Die unerträgliche Leichtigkeit des Patienten-Seins
Sondierungen zu einem psychologischen Jargon-Phänomen.
Wer bei einem „Klienten“ zuerst an eine Person denkt, die mit juristischer Vertretung die Höhe von Nachbars Gartenzaun urgiert oder im Rosenkrieg um Kind und Kegel streitet, wird bei einem Blick in aktuelle Fachliteratur der klinischen Psychologie und Psychotherapie überrascht sein. Ob im Kurzlehrbuch oder im psychotherapeutischen Wörterbuch, wo lange Zeit von Patientinnen die Rede war, wimmelt es seit Jahren zunehmend von „Klienten“. So kritisiert „Psychology Today“ am traditionellen Ausdruck der Patientin, dass dieser zu Unrecht eine Person bezeichne, die im Sinn des medizinischen Krankheitsmodells als beschädigt, labil, kurzum als psychisch krank gelte. Dementsprechend ist auch von begriffsimmanenter Stigmatisierung und einem unangemessenen therapeutischen Machtverhältnis die Rede, die es zu überholen gelte. Ist die „Klientin“ also nun Zeichen einer sprachsensiblen Emanzipation psychisch beeinträchtigter Menschen? Könnte es so einfach sein? Oder besser: Sollte es?
DIENSTLEISTUNG UND INTERESSENSVERTRETUNG. Beginnen wir von der ökonomischen Seite: Wenn man sich das Wort „Klient“ auf der Zunge zergehen lässt, schmeckt es irgendwie bitter nach Dienstleistung. Doch trotz des verständlichen Anstoßnehmens daran, dass eine so persönliche Angelegenheit wie Psychotherapie derart reduzierbar sein könnte, entspricht der Begriff den objektiven Gegebenheiten. Die damit verbundene Kränkung sei jeder idealistischen Psychotherapeutin zunächst gegönnt, um dem Narzissmus in Bezug auf die eigene Profession die bittere Wahrheit der Verhältnisse entgegenzusetzen. Denn schließlich holt man sich in der Sprache des Kapitals auf der Couch genauso eine Dienstleistung ab wie beim Installateur. Somit könnte man meinen, dass der „Klientin“-Begriff nur Symptom der konsequenten Durchsetzung der Verdinglichung auf sprachlicher Ebene ist, sich eine idealistische Kritik an ihm somit notgedrungen als verblendet herausstellen muss und sich die Sache damit erledigt hat.
Doch dass sich darin die Intention des Begriffsaustauschs nicht erschöpfen soll, zeigen die ihrerseits idealistischen Befürworter wie der Psychologe Diether Höger im Lehrbuch „Gesprächspsychotherapie“, die die „Klientin“ auf keinen Fall rein ökonomisch verstanden wissen wollen, sondern denen es dabei um (linguistisches) „Empowerment“ zu gehen scheint. Aber wo mit solch einer Dringlichkeit „Power“ herbeigeschafft werden muss – völlig abgesehen von der Problematik, sprachliche mit gesellschaftlichen Modifikationen gleichzusetzen – scheinen Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ratlosigkeit offenbar nicht aushaltbar zu sein. Doch genau aufgrund dieser Gefühle begeben sich Menschen in Psychotherapie und diese gilt es sowohl für Patient als auch für Therapeutin erst einmal auszuhalten, um sie bearbeitbar zu machen. Ein solches Unterfangen benötigt Ausdauer und Geduld – Eigenschaften, die im Begriff des Patienten (lat. patiens: ertragend, ausdauernd, geduldig) treffenderweise bereits enthalten sind.
So scheint es also, als ob man sich mit der „Klientin“ bereits im Vorhinein jenes Teiles der Patienten entledigen will, welcher eigentlich der von Relevanz ist, nämlich der störende kranke. Der Wunsch nach Entpathologisierung um jeden Preis, die banale sprachliche Aufwertung dessen, was die Patientin an „Krankem“, sprich an Leid mitbringt, mündet im Versuch dessen sofortiger Aufhebung. Mit dem „Klienten“ wird die Psychotherapie von der Heilbehandlung zur reinen Interessensvertretung. Thomas Rosemann bezeichnet dies in einem NZZBeitrag zutreffend als „sprachliche Verschleierung“: „Wenn wir glauben, einen Patienten auch Patienten zu nennen, sei abwertend, dann bedeutet das, dass Kranksein ein minderwertiger Zustand ist“.
KLIENTELISMUS ALS HUMANISMUS. Und damit ist man beim Knackpunkt angelangt, nämlich der ideologischen Annahme der humanistischen Psychologie, dass es statt psychischer Krankheit im herkömmlichen Sinn lediglich innere Blockaden bzw. „Inkongruenzen“ gibt. Und dass man anstatt mit einer klassischen Therapie der nur vorübergehend im psychischen Morast steckengebliebenen „Klientin“ (und hier stimmt der Begriff dann wirklich) nur durch ein bisschen Coaching zur Durchsetzung ihrer Selbstverwirklichungstendenz verhelfen muss. Die „Klienten(!)zentrierte Psychotherapie“ nach Carl Rogers subsumiert die praktische Vollendung dieses Gedankens bestens, der auch von gesellschaftlichen (Zwangs-)Zusammenhängen schlichtweg nichts wissen will. Anstatt berechtigterweise die gesellschaftliche Ächtung psychischen Leidens anzuprangern, zeigt sich hier die Assimilation an jenen Verblendungszusammenhang, der jegliches Leid im Subjekt aufzulösen versucht. Die Möglichkeit eines kritischen Verständnisses der individuellen und gesellschaftlichen Umstände, die das Individuum überhaupt zum Leiden bringen, wird so negiert.
Es ist auffallend, dass die Psychoanalyse in ihrer praktisch-klinischen Anwendung eine der wenigen Psychotherapie-Schulen ist, die bislang größtenteils am Gebrauch des „Patientinnen“-Begriffs festzuhalten scheint. Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob es sich dabei um eine bewusste Abgrenzung zum thematisierten Jargon handelt oder ob die Psychoanalyse an dieser Stelle im besten Sinne zurückgeblieben ist und jenem im Laufe der Zeit ebenso erliegen wird. Jedoch könnte sich hier der kleine, aber feine Unterschied in der nur auf den ersten Blick ähnlichen Bestrebung zeigen, mit einem pathologisierenden Krankheitsbegriff zu brechen. Denn im Gegensatz zum humanistischen Versuch nähert die Psychoanalyse die Pole von „normal“ und „pathologisch“ soweit einander an, dass sie, wenn überhaupt trennbar, maximal als Kontinuum begreifbar sind. Zentral ist hierbei die Beobachtung, dass dem vermeintlich „Gesunden“ etwas „Krankhaftes“ innewohnen und sich gleichzeitig im „Kranken“ etwas beruhigend „Gesundes“ offenbaren kann. Und dass somit neben den vielfältigen individuellen Bedingungen ein jeder zuerst und zuletzt immer auch an den Verhältnissen krankt. Dementsprechend ist es gerade die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Psychotherapie und der damit (hoffentlich) verbundenen Regression endlich einmal schamlos als Patientin fühlen und das eigene Leiden voll entfalten zu können, die den Weg zu mehr psychischer Autonomie ebnen kann – und zwar ohne die einen ohnehin schon permanent umgebende Forderung danach, jederzeit ein unabhängiger, entscheidungssicherer und selbstkundiger „Klient“ zu sein.
Lea Wiese studiert Psychologie an der Universität Wien.