Mehr als nur Zwei
Friedemann Karig beschreibt das Bestehen der Monogamie in seinem Buch „Wie wir lieben“ so: „Die Mo- nogamie war also quasi die Kartoffel unter den Beziehungsmodellen: aus dem Mangel geboren, in die Mange- lernährung führend, aber notwendig zum Überleben.“ Um diesen Vergleich zu verstehen, braucht es ein wenig Grundverständnis zur Herkunft der Monogamie, denn diese ist ursprüng- lich mit guter Intention entstanden. Sie hat auch ihren Zweck erfüllt, aber für jede_n passend ist dieses System der Partnerschaft schon lange nicht mehr. Versteht mich nicht falsch, eine monogame Beziehung funktioniert für sehr viele Menschen ausgesprochen gut, doch diese als einzig wahre Bezie- hungsform anzusehen, ist schlichtweg nicht richtig.
Für alle, die nicht genau wissen, was Polygamie bedeutet, beschreibt es dictionary.com folgendermaßen: “the practice or condition of participating simultaneously in more than one serious romantic or sexual relation- ship with the knowledge and consent of all partners.“ Polygamie ist keine Neuheit mehr, im Gegenteil: Sie ist unser Ursprung, doch das haben wir erfolgreich verdrängt. Nach der Zeit der Jäger_innen und Sammler_innen, die sich neben Essen und Unterkunft auch Sexualpartner_innen teilten, be- merkten die Menschen, dass dies wirt- schaftlich gesehen unrentabel ist. Nur eine einzelne Familie zu ernähren ist gewinnbringender, als mit einer gan- zen Sippe zu teilen. Das Konkurrenz- denken begann und es funktionierte auch lange Zeit ganz gut, wenn wir die Leiden der zwangsverheirateten Paare außer Acht lassen. Ein Sprung in die Moderne und die Scheidungsrate in Österreich liegt laut Statistik Austria im Jahr 2017 bei 41 Prozent, denn der Trieb hat sich nicht verän- dert, nur unser (Unterdrückungs-) Verhalten. Man muss dazu sagen, dass natürlich nicht bei allen Scheidungen Untreue, oder etwas, das man als sol- che empfindet, der Auslöser war, doch ein Tröpfchen Wasser im Pool der Probleme war es mit Sicherheit.
„Love is a feeling, monogamy is a rule” – was wie ein 08/15-Instagram- Zitat klingt, stammt eigentlich aus der Netflix Doku „Explained“ und ist gar nicht so unwahr, wenn man kurz ohne sarkastischen Unterton darüber nachdenkt. Doch nicht die Folge der Netflix-Doku und auch nicht das Buch von Friedemann Karig haben mich zu diesem Artikel bewegt, sondern die Frage, warum eine polygame Lebens- weise noch weniger weit verbreitet ist als es uns guttun würde. Viele Men- schen in meinem Freund_innen- und Bekanntenkreis leben und lieben oh- nehin schon eine Form der Polygamie, doch sie als diese in der Öffentlichkeit zu bezeichnen ist schwierig.
Doppelte Befriedigung.
Alice* suchte das Gespräch mit ihrem Freund Leo*, mit dem sie bereits seit drei Jahren eine Beziehung führte, um ihm von einer, für sie, sehr spannen- den Bekanntschaft zu erzählen. Im Laufe der Unterhaltung, äußerte Alice den Wunsch mit der Bekanntschaft intim zu werden und Leo gab ihr
nach ausreichend Bedenkzeit seine Zustimmung. Aus gutem Grund: „Ich liebe Alice, weiß, dass sie mich liebt und sah deshalb damals wie heute drei Möglichkeiten: Ich beende eine Beziehung, die mich glücklich macht und verliere meine Freundin, die ich über alles liebe. Ich beende die Beziehung nicht und verweigere ihren Wunsch, mit dem Wissen, dass es wahrscheinlich ein wiederkehrender Konfliktpunkt werden würde oder ich setzte mich, mit dem Ziel uns beide glücklich zu machen, damit ausein- ander“. In meinen Ohren ist das der Idealfall, denn durch Alices erfüllten Wunsch und der daraus resultierenden Zufriedenheit ist Leo selbst und auch seine Freundin glücklich. Sogenannte Kompromisse wie: „Ich sehe meinen guten Freund Heinzi nur selten, weil ihn meine Freundin nicht so gerne mag“, verstehe ich ohnehin nicht, denn wenn mich die Zeit mit meinem Freund Heinzi glücklich macht, dann sollte die Freundin doch eher von mei- ner Zufriedenheit indirekt profitieren, als mir diese zu verbieten.
Dass sich Alice von einer anderen Person körperlich angezogen fühlt,
tut der Liebe zu Leo keinen Abbruch, im Gegenteil. Durch die Öffnung ihrer Beziehung lernten die beiden viel über sich selbst und ihre Verbindung zu- einander, die sich übrigens durch die stundenlangen Gespräche über ihre Gefühle noch einmal verbessert hat. Mehreren Menschen Zuneigung oder Liebe, wenn man es so nennen will, entgegenzubringen liegt in unserer Natur. Wie schon erwähnt, hat sich die monogame Ehe ursprünglich aus wirtschaftlichen Gründen etabliert. Selbstverständlich war damals auch oft Liebe im Spiel, doch wie wir es aus Filmen kennen, musste in der Regel die Tochter des reichsten Herrschers A den Sohn des einflussreichen Mannes B heiraten. Durch Paarungen wie die- ser (natürlich ausschließlich heterose- xueller Zusammensetzungen) ent- standen auch die Rollenbilder, welche wir heute mit aller Kraft bekämpfen. Eines davon: Die Frau kümmert sich um Haus, Hof und Kinder und ist auf das Geld des Mannes angewiesen, weil sie gar nichts bis geringfügig Geld verdient, während der Mann die Fami- lie erhält und auf die Treue der Frau hofft. Mit Kindern ist die ganze Situa- tion um ein Vielfaches komplizierter, keine Frage. Doch ich traue mich vor- sichtig zu behaupten, dass einem Kind das Glück der Eltern wichtiger ist, als das Aufrechterhalten des Familienbil- des nach außen. Jugendliche sind oft verständnisvoller und reicher an Per- spektiven, als man denkt. Traut euren Kindern mehr zu! Unsere Generation hat sehr gute Voraussetzungen als un- abhängige Individuen über Sexualität und Lebensweise zu bestimmen.
Selbstbestimmter Sex.
Um den Autor Karig zu zitieren: „Was sind wir für eine komische Spezies, die
das Beste, was sie hat, nicht feiert, sondern darum herumschleicht wie ein Einbrecher um ein Haus in der Nacht?“ Damit meint er den Sex,
den unsere Generation freier denn je ausleben kann, es aber nicht tut. Dass unsere Generation der Millennials weniger Sexualpartner_innen und Verkehr hätten als jene Menschen,
die in den 60er und 70ern geboren sind, wurde schon oft thematisiert. Aktuelle österreichische Studien gibt es dazu noch nicht, doch worauf wäre diese Theorie zurückzuführen? Die 68er-Bewegung? Das Aufkommen der Pille war ein großer Sprung zur sexuellen Selbstbestimmung der Frau, aber wo stehen wir heute? Frauen, vor allem die jungen, die ihre Sexualität ohne fixe_n Partner_in erkunden, bekommen überwiegend negative Resonanz. Nora* zum Beispiel, die all ihre körperlichen Erfahrungen mit sich und wechselnden Partnern erlebt hat, wurde abwertend Umtriebigkeit unterstellt und die Fähigkeit sich zu binden abgesprochen. Die Mehrheit ihrer Freund_innen in Beziehungen, mit denen sie sich nicht identifizieren konnte, zu beobachten, brachte sie zu dem Schluss einfach kein „Bezie- hungstyp“ zu sein. Polygamie kannte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. „Ich bin viel unterwegs, lerne oft neue Menschen kennen und dachte deshalb damals, dass das mit einem eifer- süchtigen (musste man ja sein, um seine Liebe glaubwürdig zu unter- mauern) festen Partner nicht mehr möglich sei“, erzählte sie. Der Grund dafür könnte mangelnde Diversität in den vorgelebten Rollenbildern und generell unzureichender Aufklärung sein. Erst durch Instagram (Hint: Ein weiterer Beweis dafür, dass uns Social Media nicht nur schadet) und das Sammeln anderer Perspektiven wurde ihr bewusst, welche Möglichkeiten sie hat. Wie weibliche Selbstbestim- mung wirklich aussieht. Tinder sieht sie einerseits als Chance interessante Menschen kennenzulernen, aber andererseits auch als Tool zur Be- dürfnisbefriedigung. Zu sexsüchtigen und herzlosen Kreaturen, wie es oft suggeriert wird, macht es Tindernutzer_innen mit dieser Einstellung noch lange nicht.
Drittes Rad.
Ein weiteres Beispiel dafür, warum eine polygame Bezie- hungsform auch für Verfechter_innen der Monogamie eine Option sein sollte: Partner_in A und Partner_in B sind
seit vier Jahren ein Paar, das man als glücklich bezeichnen kann. Gemeinsa- me Wohnung, sich ergänzende Interes- sen, Zukunftspläne und gute Harmo- nie. B hat schon seit einigen Tagen intensiven Blickkontakt und kurze Ge- spräche mit der neuen Arbeitskollegin, dass die beiden sich anziehend finden, ist offensichtlich, aber kein Thema. Die Beziehung zwischen A und B ist weiterhin innig und mit Meinungsver- schiedenheiten im Normalbereich aus- geschmückt. Weihnachtsfeier. Alkohol. Sex mit der Arbeitskollegin. Niemand spricht darüber. B verheimlicht alles. A findet es heraus und beendet unmittel- bar die Beziehung, schmeißt B aus der Wohnung und trauert um die Verbin
dung zu ihrem Lieblingsmenschen. Niemand sucht das Gespräch. B liebt A nach wie vor, spricht nicht mehr mit der Arbeitskollegin, ist ebenso un- glücklich wie A. Nach zwei Monaten kommen die beiden wieder zusammen und die Geschichte wird unter den Teppich gekehrt. Output der Geschich- te schon ersichtlich? Ich bin überzeugt davon, dass sich einige Beziehungsdra- men vermeiden lassen würden, wenn die Beteiligten über das Besprechen der Vorlieben im Bett hinausgehen würden und Themen wie Polygamie ansprechen würden. Positiver Neben- effekt: Polygamie wird, entgegen des gesellschaftlichen Konsenses, aus der Tabu-Themen-Kiste gelockt.
Eine Frage der Definition.
Treue ist auch eine Frage der Definition, denn Eifersucht ist kein Indiz für Liebe, sondern die Angst ersetzt zu werden, diese Meinung teilt Leo und auch viele andere, aber bewusst ist das den wenigsten. Das ist einer der Faktoren, den man Tinder tatsächlich indirekt ankreiden kann, denn „Ersatz“ zu fin- den ist im Internet natürlich bequemer und schneller möglich als im Alltag.
Zu diesem Ersatz würde man aber ohnehin kommen, egal ob online oder offline. Zurück zur Treue: Für Paare in offenen Beziehungen ist oft der ent- scheidende Punkt, dass Sex mit Dritten rein körperliche Bedürfnisse befriedigt, jedoch keine emotionalen. Sprich: Der Wendepunkt von Treue zu Untreue ist verschiebbar. Wie fühlt es sich an die dritte Person einer offenen Beziehung zu sein? Gut, wenn die Kommunikation stimmt. Wie immer und überall kommt es auf die Umgangsweise miteinander an. Wenn eine wertfreie Basis gegeben ist und man das System der Polygamie nicht als regellosen Freifahrtsschein benutzt, ist es gleichwertig zur Mono- gamie und auch so zu behandeln. Nora zum Beispiel fühlte sich von Leo weit besser behandelt und wertgeschätzt, als von allen Gspusis zuvor. Kämpfen wir gemeinsam gegen unser Normdenken an, damit jede_r das Leben bekommt, das er oder sie sich wünscht.
*Name geändert
Iris Strasser studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.