Lukas Kaindlstorfer

Das Ende der EUphorie?

  • 24.05.2014, 16:58

Die Jugend fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven nehmen ihnen zusehends das Vertrauen in Europa. Immer mehr junge Menschen sehen sich nach politischen Alternativen um.

Wer als junger Mensch in der EU mitreden möchte, muss viel Zeit und Geduld investieren, weiß Emma Hovi aus eigener Erfahrung. Die 24-jährige Wahl-Berlinerin war nach ihrer Schulzeit ein Jahr im Vorstand der Europäischen SchülerInnenvertretung OBESSU aktiv. Freundschaften konnte Hovi während dieser Zeit viele knüpfen. Aber die Arbeit in der Interessenvertretung hat sie zynisch werden lassen. „Wie wichtig die Jugend sei, wird in den Institutionen der EU überall betont. Wenn junge Menschen aber tatsächlich mitreden möchten, stehen sie schnell vor verschlossenen Türen“, meint Hovi. Ein ranghoher Kommissionsbeamter als Gast bei einer der vielen Veranstaltungen der Jugendorganisation sei eine Ehre gewesen, aber keine Selbstverständlichkeit.

Seit Ausbruch der Finanzkrise sinkt der Zuspruch, den die Europäische Union bei ihren BürgerInnen findet, stetig, das zeigen viele Statistiken. Laut Eurobarometer gab im Herbst 2013 nur noch ein Drittel der EU-BürgerInnen an, Vertrauen in die Europäische Union und ihre Politik zu haben. Dass sie damit noch besser abschnitt als die nationalen Regierungen, ist ein schwacher Trost. Den höchsten Zuspruch bekam die EU von den unter 24-Jährigen. Befürchtet wird aber, dass selbst diese Zahlen kippen könnten. Die Sparpolitik in Griechenland hat nicht nur drastische Folgen für das Land, sie hat auch Ratlosigkeit bei der Bevölkerung der anderen EU-Länder hinterlassen. Die Bilder aus Griechenland liegen vielen jungen EuropäerInnen schwer im Magen. Viele suchen bei nationalistischen Parteien einfache politische Antworten auf die Krise. Das sinkende Interesse der Jugend für die EU zeigte sich aber schon an der niedrigen Beteiligung bei der letzten EU-Wahl: 2009 nahmen weniger als ein Drittel der Jugendlichen ihr Wahlrecht in Anspruch, so eine Studie des Europäischen Jugendforums. Ein Ergebnis, dem die EU mit mehr jugendpolitischen Maßnahmen entgegenwirken möchte. Mit dem sogenannten „Strukturierten Dialog“ sollen Jugendorganisationen bei der Ausarbeitung politischer Zielsetz­ungen schrittweise eingebunden werden. Auch im Entwicklungsplan „Europa 2020“, der den Rahmen für die Politik der nächsten Jahre vorgibt, hat die Jugend einen hohen Stellenwert und in der gegenwärtigen Krise entstanden gleich drei Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist die europäische Jugendpolitik mit dem Problem konfrontiert, dass die Kompetenzen in dieser Hinsicht meist auf nationaler Ebene liegen. Was auf europäischer Ebene diskutiert wird, findet daher oft keine direkte Umsetzung. Jugendorganisationen können sich auf europäischer Ebene noch so engagieren, Resultate ihrer Bemühungen sind in den meisten Fällen nicht mehr als Empfehlungen und vage Absichtserklärungen.

E wie EU-Wahl: am 25. Mai wird das EU-Parlament gewählt. Foto: Alexander Gotter U wie Union: 28 Mitgliedsstaaten zählt die EU. Foto: Alexander Gotter R wie Rechte: Viele befürchten einen Wahlsieg von rechten Parteien. Foto: Alexander Gotter

Krisenerscheinungen. So klein die politische Macht der EU in manchen Bereichen auch scheint, umso stärker spürbar sind die Auswirkungen ihrer Krisenpolitik. Unter dem Banner der Austeritätspolitik erklärte die EU die Konsolidierung desgriechischen Staatshaushaltes durch rigide Sparmaßnahmen zum primären Ziel und entschied damit, Kapitalinteressen absoluten Vorrang zu geben. Die Aufzählung der Einsparungen in Griechenland liest sich wie eine Checkliste zur Demontage des sozialen Wohlfahrtstaats: Kürzungen wurden vor allem im öffentlichen Dienst, bei Gehältern und Pensionen sowie bei sozialen Subventionen und im Gesundheitswesen vorgenommen, das Arbeitsrecht wurde flexibilisiert und Schutzbestimmungen abgebaut. Mit buchhalterischem Erfolg: 2013 bilanzierte Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte positiv. Der Preis dafür war jedoch immens hoch. So zeigten sich selbst der Internationale Währungsfond und die EU-Kommission im Vorjahr erstaunt angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Sparziele. Zu diesem Zeitpunkt lehnten in einer Gallup-Umfrage 94 Prozent der Menschen in Griechenland und 51 Prozent innerhalb der anderen EU-Länder die Maßnahmen ab und verlangten nach Alternativen. Eine Jugendarbeitslosenquote jenseits der 60 Prozent, prekäre Arbeitsbedingungen und unterfinanzierte Universitäten haben der jungen Generation die Zukunft verbaut. Selbst AbsolventInnen von etablierten Studienfächern wie Medizin, Architektur oder Rechtswissenschaften müssen heute um jedes unterbezahlte Praktikum kämpfen. Während sich die Miete für eine kleine Bleibe in Athen auf 300 Euro beläuft, liegt der Mindestlohn für junge ArbeitnehmerInnen knapp über 500 Euro. Viele junge Erwachsene mussten wieder zurück ins Elternhaus ziehen. Nicht wenige flüchten sich vor den deprimierenden Zukunftsaussichten in Rauschwelten oder Suizid. In Griechenland wurde in den letzten Jahren das Gegenteil der zuvor geplanten europäischen Jugendmaßnahmen umgesetzt, was für eine Hochkonjunktur der Kritik sorgte. 

Katerina Anastasiou will über die Zustände in Griechenland informieren. Die 30-jährige Griechin lebt seit zehn Jahren in Wien und engagiert sich bei der Organisation solidarity4all. Sie sei oft erschrocken, wie wenig und wie einseitig hierzulande die Medien von ihrer Heimat berichten, erzählt die junge Linke, die an der jetzigen EU nur wenig Gutes sieht. Die Krise habe die negative Seite vieler politischer Maßnahmen der letzten Zeit deutlicher in Erscheinung treten lassen. Mit Hilfe der Reise- und Niederlassungsfreiheit haben viele GriechInnen versucht der Misere zu entkommen, nur um andernorts feststellen zu müssen, dass aus ihrer Notlage erneut Profit geschlagen wird. Einiger ihrer Bekannten seien hochqualifiziert nach Wien gekommen und sahen sich hier damit konfrontiert, dass ihnen zwar adäquate Jobs angeboten wurden, aber mit einer unüblich niedrigen Bezahlung, schildert Anastasiou. Für sie fehlt es hier an einem solidarischen europäischen Bewusstsein: „Damit wird die Chance vergeben, gemeinsam gegen etwas aufzutreten!“

Mit vielen anderen ist Anastasiou auf der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen System. Vereinzelt und mancherorts seien solche durchaus greifbar: „Als 2011 die Proteste vom Syntagma-Platz in Athen verschwanden, lag das nicht nur an der repressiven Polizeigewalt“, erzählt Katerina Anastasiou, „nach dem ersten Schock begannen die Menschen ihr Schicksal schlichtweg selbst in die Hand zu nehmen.“ Mittlerweile finden sich vielerorts kommunale Strukturen, die medizinische Versorgung bieten, Lebensmittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellen und Bildungsangebote geschaffen haben, ohne viel Gegenleistung zu erwarten. Diese kommunalen Solidaritätsbewegungen setzen dort an, wo staatliche Strukturen fehlen. Deshalb beabsichtigt Anastasiou auch in naher Zukunft wieder zurück nach Griechenland zu gehen. Um „dabei sein zu können, wenn etwas Neues entsteht“. Das Vorgehen der EU im Fall Griechenland und der Vorrang von finanziellen vor sozialen Interessen bestätigt all jene, die die EU seit jeher als neoliberales Konstrukt sahen. In der Krise offenbart sie nun auch dem Rest von Europa ihre politischen Prioritäten. 

Davon profitieren aber auch rechte EU-KritikerInnen. Im April gründete die FPÖ-Jugend zusammen mit den Jugendorganisationen vom Front National, von Vlaams Belang und den Schwedendemokraten die Initiative Young Europeans Alliance for Hope (YEAH). In ihrem Manifest befürworten sie die Nation als „überlegene Form der Gemeinschaft“. Wenn es darum geht, die europäische Integration zu kritisieren, können selbst rechtspopulistische Parteien transnational kooperieren. Mit absehbarem Erfolg: In Österreich liegt die FPÖ bei den Jungen wie gewohnt auch in den Umfragen zur Europawahl weit vorne. Europaweit wird ein starker Zuwachs für jene Parteien, die regelmäßig gegen die EU wettern, erwartet.

Reine Rhetorik? Sind die Bemühungen der EU um verstärkte jugendpolitische Maßnahmen, BürgerInnenrechte, soziale Inklusion, europäische Integration und die Genese einer europäischen Identität nur Rhetorik? Will die EU weg vom neoliberalen Status Quo, muss sie diese Ziele ernsthaft verfolgen. Der Politikwissenschafter Stefan Seidendorf beschäftigt sich mit der Frage, was es braucht, damit die EU zu einer solidarischen Gemeinschaft wird. Er nennt drei wesentliche Faktoren: Erstens, die Ausformung europäischer Institutionen, durch die eine legitime rechtliche Grundlage für ihre Politik entsteht. Zweitens, ein klar abgegrenztes Gruppenbewusstsein, das zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheiden lässt. Und drittens, einen gemeinsamen Sinnhorizont, der sich aus einer geteilten Vergangenheit und Symboliken der Gemeinschaft eröffnet. Gibt es dieses Gruppenbewusstsein und diesen Sinnhorizont bei jungen EuropäerInnen bereits?

O wie Organisation: immer mehr junge Menschen organisieren sich selbst, um der Krise zu entkommen. Foto: Alexander Gotter P wie Parlament: 751 Abgeordnete werden gewählt. Foto: Alexander Gotter A wie Aufbruchsstimmung: Trotz der Krise sind viele junge Menschen hoffnungsvoll. Foto: Alexander Gotter

Die Studierenden von heute sind die erste Generation, die in die Europäische Union hineingeboren wurde. Der Vertrag von Maastricht wurde Ende 1993 ratifiziert. Jene, die damals gerade erst zur Welt gekommen sind, sind heute Anfang zwanzig. Sie sind mit der EU groß geworden und haben ihre Entwicklung miterlebt. Sie haben die Einführung des Euros miterlebt, Krieg und Gewalt kennen sie zum Großteil nur aus der Zeitung. Von der Reisefreiheit des Schengener Abkommens profitieren sie seit ihrem ersten Urlaub und seit 25 Jahren lernen sie über Programme wie Erasmus andere europäische Länder kennen. 250.000 Studierende nehmen mittlerweile jährlich am Austauschprogramm teil. Es zählt zu den erfolgreichsten Projekten der EU. Heuer wurde es erneuert: ERASMUS+ vereint nun weitere Austauschprogramme in den Bereichen Bildung, Jugend und Sport unter einen Namen. In den nächsten sieben Jahren stehen dafür knapp 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Vier Millionen Jugendliche sollen davon profitieren. Dieses Engagement seitens der EU hat seine Effekte: Der Eurobarometer vom Herbst 2013 wies SchülerInnen und Studierende als einzige demografische Gruppe aus, die der EU mehrheitlich vertraute. Das liegt vermutlich auch daran, dass Jugendliche im Bildungsbereich am Ehesten noch mit ihren Programmen in Kontakt kommen. Immerhin fünf Prozent der Jugendlichen nahmen laut der Youth on the Move-Studie von 2011 schon an einem Austauschprogramm teil. Die restlichen 95 Prozent kommen mit EU-Projekten, wenn überhaupt, nur selten in Kontakt.

Sie begeben sich entweder selbst auf Recherche, oder müssen sich mit den wenigen Medienberichten begnügen. Die geringe Rolle, die die EU zuweilen in den Nachrichten hat, haben die Medien der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verantworten, die der EU oft nur wenig Beachtung schenken: Dazu gesellt sich auch oft eine antieuropäische Rhetorik. Wenn Zeitungen über „PleitegriechInnen“ oder „RumänInnenbanden“ schreiben und PolitikerInnen Blame-Shifting in Richtung EU betreiben, hindern sie damit die EU daran, eine Gemeinschaft zu werden. Derzeit sieht sich eine knappe Mehrheit der EU-BürgerInnen noch als EuropäLeague of Young VoterserInnen, aber gleichzeitig zeigen Studien, dass die Heimatverbundenheit wieder am Steigen ist, zwei Drittel der EuropäerInnen glauben außerdem nicht mehr, dass ihre Stimme in Europa Einfluss hat.

Diese Einstellung versuchen viele Initiativen im Vorfeld der EU-Wahl zu ändern. Johanna Nyman betreut eine davon. Die Biologie-Studentin sitzt im Vorstand des Europäischen Jugendforums und koordiniert das Projekt League of Young Voters, das Jugendlichen und Jugendorganisationen als Austausch-Plattform dienen soll. Die Initiative sei eine Reaktion auf die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen bei der Europawahl 2009, so Nyman. Die Erfahrung, dass Anliegen vielerorts gleich sind und die JungwählerInnen in der EU eine größere Gruppe sind als erwartet, soll diese zurück an die Wahlurnen bringen. Die Plattform selbst findet noch geringen Anklang, aber aus der Idee entstanden weitere Projekte: Auf MyVote2014.eu können UserInnen mittels 15 Fragen herausfinden, welche Partei am besten zu ihren eigenen Vorstellungen passt.

Dazu bekommen sie Informationen über die Abgeordneten und ihre Parteien. Das Prinzip kommt dem Nutzungsverhalten von Jugendlichen in Bezug auf Online-Medien: Schnell, interaktiv und optisch ansprechend wird der Einstieg in die Meinungsbildung erleichtert.

Welche Krise? Ist es ein Irrglaube, wenn wir als Studierende in Zentraleuropa, die mitunter auch von der EU profitieren, annehmen, ohne EU ginge es nicht? Einige Sozialwissenschafter wie etwa Alex Demirović weisen immer wieder darauf hin, dass nicht die Demokratie selbst, sondern ihre alten Institutionen in der Krise stecken. Systeme wie Staaten oder die EU befinden sich in einer Situation, in der die Parlamente nur noch reine Mitbestimmungsgremien sind. Wichtige Entscheidungen werden intransparent anderswo getroffen. Solange der Staat aber seinen Aufgaben nachkommt, dominiert ein Verständnis von Demokratie, das ohne Staat nicht denkbar ist. Die Soziologin Donnatella della Porta vom European University Institute sieht in der Vertrauenskrise durchaus auch positive Seiten. Durch sie öffnen sich Räume für neue Formen des demokratischen Zusammenlebens. Selbst wenn kommunale Bewegungen wie in Griechenland noch keinen alternativen Modellcharakter für die EU haben, zeigen sie doch auf, was politische Partizipation jenseits des Wahlgangs heißen kann.

In welche Richtung sich Europa bewegen wird, werden die nächsten Jahre entscheiden. Das hängt nicht allein davon ab, ob die Europäische Union die Folgen ihrer Krisenpolitik eindämmen kann. Um aus der Identifikationskrise herauskommen, braucht es passende demokratische Rahmenbedingungen und eine gemeinsame Öffentlichkeit. Erste zaghafte Schritte wurden dahingehend schon unternommen. Beispielsweise wurde die österreichische „Ausbildungsgarantie“ für Jugendliche 2014 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten übernommen und in den nächsten beiden Jahren stehen sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung. Bei den Europawahlen im Mai besteht erstmals die Möglichkeit direkt mitzuentscheiden, wie die Kommission zukünftig aussehen soll. Die größte Parlamentsfraktion wird auch den/die KommissionspräsidentIn stellen, so die Abmachung unter den Mitgliedsstaaten. Unabhängig davon, wie stark die Wahlbeteiligung ausfallen und wie das EU-Parlament nach den Wahlen zusammengesetzt sein wird, die Union wird uns auf jeden Fall noch eine Weile erhalten bleiben, auch wenn neue Formen der politischen Organisation entstehen. „Solange das so ist, kann man auch gleich wählen gehen – Veränderung ist ja schließlich keine Entweder-Oder-Frage“, meint Johanna Nyman vom Europäischen Jugendforum. Oder man macht es wie Alina Böling: Da auch sie findet, dass die EU etwas stagniert, entschloss sich die 24-jährige Finnin kurzerhand selbst für das Europäische Parlament zu kandidieren, um so neuen Input geben zu können. Jeder wisse schließlich, so Böling, dass eine demokratische und funktionierende Union mehr als nur den Euro und Wirtschaftspolitik braucht.

 

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie in Wien.

Blinde Flecken

  • 12.03.2014, 12:54

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Als vor zwei Jahren die Campuserweiterung Science Park an der Johannes-Kepler-Universität Linz (JKU) eröffnete, fielen die ersten Hürden für Studierende mit Beeinträchtigung schnell auf. Nicht-genormte Stiegen und Glastüren ohne Kennzeichnung erschwerten sehbehinderten Menschen das Fortkommen. Der Haupteingang führte über Treppen und noch heute muss Silke Haider mit ihrem Rollstuhl den LieferantInneneingang benutzen, um ins Gebäude zu gelangen. Damals engagierte sie sich in der Österreichischen HochschülerInnenschaft auf der JKU für Barrierefreiheit. Sie erinnert sich gut: „Eine Vorab-Begehung wurde vom Institut Integriert Studieren eingefordert, aber immer wieder abgelehnt. Erst als auch die ÖH nicht locker ließ, kam es zu einer Besichtigung.“ Der Bau war jedoch bereits abgeschlossen und die Barrieren in Beton gegossen. Zur gleichen Zeit feierte Integriert Studieren sein 20-jähriges Bestehen an der Universität, Festschriften wurden verfasst und der Stellenwert des Instituts seitens der JKU immer wieder betont.

Diese Geschichte ist symptomatisch für die Situation von gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden an Österreichs Universitäten. Gerne werden Institute und Projekte gegründet, die ihrerseits gute Arbeit leisten, jedoch ein enklavisches Dasein hüten und nur gelegentlich öffentlich in Szene gesetzt werden. Dabei ist das Linzer Institut sehr umtriebig und die Situation für Studierende mit Beeinträchtigungen an der JKU durchaus zufriedenstellend. Integriert Studieren ist Anlaufstelle für derzeit knapp 80 Studierende, die wegen ihrer funktionalen Einschränkung Unterstützung suchen. Außerdem wird dort zu integrativen Möglichkeiten neuer Technologien und des Internets im Bereich der Barrierefreiheit geforscht. Im Gespräch mit Andrea Petz, Mitarbeiterin am Institut, wird schnell klar, wo die Probleme im Umgang mit Barrierefreiheit an den Unis beginnen: „Eine Braillezeile ist in erster Linie ein technisches Hilfsmittel und bedeutet nicht gleich gelungene Integration“, so die Soziologin. Behinderung ist noch immer nicht im universitären Alltag angekommen, ihr Auftreten eine Irritation. Sie wird gesellschaftlich kaum thematisiert und ihre Bedeutung ist daher oft von der individuellen Interpretation abhängig.

Reden ist Silber, Verschweigen ist Gold. In einer vom Wissenschaftsministerium bundesweit durchgeführten Studie gab 2006 gut ein Fünftel aller Inskribierten an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben. Bei der Hälfte der Betroffenen wirkt sich diese negativ auf ihr Studium aus. Eine Zahl, die weit über den Schätzungen der Unis liegt. Aber nur wenige Betroffene greifen auf die Angebote der universitären Servicestellen zurück. „Das Verhalten ist diesbezüglich sehr unterschiedlich“, erklärt Andrea Petz. „Manche kommen vom ersten Tag ihres Studiums an regelmäßig. Andere erscheinen erst, wenn der Schuh schon unerträglich drückt.“ Eindrücke, die sich in der Sozialerhebung widerspiegeln: Die Offenlegung der eigenen Behinderung scheint eine Frage des Müssens und nicht des Wollens zu sein.

Silke Haider hatte diesbezüglich keine Wahl. Ein Rollstuhl lässt sich nicht verstecken. Es sind vor allem Sehbehinderte, Lernschwache oder chronisch Kranke, deren Einschränkungen nicht sofort sichtbar sind, die sich die Frage stellen, wie sie nach Außen mit ihrer Beeinträchtigung umgehen. Viele entscheiden sich für das Verschweigen, rücken nur im Anlassfall damit heraus und tragen somit oft ganz ungewollt zur Tabuisierung ihrer Situation bei. Mit technischer oder finanzieller Unterstützung ist zwar vielen geholfen, an ihrem sozialen Status ändert dies jedoch nur wenig. Zwar kann man – so ein Fazit des Spezial- Eurobarometers 2008 – den ÖsterreicherInnen keine behindertenfeindliche Einstellung nachsagen, aber: Nur weil kaum jemand mehr Probleme mit behinderten Menschen zu haben scheint, heißt das noch lange nicht, dass für diese keine mehr existieren.

Wie finden sehbehinderte Studierende ihren Hörsaal? Illustration: Simon Goritschnig

So stellt sich nicht nur die Frage, ob man akzeptiert wird, sondern auch wie. Erst vor kurzem machte die ORF-Journalistin Rosa Lyon diese Ambivalenz sichtbar. Sie vertrat bei einem Ö1-Gespräch den Standpunkt, dass Menschen mit Beeinträchtigung nur am geschützten Arbeitsmarkt eine Chance hätten, da sie nicht gewinnbringend angestellt werden könnten. Wer solche Aussagen hört, überlegt zweimal ob es wirklich notwendig ist, die eigenen Bedürfnisse zu thematisieren. Rücksicht wird allzu oft mit Schutzbedürftigkeit verwechselt und trägt zu einer Situation bei, in der man sich als BehinderteR erstmal von der restlichen Gesellschaft abgrenzen muss, um danach wieder integriert werden zu können. Es ist nicht die Rolle des selbstbestimmten Menschen, sondern jene des angewiesenen und hilfsbedürftigen Behinderten, die einem/einer angeboten wird. Ein Bild, das niemand gerne von sich hat. Doch die Hemmschwelle für eine Offenlegung von Beeinträchtigungen zu senken, liegt selbst für aktive Servicestellen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Außerdem werden schon kleinen Schritten in Richtung Alltäglichkeit Steine in den Weg gelegt. Seit Langem setzt sich das Institut an der JKU Linz etwa dafür ein, dass ein Info-Beilage über ihr Angebot zusammen mit anderen Informationsmaterialien bei der Inskription verteilt wird, bis heute jedoch ohne Erfolg.

Service oder Survey? Auch die Wissenschaft hat sich der sozio-kulturellen Dimension der Integration lange verschlossen. Erst in den letzten Jahren erfreuen sich die Disability Studies wachsender Aufmerksamkeit. Die aufkommende Disziplin vernetzt sich dabei stark mit Forschenden anderer Disziplinen, die ebenso an einem kritischen Verständnis von Identität und Normativität ansetzen. Laut den Soziologen Robert Gugutzer und Werner Schneider entsteht Behinderung nicht durch den Körper, sondern in seinem sozialen Kontext. Die Frage, ab wann körperliche Variation als Behinderung gilt, ist daher eine kulturelle. Die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ist deshalb von hoher Relevanz, weil die wenigsten Menschen auf persönliche Erfahrungen im Umgang mit Behinderung bauen können. Kulturell erlernte Handlungsroutinen, die ansonsten für einen reibungslosen Ablauf des Alltags sorgen, werden im Kontakt mit Behinderten oft zur Quelle des Unbehagens. Wie erklärt man etwa einem sehbehinderten Kommilitonen den Weg zum gesuchten Hörsaal? Der blinde Wissenschafter Siegfried Saerberg machte das Experiment und fragte PassantInnen nach dem Weg. Erklärungen wie „geradeaus“ oder „dort vorne“ sorgten in der Regel für die ersten Irritationen und so manche Erläuterung endete im Versuch, mit wilden Gesten die Auskunft zu verdeutlichen. Saerberg wollte mit seiner Studie vor allem eines aufzeigen: Solange Behinderung nicht im Alltag angekommen ist, fehlen uns schlichtweg die Konzepte, um ihr adäquat zu begegnen. Ihm den Weg so zu weisen, dass er es als sehbehindeter Mensch hätte verstehen können, das hat kaum jemand ad hoc geschafft. Entsprechende Routinen in der Gesellschaft zu verankern, ist ein Kraftakt, auf einfache Lösungen darf man dabei nicht hoffen.

Was bleibt, ist ein schwieriges Thema, das viele Problemfelder öffnet und kaum Lorbeeren abwirft. In Anbetracht der schon bestehenden Unterstützung stößt der Einwand, dass bloße technische oder finanzielle Hilfe nicht genug ist, und Integration mehr heißt, schnell auf Unverständnis. Im Zweifelsfall hilft eine Sozialberatung den Betroffenen oft mehr als eine Forschungsarbeit zur kulturellen Verortung von Behinderung in Auftrag zu geben. Aktivitäten im Zusammenhang mit Behinderung beschränken sich daher in der Regel auf sozial- und studienrechtliche Auskünfte und die barrierefreie Zugänglichkeit der Unis. Die Notwendigkeit dieser Angebote stellt niemand in Frage, nur verliert die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung daneben an Substanz. Sie bekämpfen die Symptome, lassen aber das Grundproblem unberührt. Dabei war das nicht immer so: Vor ein paar Jahren noch gab es in Österreich eine interuniversitäre Forschungs- und Projektplattform. Beteiligt waren neben der JKU auch die TU Wien, sowie die KFU Graz und die Universität Klagenfurt. Im Zuge der Universitätsreform 2002 wurden die Mittel für diese Initiativen von den nunmehr finanziell autonomen Universitäten jedoch gekürzt. Von den vierzehn Stellen am Linzer Institut Integriert Studieren sind heute gerade einmal drei Posten sicher finanziert. Der Rest läuft über Drittmittel. Von Seiten der Universität wird dabei stolz auf die Eigenständigkeit des Instituts verwiesen, der Umstand, dass es durch die prekäre Situation zu keinen österreichweiten Kooperationen mehr kommt, wird verschwiegen.

Ein alltägtlicher Kampf. Studierende mit einer Beeinträchtigung dürfen wohl kaum auf eine spontane Verbesserung hoffen. Ihren sozialen Status werden sie sich auch in Zukunft hart erkämpfen müssen. Im Alltag heißt dies: Man ist anders und dann doch wieder nicht. Alle Studierenden haben Ärger mit Prüfungen und doch brauchen jene mit Beeinträchtigung manchmal andere Bedingungen, um gleiche Chancen zu haben. Verheimlicht man die Behinderung, vergibt man die Möglichkeit, dem eigenen Potential gerecht zu werden. Macht man keinen Hehl daraus, muss man zuerst einmal gegen gesellschaftliche Klischees ankämpfen. Diese Ambivalenz prägt das Leben von behinderten Studierenden. Für eine bewusste Entscheidung zur eigenen Behinderung zu stehen, braucht es viel Selbstvertrauen, meint Silke Haider. In ihrer Schulzeit war sie immer die Andere, erst im Studium hatte sie genug davon. Ihre Arbeit in der Studierendenvertretung gab damals den Impuls zur Veränderung: Plötzlich stand nicht mehr der Rollstuhl im Fokus, sondern ihr politisches Engagement. Sich dafür zu entscheiden, nicht wieder in diese eine Ecke gedrängt zu werden, erfordert viel Ausdauer. Man stößt jeden Tag auf neue Barrieren. Viele davon können jedoch nicht am Gebäudeplan geortet und mit einer Rampe abgeschafft werden. Was bleibt sind die immateriellen Hürden. Sie wirken oft unbewusst und sind daher meist schwer zu benennen. Ihnen etwas entgegen zu setzen heißt Tag für Tag Vorurteile zu bekämpfen. Die Einsicht, dass es gemeinsam immer einfacher geht, würde auch die Arbeit von Andrea Petz erheblich erleichtern. Sie hofft auf den Tag, an dem das Entgegenkommen selbstverständlich und die Auskunft über rechtliche Bestimmungen im Telefonat obsolet wird. Die Integration von beeinträchtigten Studierenden kann nur dann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie gesellschaftlich von einer Frage des Müssens zu einer Frage des Wollens avanciert.

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie an der Uni Wien.

Die Broschüre „Barrierefrei Studieren” mit Informationen zum Studienrecht (besondere Prüfungsmodalitäten, Erlass der Studiengebühren), Beihilfen, Anlaufstellen, u.v.m. zum Download unter oeh.ac.at/Downloads & Bestellen

Beratungsangebot und Vernetzungsmöglichkeit an der ÖH: Referat für Menschenrechte und Gesellschaft (mere@oeh.ac.at