenkreuztattoo auf der Schläfe. Ohne Banner, etwas versteckt, aber ebenfalls an Tattoos und einschlägigen Symbolen zu erkennen, sind extrem rechte und gewaltbereite Vereinigungen wie „Combat 18“ und „Blood and Honour“. „Combat 18“ wurde in Deutschland nach dem tödlichen Attentat auf Walter Lübcke verboten und ist jetzt im Untergrund aktiv. Die achtzehn steht für den ersten und den achten Buchstaben im Alphabet. Also frei übersetzt: Kampftruppe Adolf Hitler. In diese groteske Kulisse mischt sich ein gutes Dutzend Fotograf_innen und Journalist_innen, die versuchen, das Geschehen zu dokumentieren. Die Polizei hat das Gelände auf Grund des Gegenprotests weiträumig abgesperrt. Ausweiskontrollen der Journalist_innen nehmen die Neonazis selber vor. Nur zum Verweis eines unliebsamen slowakischen Fotografen bedienen sie sich der Unterstützung der Staatsgewalt.
Unmittelbar nach den Reden marschieren als Soldaten der Waffen- SS verkleidete junge Männer am Denkmal vorbei und die Zeremonie der Kranzniederlegung beginnt. Im Hintergrund spielt Marschmusik aus dem 2. Weltkrieg. Nach und nach werden alle teilnehmenden Gruppen aufgerufen, darunter italienische, bulgarische, tschechische, französische und deutsche Gruppierungen. Ein Großteil der hier Anwesenden nimmt anschließend auch am Marsch teil. Sie alle gedenken der gefallenen „Helden“, die im Februar 1945 kurz vor der Kapitulation des mit Nazi-Deutschland verbündeten Ungarn ums Leben kamen. Die Rote Armee hatte weite Teile von Budapest bereits eingenommen und deutsch-ungarische Einheiten waren eingekesselt. Bei einem verzweifelten Versuch, die feindlichen Linien zu durchbrechen und zurück auf deutsches Territorium zu flüchten, versuchten ca. 30.000 Nazis den sogenannten „Ausbruch“. Ein Großteil der Soldaten kam ums Leben, nur ein Bruchteil ergab sich und wurde gefangen genommen. In der Szene wird dieses überlieferte Ereignis auch gerne „Ausbruch-60“ genannt, da Historiker davon ausgehen, dass die flüchtenden Soldaten in der Nacht vom 8. auf 9. Februar 60 km hinter sich gelegt hatten.
Der Marsch gleicht einer Wehrsportübung und beginnt in Budapest am Burgberg bei einer Gedenktafel des Magdalenenturmes am Kapisztrán Platz im ersten Stadtbezirk und findet sein Ziel in einem kleinen Örtchen Namens Szomor nordwestlich von Budapest. Diese Gedenktafel wurde am 12. Februar 2005 vom Bürgermeisteramt des ersten Bezirks von Budapest und vom Militärhistorischen Museum „zum sechzigjährigen Gedenken den ehrenhaften Soldaten gewidmet“. Entlang der gesamten Strecke des Marschweges sind aufwändig gestaltete „Checkpoints“ errichtet. Bei jeder dieser historisch detailgetreu errichteten Stationen können sich Teilnehmer_ innen auf einer Teilnahmekarte die jeweilige Station mit SS-Totenkopf- Emblem, Reichsadler und ähnlichen Insignien abstempeln lassen. Die Teilnehmer_ innen gehen bis zu 15 Stunden, bis sie das kleine Örtchen Szomor erreichen. Da bieten die Checkpoints Möglichkeit zum Rasten und gleichzeitig einen Ansporn weiterzugehen. Nationalsozialistische Symbolik und SS-Devotionalien sind dabei ein fixer Bestandteil der Inszenierung. Jede Station wird von als Wehrmachtssoldaten verkleideten Männern bewacht. Bei zwei Stationen hängen ein Hitlerbild und eine Hakenkreuzfahne im Hintergrund und bieten ein beliebtes Motiv für Erinnerungsfotos.
Die meisten dieser makabren Requisiten sind echt und vom Militärhistorischen Museum Budapest zur Verfügung gestellt. Früher hatte die Fidesz-Partei den „Gedenkmarsch“ mitveranstaltet; jene Partei, der der jetzige Ministerpräsident Victor Orbán vorsitzt. Orbán erreichte bei der letzten Wahl gemeinsam mit den Christdemokraten knapp eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament. Die Veranstaltung ist sogar in offiziellen touristischen Verzeichnissen aufgeführt und die Organisator_innen erhalten immer noch staatliche Subventionen. Neben dem „III. Weg“, einer rechtsextremistischen deutschen Kleinstpartei, beteiligen sich auch österreichische Neonazis. Sowohl Mitglieder der „Identitären Bewegung Österreich“ als auch Personen, die im Zusammenhang mit dem rechtskräftig verurteilten Neonazi Gottfried Küssel und dem „Alpen-Donau-Info“ Netzwerk stehen, sind in Bundesheer Uniformen zugegen. Einer macht lachend in Richtung Kamera das „White Power“ Zeichen, das auch der Terrorist von Christchurch verwendete. Diese Szenen, die sich im Herzen Europas und nur zwei Stunden Zugfahrt von Wien abspielen, fallen ganz klar in Österreich und auch in Deutschland unter das Verbots- bzw. Wiederbetätigungsgesetz. Das ist ein Grund dafür, dass das Treffen so viele Teilnehmer_ innen aus eben diesen Ländern anzieht.
Unter den Teilnehmer_innen der „Gedenkveranstaltung“ und dem anschließenden Marsch befinden sich aber keineswegs nur Neonazis. Es nehmen auch Wanderlustige mit ihren Kindern teil, so wirkt das Ganze wie ein harmloses Freizeit- und Sporterlebnis und hält sukzessiv Einzug in die Mitte der Gesellschaft. Wo dies hinführt ist uns bekannt, nämlich rechte Gewalt und Terror. Das Massaker in Hanau, der Anschlag auf eine Synagoge in Halle und das tödliche Attentat auf Walter Lübcke sind nur ein bitterer Vorgeschmack dessen, was sich hier seit mehr als 20 Jahren aufbraut. Der Ausblick auf das, was in den nächsten Jahren auf Europa zukommen wird lässt einen erschaudern. „Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“ (Erich Kästner)