Katharina Spielmann

Wohin mit all der Nächstenliebe?

  • 05.02.2015, 12:34

Wenn soziale Einrichtungen eröffnet werden, gibt es oft Protest von AnrainerInnen: Man solle bitte schön einen anderen Platz dafür finden, am besten weit weit weg.

Wenn soziale Einrichtungen eröffnet werden, gibt es oft Protest von AnrainerInnen: Man solle bitte schön einen anderen Platz dafür finden, am besten weit weit weg.

Der Alsergrund ist ein kleiner und feiner Bezirk im Herzen Wiens. Das durchschnittliche Einkommen und die Menge an Eigentumswohnungen sind hier höher als in anderen Bezirken der Bundeshauptstadt. In der Porzellangasse, dem Aushängeschild des Neunten, kann man zwischen gutem Gulasch in urigen Wiener Traditionsbeiseln und mindestens so gutem Quinoa in hübschen Slowfood-Lokalen wählen. Als im November letzten Jahres ein leerstehendes Geschäftslokal zu einer Suchtberatungseinrichtung umfunktioniert wurde, gingen im ruhigen Viertelchen plötzlich die Wogen hoch. Eine Bürger­ Inneninitiative wurde gegründet, Unterschriften gesammelt, bunte T-Shirts aus den Fenstern gehängt und bei diversen Straßenaktionen klebten sich protestierende AnrainerInnen die Münder zu. „Als Symbol des Widerstandes“, erklären die InitiatorInnen. Sie stellen in Pressemitteilungen und Positionspapieren klar: Helft den Süchtigen, aber bitte nicht vor unserer Haustüre!

Die betroffene Beratungseinrichtung Change ist seit November 2014 eine Anlaufstelle für Menschen mit einer Suchterkrankung, genauer gesagt für „aktive KonsumentInnen illegaler Substanzen“. Die psychosozial geschulten MitarbeiterInnen bieten eine Vielzahl an Betreuungsmöglichkeiten an: Sie beraten, informieren, vermitteln, stellen einen Aufenthaltsbereich zur Verfügung und bieten die Möglichkeit des Spritzentausches im Sinne einer Infektionsprophylaxe.

VERDÄCHTIGER MIT SONNENBRILLE. Die Geschehnisse im Herbst 2014 waren für die MitarbeiterInnen verblüffend, verstörend und belastend. Ihnen wurde mit Aggression begegnet, die bis zu Drohungen und Sachbeschädigungen ging und die Arbeit anfänglich extrem erschwerte. Mittlerweile ist es wieder ruhiger in der umstrittenen Einrichtung in der Nußdorferstraße. Aber die Anrainer­ Innen sind auf der Hut und melden jedes noch so kleine Detail, dass sie irgendwie in Zusammenhang mit der Einrichtung zu bringen schaffen. „Wir bekamen eine Beschwerde, dass in einer Tiefgarage zwei Männer mit Sonnenbrillen gesehen wurden. Oder dass ein Mann auf einer Parkbank saß und ein Bier trank“, so Margit Putre, Mitarbeiterin der Suchthilfe Wien. Diese Stimmung wirke sich auch auf die Selbstwahrnehmung der KlientInnen aus, die sich teilweise unerwünscht und beobachtet fühlen, obwohl sie eigentlich nur ein anonymes Hilfsangebot wahrnehmen wollen. Das sei sehr schade, denn nicht alle würden so denken: „Nach wie vor stehen wir in engem Kontakt mit den AnrainerInnen. Und es gibt auch andere Reaktionen – die meisten wollen mal schauen, wie sich die Situation entwickelt, andere sind positiv gestimmt und einige schämen sich auch für die Reaktionen ihrer Mitmenschen.“ Die Geschehnisse am Alsergrund sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich Gruppen teilweise mit Händen und Füßen wehren, wenn sie als anders und fremd Wahrgenommene auch nur in ihrer Nähe wissen.

STIGMATA-JACKPOT. Das zugrundeliegende gesellschaftliche Phänomen ist Stigmatisierung – ein soziologischer und psychologischer Begriff, der beschreibt, wie Menschen andere aufgrund bestimmter, als ungewöhnlich wahrgenommener Eigenschaften be- und verurteilen. Dabei wird von einer gesellschaftlichen Norm ausgegangen, die als Bewertungsgrundlage dient und eine klare Funktion hat: die eigene Identität zu stärken. Denn diejenigen, die sich als „normal“ bezeichnen, brauchen die „Abnormalen“, um sich ihrer Normalität auch ganz sicher sein zu können. Menschen mit einer Drogenabhängigkeit sind von mehreren Stigmata betroffen: erstens der Sucht an sich, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nur äußerst selten als komplexer biographischer Prozess gesehen wird, sondern vielmehr als Verlust der Selbstkontrolle. Zweitens dem Konsum illegaler Substanzen und der damit in Verbindung gebrachten Nähe zur Kriminalität. Und nicht zuletzt der Vorstellung von einer Lebensführung, die mit Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Krankheit und Sexarbeit assoziiert wird.

Jedoch: Ein drogenabhängiger Mensch wird wegen etwas beschuldigt und exkludiert, was aus der Gesellschaft heraus entsteht – die Idee eines richtigen und „normalen“ Lebens ist dabei entscheidend. „Das Verständnis von Normalität entsteht durch Sozialisation in der Familie und im näheren sozialen Umfeld sowie durch politische Regulationen und Medien. Viele haben Schwierigkeiten, mit anderen Lebensformen umzugehen, weil sie ihnen fremd sind“, so Alexander Hamedinger, Ökonom an der Fakultät für Raumplanung und Architektur der Technischen Universität Wien. Außerdem könnte ein weiterer Aspekt bei Geschehnissen wie denen am Alsergrund entscheidend sein: „Die Sichtbarkeit von Armut hat im öffentlichem Raum zugenommen und löst bei vielen Menschen, vor allem in der bürgerlichen Mittelschicht, ein Gefühl der Angst aus, da sie sich mit eigenen Abstiegsängsten konfrontiert sehen. Das ist wiederum auf die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt zurückzuführen, die von Unsicherheit geprägt ist“, erklärt Hamedinger.

PLÖTZLICH PARTIZIPATION. In Fällen wie dem des Suchtberatungszentrums am Alsergrund werden von GegnerInnen christlich-soziale Wert- und Moralvorstellungen aufgetischt, während gleichzeitig das Prinzip der Nächstenliebe vernachlässigt wird. So äußerte etwa Manfred Juraczka von der Wiener Volkspartei unisono mit seinem freiheitlichen Kollegen Johann Gudenus großen Unmut in Bezug auf die Eröffnung der Einrichtung der Suchthilfe Wien. Juraczka in einer Presseaussendung: „Es gibt in unmittelbarer Nähe Parks, Grünflächen und FußgängerInnenzonen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass ein Suchtkranker nach dem Spritzentausch relativ bald seiner Sucht nachkommen wird.“ In den Unterstützungbekundungen der politischen Parteien für den Protest gegen die Einrichtung wurde unter anderem die fehlende Einbindung der AnrainerInnen kritisiert. Transparenz ist ohne Zweifel ein unverzichtbares Element einer demokratischen Gesellschaft. Allerdings muss man sich die Frage stellen, ob es überhaupt noch soziale Einrichtungen im städtischen Gebiet geben würde, wenn jedes Mal BürgerInnen in den Entscheidungsprozess miteingebunden werden würden.

(c) Eva Engelbert

Die BürgerInneninitiative am Alsergrund bekam allerdings nicht nur politischen, sondern auch medialen Rückenwind. In diversen Boulevardmedien war im Vorfeld von vermehrten Spritzen am Spielplatz, vermüllten Ecken und verstärktem Polizeieinsatz in Gegenden rund um andere Suchthilfeeinrichtungen die Rede. „In den Medien werden generell oft Unsicherheiten erzeugt und dabei Vorurteile und Ängste geschürt“, sagt Hamedinger. Gerade wenn es um neue Hilfsangebote für Betroffene geht, wird klar, wie tief Stigmata in unserer Gesellschaft verankert sind – und zwar dank eines medialen und politischen Nährbodens, der nicht aufklärt und beruhigt, sondern bewusst Öl ins Feuer gießt. Auch das hat weitreichende Konsequenzen, ist sich Margit Putre von der Suchthilfe sicher: „Die KlientInnen haben den Widerstand am Alsergrund natürlich durch die Medien mitbekommen. Viele sind dadurch verunsichert und meiden deshalb die Einrichtung. Das ist natürlich fatal und beeinflusst unsere Arbeit maßgeblich.“ In Bezug auf den Widerstand gegen die neue Suchthilfeeinrichtung muss auch berücksichtigt werden, dass durch die Bekämpfung gesundheitsfördernder Maßnahmen das öffentliche medizinische und psychosoziale Versorgungssystem gefährdet wird.

NICHT IN MEINEM BALKONIEN! Die Ablehnungshaltung vonseiten bestimmter Einzelpersonen, BürgerInneninitiativen, Parteien und Medien kann mit dem Ausdruck „Not in my backyard!“ (gerne abgekürzt mit NIMBY) beschrieben werden. Dabei werden in erster Linie Risiken und Gefahren aufgrund von Veränderungen in der unmittelbaren NachbarInnenschaft befürchtet. Der Begriff ist ursprünglich im Zusammenhang mit neuer Infrastruktur beziehungsweise erneuerbarer Energie entstanden: Kaum jemand hat beispielweise prinzipiell etwas gegen Windkraftwerke – außer, sie stehen eben in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die erlebte Ungerechtigkeit wird in weiterer Folge auch oft bekämpft.

Menschen mit einer Drogenabhängigkeit sind nicht die einzigen, die mit Stigmatisierung und Ablehnung zu kämpfen haben. Auch auf anderen Schauplätzen sind ähnliche Reaktionen beobachtbar, zum Beispiel im Umgang mit geflüchteten Menschen. In den vergangenen Wochen war die Diskussion um nicht eingehaltene Asylquoten bzw. die Suche nach Quartiersplätzen in den Medien präsent. Doch in nahezu jedem Ort wehrten sich die BewohnerInnen gegen die Eröffnung von Flüchtlingsquartieren. Wenn man die Aussagen einer dieser Gruppen im Bezirk Innsbruck Land, wo ein altes Hotel zu einem Flüchtlingsquartier umfunktioniert werden soll, mit denen der Bürgerinitiative am Alsergrund vergleicht, fällt eine irritierende Ähnlichkeit der Argumentation auf: Man fürchte sich, immerhin seien die Kinder nicht immer beaufsichtigt und man müsse ihre Freiheiten dann wohl einschränken. Schulen und Kindergärten seien in der Nähe. Margit Putre meint hingegen, dass soziale Einrichtungen genau an solchen Orten sein sollen: „Dort wo Menschen leben, sind immer auch Bildungseinrichtungen. Das sind eben auch leicht erreichbare Gegenden mit guter Infrastruktur und öffentlicher Anbindung. Mitten im Leben. Und genau dorthin gehören die Suchthilfeeinrichtungen, denn immerhin will man ja auch möglichst viele Menschen erreichen.“

RECHT AUF STADT. Die Ausgrenzung, Herabwürdigung und Stigmatisierung „unliebsamer“ Menschengruppen wie Drogenabhängiger, Kranker, Sexarbeiter­Iinnen und Geflüchteter zeigt, dass das Recht auf Stadt, Infrastruktur und öffentlichen Raum ungleich verteilt ist. In den letzten Jahren wurden allerdings auch immer wieder Projekte initiiert, die diese Ungleichverteilung in Angriff nehmen und Menschen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft holen. Zum Beispiel die Aktion Flüchtlinge willkommen, die junge geflüchtete Menschen in WGs unterbringt und somit eine Alternative zu Massenunterkünften darstellt. Oder das VinziRast mittendrin, wo ehemals obdachlose Menschen mit Studierenden zusammenwohnen, -leben und -arbeiten. Das gemeinsame Ziel dieser Initiativen ist, dass alle Menschen ein möglichst „normales“ Leben führen können, was auch eine Bestrebung der Suchthilfe ist. Und wenn „normal“ irgendwann solidarisch, selbstbestimmt und tolerant bedeutet, dann könnte man dem Wort vielleicht doch noch eine Chance geben. Oder?

 

Katharina Spielmann studiert Psychologie an der Universität Wien.