„Jede Erinnerung hat ein emotionales Mascherl“
Wie Kindheit und Gefühle unser Erinnerungsvermögen beeinflussen und warum ein gutes Gedächtnis allein kein Garant für Erfolg ist, erklärt Gesundheitspsychologe Michael Trimmel im Interview.
Wie Kindheit und Gefühle unser Erinnerungsvermögen beeinflussen und warum ein gutes Gedächtnis allein kein Garant für Erfolg ist, erklärt Gesundheitspsychologe Michael Trimmel im Interview.
progress: Was läuft in unserem Gedächtnis ab, wenn wir uns daran erinnern, wo wir das Auto geparkt haben?
Michael Trimmel: Wie der Erinnerungsprozess im Detail abläuft, weiß man nicht. Wir können Gespeichertes jedenfalls leichter abrufen, wenn wir einen geeigneten Kontext oder Assoziationen zum gewünschten Inhalt aufbauen. Wenn wir von der Erinnerung sprechen, geht es oft um Wissen, das wir explizit mitteilen können – Schulwissen zum Beispiel, oder wo wir geparkt haben. Wir erinnern aber auch andere Inhalte: Emotionales und rein Verhaltensbasiertes, zum Beispiel ein einstudiertes Musikstück. Insgesamt umfasst unser Gedächtnis aber nicht nur das, was wir Wissen nennen. Es macht vielmehr unsere ganze Persönlichkeit aus. Ohne Gedächtnis hätten wir keinen sozialen Bezug, würden niemanden wiedererkennen und könnten uns nicht orientieren – also nicht überleben. Alle unsere Leistungen basieren auf Gedächtnisleistungen.
Welche Erinnerungen bleiben uns besonders lange?
Grob gesagt: Das, was uns wichtig ist und somit unsere Aufmerksamkeit aktiviert. Wobei aber die Bedeutung eines Inhalts noch nicht garantiert, dass wir uns langfristig daran erinnern. Unsere Erinnerung hat nämlich immer ein emotionales Mascherl – egal, obes um private Erlebnisse geht oderum Prüfungsstoff. Selbst, wenn man meint, Inhalten neutral gegenüber zu stehen, verbindet man sie mit einer Person oder Situation, die Emotionen hervorruft. Informationen sind also nie emotionsneutral. Daraus folgt aber auch, dass uns je nach Stimmungslage unterschiedliche Erinnerungen zugänglich sind: Wenn wir traurig sind, rufen wir eher negativ eingefärbte Inhalte ab – und wenn wir gut gelaunt sind, positive.
Manches möchten wir möglichst schnell wieder vergessen. Kann man das Vergessen bewusst herbeiführen?
Nein, wir können die Erinnerung nur in einen anderen Kontext stellen: Angenommen, man hat mit den Eltern heftig gestritten. Später erfährt man, dass sie Geldsorgen hatten und versteht, warum sie damals so gereizt waren. Dann wird man die Erinnerung neu interpretieren und schließlich positiver sehen als davor.
Stimmt es also, dass unsere Erinnerung immer positiver wird, je weiter die erinnerten Ereignisse zurückliegen?
Es stimmt, dass eine Verzerrung stattfindet. Wir wissen aber nicht sicher, woran das liegt. Es könnte sein, dass wir negative Inhalte im Laufe der Zeit systematisch uminterpretieren – wie auch im vorigen Beispiel. Eine andere Theorie geht davon aus, dass wir unsere positiven Erinnerungen länger abrufen können als die negativen,weil sie langlebiger sind. Aber egal,ob die negativen Inhalte umgewandelt werden oder verschwinden: Im Endeffekt bleiben uns bei beiden Ansätzen mehr „gute“ Erinnerungen erhalten als „schlechte“.
Warum erinnern sich Leute unterschiedlich gut?
Das liegt an den Genen, aber auch an unseren Erfahrungen ab dem Kleinkindalter. Je mehr wir erleben, desto mehr Information können wir aufnehmen und verknüpfen. Jemand, der mehrere Sprachen spricht, kann Inhalte viel besser einbetten, als jemand, der überhaupt schlecht spricht, weil zum Beispiel in der Kindheit wenig mit ihm oder ihr geredet wurde. Aber auch räumliches Denken, grafisches Gestalten, motorische Fertigkeiten, Musik und Tanz erweitern unsere Möglichkeiten, Inhalte zu verknüpfen. Das rechtfertigt meiner Meinung nachSchulfächer wie Latein, Darstellende Geometrie und Musik. Auch wenn es manchmal so scheint, als würde man sie nicht brauchen.
Was befähigt GedächtnissportlerInnen zu ihren Höchstleistungen?
GedächtniskünstlerInnen können etwas, was wir alle können, besonders gut: Informationen strukturieren. Sie konstruieren einen Bewusstseinsstrom, der eine gewisse Logik hat. Sie prägen sich hundert Silben ein, indem sie eineführen, das „Vergessen“ dagegen peinlich zu sein. Hat das Erinnern auch eine Kehrseite?Unser Wissen allein ist nicht entscheidend. Das Leben besteht ja darin, dass wir handeln, um die Zukunft zu gestalten. Das geht zwar nicht ohne Gedächtnis, aber wir brauchen dazu auch ganz andere Eigenschaften als ein gutes Erinnerungsvermögen: Fantasie, Mut und Gelassenheit zum Beispiel. Dazu muss man vorwärtsorientiert sein: Alternativen abwägen, sich über23Kunstsprache erfinden und sie wie ein Gedicht aufsagen. Was für andere eine unglaubliche Leistung ist, ist für sie ein Satz. Abgesehen davon gibt es wohl auch genetische und feine morphologische Besonderheiten bei GedächtnissportlerInnen. Sie haben einfach eine Spezialbegabung, meist aber auch Defizite in anderen Bereichen, wie alle anderen Menschen auch.
In unserer Gesellschaft scheint das „Erinnern“ stets zum Erfolg zu führen, das „Vergessen“ dagegen peinlich zu sein. Hat das Erinnern auch eine Kehrseite?
Unser Wissen alleine ist nicht entscheidend. Das Leben besteht ja darin, dass wir handeln, um die Zukunft zu gestalten. Das geht zwar nicht ohne Gedächtnis, aber wir brauchen dazu auch ganz andere Eigenschaften als ein gutes Erinnerungsvermögen: Fantasie, Mut und Gelassenheit zum Beispiel. Dazu muss man vorwärtsorientiert sein: Alternativen abwägen, sich über die Zukunft Gedanken machen und trotzdem damit klarkommen, dass man nicht alles planen kann. Menschen, die sich scheinbar immer alles merken, tun sich mit diesen Dingen schwer. Mit Erinnerungen allein ist das Leben noch lange nicht gelebt.
Julia Mathe studiert Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien.