Martina Madner

Kritisch sozial arbeiten

  • 25.02.2013, 17:12

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der Zahnarztpraxis im neunerhaus im fünften Wiener Gemeindebezirk sitzen heute drei Personen im Wartezimmer. Aus dem Raum nebenan hört man das leise Rascheln eines Saugers, der wohl einem der beiden die Zahnbehandlung ausharrenden Patienten aus dem Mundwinkel hängt. Auch als die Tür aufgeht und sich eine grüngewandete Assistentin Unterlagen vom Empfang holt, unterscheidet sich weder der etwas angespannte Gesichtsausdruck des Patienten, an dem auf dem Stuhl gerade gewerkt wird, noch der leichte und doch eindringliche Geruch nach Desinfektionsmittel, der aus dem Behandlungsraum strömt, vom typischen, erwartbaren Szenario. Und doch ist es hier anders. Heute im Speziellen: „Es ist ein ganz ruhiger Tag“, sagt die Frau am Empfang, Susanne Schremser. Meistens sei das Wartezimmer voll, manchmal sogar überfüllt.

Aber auch generell: In der Praxis werden obdachund wohnungslose Menschen kostenlos versorgt – und zwar von ehrenamtlich tätigen ZahnärztInnen. Auch Schremsers Arbeit unterscheidet sich von jener am Empfangstresen in anderen Praxen. Hier geht es nicht nur um Terminvereinbarungen, e-Card oder Sozialversicherungsdaten. Letztere spielen überhaupt keine so große Rolle, weil hier Menschen mit, aber auch Menschen ohne Versicherung behandelt werden. Die 43jährige Susanne Schremser ist hier als Sozialarbeiterin tätig, bis zum kommenden Juni noch in berufsbegleitender Ausbildung – mit einem kritischen Ansatz. Das bedeutet hier in der Praxis: Sie ist nicht nur erste Ansprechpartnerin und versucht, den Leuten die Angst vor der Behandlung zu nehmen. Sie nimmt sich – falls gewünscht – Zeit für längere Gespräche: „Viele haben sehr schlechte Erfahrungen mit dem regulären Gesundheitswesen gemacht“, sagtSchremser. Oft geht es deshalb darum, dass KlientInnen überhaupt erst wieder Vertrauen zu ÄrztInnen und ins System gewinnen, um solche Leistungen wieder in Anspruch nehmen zu wollen. Bei der kritischen Sozialarbeit wird den KlientInnen nichts aufgedrängt. Man ist nicht verlängerter Arm des Staates. Die Entscheidung, wobei, inwieweit undwann Unterstützung benötigt wird, liegt bei den wohnungs- und obdachlosen Menschen selbst.

Niederschwellige Angebote. Schremser und ihre KollegInnen gehen während der Wartezeit direkt auf die PatientInnen zu. Sie klärt über rechtliche oder finanzielle Ansprüche auf, die jeder habe, aber von denen nicht jeder wisse – sofern das Gegenüber daran Interesse hat. Sie unterhält sich zum Beispiel mit Christian, der wegen eines ausgebrochenen Zahns in die Praxis gekommen ist. Angst hat er heute keine mehr, man hat ihm bereits angekündigt, dass bei der Behandlung an diesem Tag nichts Schmerzhaftes mehr ansteht. Bei Christian gehe es außerhalb der Zahnarztpraxis nun um die „aktive Jobsuche“, sagt er. Eine Gemeindewohnung hat er seit Kurzem. Die Zeit, als er im Männerwohnheim, später bei Freunden gewohnt hat, ist nun vorbei. Die PatientInnen können solche Gespräche aber auch ablehnen: „Ich sage eben, was ich kann, und wenn du willst, kann ich was für dich tun. Es geht auch ums Zuhören“, meint Schremser – wenn jemand aus der Vergangenheit erzählt, Ungewöhnliches, Normales, Lustiges oder auch von Depressionen. Wenn jemand will, vermittelt Schremser auch PsychologInnen. Das Du wird hier immer angeboten – und man kann auch das ablehnen. Es ist ein niederschwelliger Zugang: Kritische SozialarbeiterInnen bevormunden oder erziehen nicht. Im Gegenteil, sie versuchen Schwellen kleinzuhalten und Barrieren abzubauen – also den Zugang zu Leistungen zu erleichtern. Sie zeigen Möglichkeiten auf und unterstützen – falls notwendig.

Das sei bei allen Angeboten des neunerhauses so, erklärt Elisabeth Hammer, die fachliche Leiterin der sozialen Arbeit: in den drei Häusern mit Wohneinheiten für 250 Menschen, in den zehn betreuten Startwohnungen, bei der tiermedizinischen Versorgung genauso wie in der Zahnarzt- und der Arztpraxis. Insgesamt arbeiten rund 60 Personen im neunerhaus. Sie werden von etwa 70 Ehrenamtlichen und mehreren Zivildienern unterstützt. Die Grundsätze einer kritischen sozialen Arbeit fließen überall mit ein. „Es geht dabei um die Grundhaltung gegenüber den Klienten und Klientinnen“, erklärt Hammer, die sich neben ihrer Arbeit im neunerhaus auch beim Verein Kritische Soziale Arbeit, kurz kriSo, engagiert: „Wir sehen unsere Gegenüber nicht als EmpfängerInnen von mildtätigen Leistungen, sondern als Menschen, die über ihre Lebensgestaltung autonom entscheiden.“ Ein Ziel oder ein allgemeingültiger Weg wird von kritischen SozialarbeiterInnen dabei bewusst nicht vorgegeben.

Normen durchbrechen. Die Entscheidungen der Menschen müssen nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Solche Normen seien schließlich nicht naturwüchsig gegeben, sondern von Menschen gemacht. Die kritische Sozialarbeit und ihre KlientInnen dürfen, können und wollen sie verändern: „Wir erarbeiten mit den Wohnungslosen gemeinsam Perspektiven, damit sie ihre Kompetenzen dazu nutzen können, sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Darüber hinaus seien die MitarbeiterInnen auch anwaltschaftlich tätig, damit die KlientInnen zu ihren Rechten kommen.

In der praktischen Arbeit gibt es dabei aber Grenzen. Diese werden durch den rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Rahmen gesetzt. Beispielsweise erhalten nicht alle vom Staat die sozialen Leistungen, die sie brauchen würden. Neue EUBürgerInnen haben zum Beispiel keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Teil der Arbeit besteht deshalb auch darin, diesen Rahmen, wo es möglich ist, zu erweitern und auf politische wie gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Auch die zeitlich und finanziell beschränkten Ressourcen setzen der kritischen Sozialarbeit Grenzen. „Gerade dann ist es wichtig, darauf zu achten, dass man ein Creaming the poor vermeidet“, meint Hammer. In der kritischen Sozialarbeit geht es nicht darum, den „Rahm“ mit einfacher zu betreuenden KlientInnen abzuschöpfen, um so rasche Erfolge oder eine sogenannte Resozialisierung möglichst Vieler feiern zu können. Die Mittel und die Arbeit der SozialarbeiterInnen sollen allen, die sich an das neunerhaus wenden, zugutekommen, auch Personen, die mehr und länger Unterstützung brauchen als andere.

Kritik beim Studieren. Von solchen Grundsätzen, aber auch von begrenzten Möglichkeiten in der Praxis hört man auch in der Ausbildung an den Fachhochschulen. Rica Ehrhardt und Franz Widhalm studieren Soziale Arbeit am Fachhochschul-Campus Wien im zehnten Bezirk. Sie sind zwei von insgesamt 120 in Vollzeit und 40 berufsbegleitend Studierenden, die erst im letzten Herbst begonnen haben. Ihr erstes Semester geht nun bald zu Ende, die letzte Prüfung haben sie bereits absolviert. Im Wintersemester steht nur noch das erste zweiwöchige Praktikum an. Ein Modul, das sie noch im Zuge ihres Studiums absolvieren werden, setzt sich explizit mit der Sozialen Arbeit in Zwangs- und Normierungskontexten auseinander. Ein kritischer Zugang zur Sozialarbeit spielt aber auch in vielen anderen Lehrveranstaltungen eine Rolle. Bis zum Abschluss mit einem Bachelor sind jedenfalls sechs Semester Studium und 20 Wochen Lernen in der Praxis vorgesehen. Am Campus, auf dem es in der Mittagszeit von Studierenden, auch aus anderen Fachbereichen, nur so wuselt, erzählen Ehrhardt und Widhalm nun, wie der kritische Ansatz von Beginn an in die Ausbildung miteinfließt: „Die Vortragenden haben uns gleich in der Einführungswoche dazu aufgefordert, kritisch mit den Studieninhalten umzugehen und diese zu hinterfragen“, erklärt die 22jährige Ehrhardt.

Es ginge nicht nur um das Erlernen der Inhalte, unterstreicht auch Franz Widhalm und vergleicht das Studieren hier mit seiner Arbeit vor dem Studium, wo er die Produktion neuer Entwicklungen vorbereitet hat: „In der Industrie gibt es Hierarchien, die hin und wieder mit dem Gefälle zwischen Knecht und Herrscher vergleichbar sind.“ Er wurde wegrationalisiert, als ein Teil des Unternehmens in die Slowakei ausgelagert wurde. Er wollte beruflich aber ohnehin wechseln, „was Sinnvolleres machen“, sagt er. Beim Studium wird nun auf ein Miteinander-Arbeiten großen Wert gelegt. Die Vortragenden sind ein Teil des Teams, leiten an, erklären. Widhalm möchte das auch später in der Arbeit mit den KlientInnen ähnlich halten.

Selbstbestimmt statt kontrolliert. Bislang habe man sich vor allem mit den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt. Dabei sei zum Beispiel auch das doppelte Mandat Thema gewesen. In vielen Bereichen wird von SozialarbeiterInnen verlangt, zugleich im Sinne des Staates und der KlientInnen zu handeln. Die SozialarbeiterInnen unterstützen dabei zwar, können und sollen zugleich aber auch Sanktionen setzen, wenn die betreuten Personen  entweder gar nicht oder nicht in der Geschwindigkeit jenen Weg beschreiten, der ihnen vorgegeben wird. Auf die Arbeit mit Wohnungslosen umgemünzt könnte das zum Beispiel bedeuten, Druck auf die Menschen auszuüben, damit sie möglichst rasch wieder ohne Unterstützung auskommen und sich selbst eine Wohnung finanzieren. Ein doppeltes Mandat haben auch MitarbeiterInnen beim Jugendamt. Ähnlich wird oft mit Arbeitslosen in Beschäftigungsmaßnahmen verfahren. Unterstützung, Kontrolle und Sanktionen gehen dabei miteinander Hand in Hand.

Ehrhardt weiß bereits jetzt, dass sie nicht mit doppeltem Mandat arbeiten möchte: „Ich werde mir einen Bereich suchen, wo die Vorgaben nicht so strikt sind, oder wo man sie im Sinne der Klienten zumindest im eigenen Arbeitsfeld beeinflussen kann“, meint sie. Nach dem Wochenende geht es bei ihr zum Praktikum in ein Frauenhaus in Eisenstadt. Da heißt es bereits auf der Homepage: „Wir fördern die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit der Frauen in der inhaltlichen sowie alltäglichen Arbeit mit den Bewohnerinnen.“ Ein Ansatz, der den Grundsätzen der kritischen Sozialarbeit entspricht: Es wird mit und nicht über den Kopf der Klientinnen hinweg gearbeitet. Wohin der Weg geht, entscheiden diese selbst. Die Mitarbeiterinnen unterstützen sie beim Erlangen ihrer Rechte nur da, wo diese auch tatsächlich Hilfe wollen und benötigen. Ehrhardt hat nun zwei Wochen Zeit herauszufinden, ob dieses Umfeld für ihren  künftigen Berufsalltag möglicherweise das passende ist.

Sich selbst lieben lernen

  • 24.12.2012, 12:57

Die Energien fürs Schlankbleiben können Frauen für Sinnvolleres verwenden. Die ARGE Dicke Weiber erklärt im Interview, wie man als Dicke Diskriminierung begegnen kann.

Die Energien fürs Schlankbleiben können Frauen für Sinnvolleres verwenden. Die ARGE Dicke Weiber erklärt im Interview, wie man als Dicke Diskriminierung begegnen kann.

Dickendiskriminierung betrifft besonders Frauen. Einige dicke Frauen haben sich deshalb 2009 zur Arbeitsgemeinschaft Dicke Weiber zusammengeschlossen. Christine, Patricia, Bernadett und fünf weitere Frauen treffen sich seither jeden zweiten und vierten Freitag im Monat in der FZ-Bar (Frauenzentrum Wien), um Erfahrungen auszutauschen, sich selbst zu empowern und sich gesellschaftspolitisch zu positionieren. Sie sind links, feministisch, autonom. Sie setzen Aktionen wie ein Picknick am Antidiät-Tag, um zu zeigen, dass dicke Frauen sich nicht einschränken müssen, sondern alles dürfen, was sie machen wollen – auch in der Öffentlichkeit essen. Im Interview mit Martina Madner zeigen sie, wo man überall ansetzen muss, um das Bild von dicken Frauen zu verändern. Und dabei sind alle dicken Frauen herzlich willkommen.

progress: Es gibt Sängerinnen wie Beth Ditto von Gossip, Komikerinnen wie Hella von Sinnen oder Moderatorinnen wie Tine Wittler – sind dicke Frauen mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert?

Patricia: Nein, sie sind in erster Linie Showfiguren. Sie erfüllen einen Zweck: Hella von Sinnen ist zum Beispiel die komische Figur. Sie ist lustig, man darf über sie Witze machen. Humor ist schon okay, aber: Man sollte sich selbst ernst nehmen, Frauen werden ohnehin viel zu oft lächerlich gemacht. Und Beth Ditto ist ein Showgirl, das auf der Bühne steht. Da ist viel erlaubt, teilweise ist es
sogar notwendig, zu überzeichnen, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Bernadett: Beth Ditto ist sicher eine Ausnahmeerscheinung. Sie macht vieles, was dicke Frauen und Mädchen sonst nicht können oder dürfen. Insofern hat sie eine Vorbildfunktion. Das ist ganz wichtig. Wenn junge Menschen keine Vorbilder haben, sehen sie weniger, was möglich ist.
Patricia: Dicke Frauen haben eingeschränkte Lebensbedingungen. Es wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir manches nicht machen können: Querstreifen oder Miniröcke tragen, baden gehen oder Sport betreiben. Wir sollen nichts machen, wo das Körperfett sichtbar ist oder zu sehr wackelt. Für das Selbstvertrauen ist es deshalb wichtig, zu sehen, dass ich alles darf.

Wie würdet ihr das Lebensgefühl als Dicke beschreiben?

Christine: Ich habe mich lange Zeit überhaupt nicht gemocht und als hässlich und unförmig empfunden. Das ist eine Phase, die sehr viele dicke Frauen haben. Da erzeugt jede Werbung oder Zeitschrift, die zeigt, du kannst schlank und schön sein, bei dicken Frauen das Gefühl, versagt zu haben, und es entsteht ein sehr negatives Körpergefühl. Jetzt bin ich darüber hinweg, akzeptiere mich, so wie ich bin. Nicht jede Frau kann Kleidergröße 36 haben, weil wir einen unterschiedlichen Körperbau und Stoffwechsel haben.
Bernadett: Ich bin nicht nur dicke Frau, sondern auch noch ganz viel anderes, deshalb ist das Dicksein alleine gar nicht so ausschlaggebend für mein Lebensgefühl.
Patricia: Der Frauenkörper wird generell gerne als Problemfeld gesehen: Dabei geht es nicht nur um Körperfett, sondern auch um die Behaarung, das Alter, alles, was mit dem Menstruationszyklus zusammenhängt. Man gewinnt den Eindruck, der Frauenkörper an sich ist abnorm. Bei dicken Frauen ist es nochmals sichtbarer. Ich habe mich sehr lange geschämt. Man versucht, sich vielen  Situationen nicht auszusetzen. Mit der ARGE Dicke Weiber wollen wir das verändern und gehen deshalb gemeinsam essen, baden oder tanzen, was dicke Frauen sonst alleine nicht machen.

Ihr beschreibt dick als dick – auch in der ARGE Dicke Weiber, warum?

Christine: Wir wollen „dick“ nicht umschreiben, sondern dem Wort seine negative Bedeutung nehmen. Dick ist ein Eigenschaftswort wie groß oder klein und als solches wollen wir es wieder gesellschaftsfähig machen.

Hohes Gewicht wird oft als Übergewicht bezeichnet, was bringt das mit sich?

Bernadett: Wir wehren uns gegen den Begriff Übergewicht, weil wer bestimmt, über welchem Gewicht wir nicht drüber sein dürfen? Wir ziehen deshalb keine Gewichtsgrenzen.
Christine: ÄrztInnen behandeln dicke Frauen schon alleine wegen ihres Gewichts wie Kranke. Oft wird gar nicht der Ursache der Gelenksschmerzen oder der Grippe nachgegangen. Man hört erst mal nur: „Nehmen Sie ab.“ So kommt es, dass manche gar nicht mehr zu ÄrztInnen gehen und das ist dann wirklich gefährlich. Wir wollen deshalb eine Liste mit dickenfreundlichen ÄrztInnen erstellen und freuen uns über jedes Mail, das uns dabei weiterhilft.
Patricia: Es ist auch schlichtweg falsch, vorzugaukeln, dass es nur ein normiertes Gewicht gibt, mit dem man krank oder gesund ist.

Kann Dicksein keine Krankheiten mit sich bringen?

Patricia: Gesundheit hat mit dem Gewicht nichts zu tun. Gesundheit hängt von ganz vielen Faktoren ab, in hohem Maße von Stress, schlechten Lebensbedingungen oder einfach auch von der Genetik. Krankheit trifft dicke genauso wie dünne Menschen.
Bernadett: Es wird uns vorgelogen, dass eine gesunde Ernährung auch gleichzeitig schlank macht. Diese Zusammenhänge werden oft von jenen hergestellt, die ästhetische Probleme mit Dicken haben und sich von Vorurteilen leiten lassen. Das gibt es auch bei MedizinerInnen und ForscherInnen.
Patricia: Forschung ist nicht neutral, sondern oft bezahlt. Man muss deshalb sehr genau schauen, wer von den Ergebnissen profitiert und ob mit Pillen oder Diäten Geschäft gemacht werden soll. Dabei gibt es längst Forschung zu „Health at every size“. ÄrztInnen könnten sich also von der Meinung, dick bedeutet krank zu sein, befreien. Stattdessen wächst der Bereich in der Medizin, der sich  rein mit Ästhetik beschäftigt, wie Schönheitsoperationen. Und das hat überhaupt nichts mehr mit Gesundheit zu tun.
                                                                                                                                                                                                                                     
Manche  meinen, alle wollen schlank sein, Dicke würden sich nur selbst belügen.

Christine: Nein, es wird uns suggeriert, dass alle schlank sein wollen müssen. Dicke werden als dumm, faul, unbeherrscht, ...
Bernadett: … dreckig und krank bezeichnet.

Christine: Gerade junge Frauen können deshalb oft gar nicht sagen, dass sie nicht schlank sein wollen.
Patricia: Solange man Diäten macht, heißt es: „Du bemühst dich.“ Sobald man aber offen sagt, ich bleibe so wie ich bin, merkt man, wie stark der Druck ist. Dann heißt es: „Du hast dich abgeschrieben, du lässt dich gehen, du schadest dir.“ Deshalb haben viele eine Hemmschwelle, zu uns in die Gruppe zu kommen, weil sie von anderen hören, dass sie sich aufgeben, wenn sie sich als dick  akzeptieren.
                                                                                                                                                                                                          
Wo macht sich Dickenfeindlichkeit besonders negativ bemerkbar?

Christine: In der Arbeitswelt werden vor allem junge, schlanke, schöne Frauen eingestellt – insbesondere dort, wo Frauen gesehen werden. Dicke Frauen dürfen in den Augen vieler Unternehmen offenbar nicht Repräsentantinnen sein.
Patricia: Auch im pädagogischen Bereich heißt es, dass dicke Frauen zum Beispiel als Kindergärtnerinnen keine guten Vorbilder sind.
Bernadett: An Dicken fehlt es auch im Gesundheitsbereich, es gibt keine dicken Trainerinnen.
Patricia: Ich habe mich früher mal als Kosmetikerin in einem Fitnesscenter beworben. Der Leiter hat mir gesagt, dass ich kein gutes Vorbild sei, weil ich nicht gesund sei. Auf meinen Einwand, dass ich ihm gerne meinen Gesundheitsstatus nachweise, hat er dann doch offen gesagt, dass es rein ums Optische gehe,  Gesundheit also nur ein Vorwand gewesen sein.

Disqualifizieren sich jene mit solchen Vorurteilen nicht selbst?

Christine: Leider ist diese Art von Vorurteilen gesellschaftlich anerkannt.
Patricia: Wir alle wachsen mit dieser  Ästhetik auf, bekommen vorgesagt, was gut aussieht und was nicht. Gerade, wenn man noch nicht gefestigt ist, sollte man sich beispielsweise Austria’s Next Topmodel nicht anschauen, weil es Ästhetik formt. Ich habe bemerkt, dass sich, wenn ich mir Bilder von starken, schönen, dicken Frauen ansehe, das, was ich schön finde, verändert. Vielfalt wird normal.
Bernadett: Es geht dabei auch um die Eigen- und Fremdsicht, die oft miteinander einhergehen. Deshalb versuchen wir das wieder voneinander zu trennen. Es ist wichtig, dass man sich selbst, wenn man in den Spiegel schaut, schön findet. Es geht nicht darum, sich von außen sagen zu lassen, dass man schön sei. Diese Bewertung „Du bist attraktiv oder nicht attraktiv“ steht anderen gar nicht zu.

Welchen Unterschied macht es, ob man dicke Frau oder dicker Mann ist?

Christine: Dicke Männer werden noch eher akzeptiert. Sie kommen zum Beispiel in Filmen öfter und auch mit attraktiven  Partnerinnen vor. Dicke Frauen dagegen sind oft dünne mit Fettanzug, sie sind eher Witzfiguren oder sie leiden unglaublich unter ihrem Gewicht.
Patricia: Im Bullen von Tölz sollte zum Beispiel die Kommissarin ausgetauscht werden, weil sie zugenommen hatte. Jung, erfolgreich, attraktiv und dick geht nicht zusammen. Auch in der Politik gibt es dicke Männer, aber kaum dicke Frauen.

Ändert sich das Schönheitsideal nicht laufend?

Patricia: Ja, aber es geht in Richtung Unisex und Einheitsmensch. Ich habe nicht den Eindruck, dass Vielfalt mehr Platz bekommt. PolitikerInnen sprechen immer öfter von Vielfalt, es gibt Gesetze gegen Diskriminierung.

Sorgt das für mehr Akzeptanz?

Christine: Ob sich PolitikerInnen gegen eine Art der Diskriminierung engagieren, hängt davon ab, wie modern oder schick die sogenannte Andersartigkeit ist.

Ist MigrantIn- oder Lesbischsein also cooler als Dicksein?

Patricia: Nicht für alle und es kommt darauf an, um wie viele MigrantInnen oder Lesben es sich handelt. (Lacht) Für eine einzelne  oder wenige setzt man sich ein. Aber Dicksein ist sicher nicht schick.
Christine: Witze bilden Gesellschaft sehr gut ab und zeigen den Unterschied: Witze über MigrantInnen oder Homosexualität sind in politisch reflektierten Kreisen verpönt, Witze über Dicke gelten aber durchaus als salonfähig.

Wo überschneiden sich Frauen- und Dickendiskriminierung?

Christine: Schlanke und dicke Frauen werden auf ihren Körper reduziert. Dickenfeindlichkeit wirkt sich also auch auf dünne aus,  weil diese oft in Panik leben, einmal dick zu werden. Und damit wird ein großer Teil der Energie ans Schlankbleiben gebunden, die Frauen für Sinnvolleres nutzen könnten.
Patricia: Dickendiskriminierung ist ein Teil des Schönheitsterrors, der betrifft alle, insofern ist es ein feministisches Thema. Bei der Diskriminierung durch Infrastruktur geht es auseinander: Wenn in U-Bahnstationen oder Cafés zu schmale Sessel ein normales Sitzen für Dicke verunmöglichen, schließt sie das speziell aus. Aber bei beidem gilt: Frau muss die Attraktivität und Lebenslust, die  in einer steckt, entdecken und sich lieben lernen. Ich bin das ja schon, ich muss es nur wissen.

Weitere Infos: argedickeweiber.wordpress.com

Martina Madner ist Journalistin und Moderatorin und hat Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien studiert.