David Ring

Achterbahn, Autodrom, Praterdome

  • 16.06.2016, 20:15
Die Geschichte des Wiener Praters ist zunächst eine Geschichte der Stadt selbst.

Die Geschichte des Wiener Praters ist zunächst eine Geschichte der Stadt selbst. Seit 250 Jahren ist dieser besondere Ort der Öffentlichkeit frei zugänglich. Zum Jahrestag widmet ihm das Wien Museum eine sorgfältig kuratierte Ausstellung, der man ruhigen Gewissens einen sommerlichen Regentag opfern kann. Ab 7. April 1766 gestattete Joseph II. das Betreten des Prater-Waldes mitsamt seiner Alleen, Wiesen und Plätze. War das Gebiet bislang adeligen Jagdgesellschaften vorbehalten, sollten sich dort nun alle Bürger*innen aufhalten dürfen, um „spazieren zu gehen, zu reiten, und zu fahren“ oder „sich daselbst mit Ballonschlagen, Keglscheibn, und andern erlaubten Unterhaltungen eigenen Gefallens zu divertieren“.

In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich der Prater schnell als bedeutender kultureller Umschlagplatz. Gastronomie, Sexarbeit und Feuerwerk lockten jede Woche tausende Menschen aller sozialen Klassen an und bildeten die Grundlage für den „Wurstelprater“, wie der Vergnügungspark im Nordwesten Wiens später genannt werden sollte. Am Beispiel Prater zeigt sich deutlich, dass Unterhaltung von Politik schwer zu trennen ist. Er war nicht nur Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen, der Revolution von 1848 und der Weltausstellung 1873 – ein patriotisches Spektakel, wofür das Gelände umfassend bebaut wurde –, die Schaubuden dieser Zeit waren zudem geprägt von gängigen kolonialistischen und rassistischen Vorstellungen sowie der Zurschaustellung von Menschen, deren Körper nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Das Wien Museum versucht sich in seiner Jubiläumsausstellung an einer kritischen Aufarbeitung, schafft es aber nicht ganz, einen übergeordneten Bogen zu spannen und Kontinuitäten darzustellen. So findet sich dann auch wenig über die Zeit des Faschismus, was angesichts der Fülle an Material zu anderen Zeitabschnitten verwundert.

Dennoch vermittelt die Ausstellung ein vielschichtiges Bild des vielleicht schönsten Ortes in Wien, der wie kein anderer Extreme in sich vereint. Einst Treffpunkt der Elite, wurde der Prater im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Platz für die Ausgestoßenen. Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, das heißt, ihnen auf der Straße oder im Park wieder zu begegnen.

„In den Prater! Wiener Vergnügungen seit 1766“
Kuratorin: Ursula Storch
Wien Museum Karlsplatz
Bis 21. August 2016

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

OK Computer

  • 24.06.2015, 19:38

Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Aktuelle und vergangene Schmankerl aus dem Internet of Things.

ABER NATÜRLICH. Beim Wort „Technik“ denken wir zuerst an Maschinen, Computer und schwere, komplizierte Apparate. Abstrakte Gerätschaften, die der Natur und der Menschlichkeit fremd sind oder gar gegenüberstehen. Kopfhörer wachsen bekanntlich nicht auf Sträuchern und bislang gelang es niemandem, ein Rudel Hochöfen in freier Wildbahn zu beobachten. Aber die Übergänge zwischen Natur, Kunst und Technik waren stets fließend. Was wir heute Bionik nennen – die Umsetzung biologischer Erkenntnisse in technischen Anwendungen – gibt es, seit sich Menschen von ihrer Umwelt bewusst zu unterscheiden lernten. Der modernen Bionik haben wir etwa den Klettverschluss oder auch Computerdisplays, welche die Lichtbrechung auf Schmetterlingsflügeln imitieren, zu verdanken. Technik ist ohne Natur nicht zu denken und ohne Menschen schon gar nicht: Der Begriff leitet sich vom altgriechischen tšcnh („techne“) ab, was so viel wie Handwerk oder Kunstfertigkeit bedeutet. Stricken, Kopfrechnen, Muffinsbacken - das sind alles menschliche Techniken, um sich die Natur anzueignen, nützlich, verständlich oder schmackhaft zu machen. Und jede ist eine Kunst für sich.

ENTFREMDUNG FÜR ALLE. Der Ausdruck „Mensch mit Behinderung“ ist irreführend. Er suggeriert, dass die Erfahrung von Hinder nissen im Alltag eine Eigenschaft der Menschen selbst wäre und keine Sache ihres Umfelds. Worin besteht etwa die Behinderung einer Rollstuhlfahrerin an der Universität, wenn ihr bauliche Maßnahmen einen uneingeschränkten Zugang ermöglichen? Hat ein Hörbeeinträchtigter größere Schwierigkeiten, Adornos Geschwurbel über die Entfremdung zu verstehen? Durch die Digitalisierung unserer Kulturgüter lassen sich Inhalte multimedial aufbereiten und mit Computern kann multimodal interagiert werden. Die Einhaltung von Standards der Barrierefreiheit im Webdesign ist dabei nur ein Etappenziel: Unter den Schlagwörtern „Design für Alle“ oder „Universelles Design“ werden langfristige Konzepte und Lösungen der umfassenden Inklusion gesammelt. Anwendungen, Systeme und Geräte sollen so gestaltet werden, dass möglichst viele User_innen mit den verschiedensten Fähigkeiten und Bedürfnissen sie einfach und sicher benützen können.

Illustration: Veronika Lambertucci

BIS SPÄTER. Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Können sich die Jüngeren vorstellen, wie chaotisch das war, wenn sich ständig Leute mit „re“ wieder im Chatroom anmeldeten und ihn mit „cu“ verließen? Gruppenchats auf Facebook, WhatsApp und ähnlichen Diensten kennen keine An- oder Abwesenheit. Und ein „Ich bin jetzt übrigens da“ wird eher wenig Rückmeldung auf Twitter generieren. Auf techniktagebuch.tumblr.com finden sich viele Erinnerungen an die Gepflogenheiten überholter Technologien, von über 100 Autor*innen, chronologisch archiviert und auch für die Generation Touchscreen verständlich. Die meisten Einträge sind aber ohnehin aus der Zeit nach 2010, hat doch die Schriftstellerin Kathrin Passig den Blog erst 2014 erstellt. In 20 Jahren wird das interessant sein, verspricht sie. Mal sehen, ob das World Wide Web bis dahin zum Filterbubble-Dorf geworden ist und im Cyberspace wieder brav  gegrüßt werden muss.

VIELFLIEGER_INNENPROGRAMM. Ada Lovelace, die am 10. Dezember 1815 geboren wurde, kümmerte sich nicht um den Wunsch ihres Vaters, dass sie ein „prächtiger Sohn“ werden solle. Mit zwölf beschloss sie nach langer Krankheit, sie wolle fliegen, studierte Vögel und begann ein Jahr später damit, Flügel zu entwerfen. Sie begeisterte sich vor allem für Mathematik und Musik, nannte sich aber auch Metaphysikerin. Heute ist sie uns als erste Programmiererin der Geschichte bekannt. Doch die Rechenmaschine, für die sie ihren berühmten Algorithmus schrieb, wurde nie gebaut. Bedeutsamer war vermutlich ihr Versuch einer „poetical science“: Sie erkannte das Potential solcher Rechenmaschinen, träumte von Möglichkeiten, die weit über Zahlenspiele hinausgingen, und legte sowohl mathematisch als auch ideell den Grundstein für die heutige Informatik. Erst 100 Jahre nach ihrem frühen Tod 1852 erreichten Computer die Leistung, mit der sie rechnete. Ihren Traum vom Fliegen hatte sie wohl nie ganz aufgegeben.

EINHORNBLUT UND PAPIERSTAU. Es gibt Geräte, die den allgemeinen technischen Fortschritt einfach ignorieren. Während in den  letzten Jahrzehnten Computer tausende Male schneller, Internetverbindungen kabellos und Kameras digital geworden sind, scheinen Drucker die lebenden Fossilien des Büroalltages zu sein. Kein Tag, an dem nicht ausgetrocknete Tintenpatronen (deren Wert nur knapp unter dem von Einhornblut liegen kann) oder ein Papierstau für wutverzerrte Gesichter und Hasstiraden auf sozialen Netzwerken sorgen.

Und selbst wenn mechanisch alles läuft und der Drucker sich entscheidet, das teure Spezialpapier ausnahmsweise mal nicht in tausend Fetzen zu zerkleinern, druckt er stattdessen nur kryptische Botschaften aus Sonderzeichen. Zugegeben: Drucker sind komplizierte mechanische Geräte, die mit einer Vielzahl an Papieren und Formaten zurechtkommen sollen. Wetterfühlig sind sie auch noch: Zu hohe oder zu niedrige Luftfeuchtigkeit lässt die Blätter aneinan derkleben, der Papierstau ist die logische Konsequenz. Aber es gibt Hoffnung: Bis zum papierlosen Büro kann es nur noch ein paar Jahrzehnte dauern.

ENDLOSE GEOMETRIE. Lange kannte die Mathematik nur glatte geometri- sche Flächen und Formen: Kreise, Rechtecke, Zylinder und so weiter. Berge sind allerdings keine idealtypischen Pyramiden und realistische Bäume lassen sich nur schwer mit Lineal zeichnen; die Welt wird von rauen Oberflächen dominiert. Benoit Mandelbrot erkannte dies nicht als erster, brachte aber ein klein wenig Ordnung ins Chaos. Nach einer kurzen Uni-Karriere landete er 1958 bei IBM, wo seine unkonventionellen Ideen Anklang fanden und vor allem berechnet und visualisiert werden konnten. 1975 prägte er den Begriff der Fraktale, das sind natürliche oder mathematische Phänomene, die aus sich immer wiederholenden Mustern bestehen.

Daraus ergeben sich nicht nur psychedelische Bilder, sondern viel banalere Dinge: von Antennen in Smartphones über CGI-Landschaften in Filmen und Videospielen bis hin zur medizinischen Datenanalyse – die Anwendungsmöglichkeiten von fraktaler Geometrie scheinen so endlos wie die Mandelbrotmenge selbst.

Tag der (Mehr-)Arbeit

  • 29.04.2015, 20:51

Am Ersten Mai feiern einige den Kampf der Arbeiter*innen um den Achtstundentag. Andere behaupten, fünf Stunden in der Woche (!) wären genug, um Bedürfnisse zu befriedigen und unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Einziges Hindernis: der freie Markt.

Am Ersten Mai feiern einige den Kampf der Arbeiter*innen um den Achtstundentag. Andere behaupten, fünf Stunden in der Woche (!) wären genug, um Bedürfnisse zu befriedigen und unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Einziges Hindernis: der freie Markt.

Als die Schweizer Nationalbank im Jänner die Wechselkursbindung des Franken an den Euro aufhob, ging ein Aufschrei durch die eidgenössische Industrie: Wer würde im Euroraum nun ihre verteuerten Waren kaufen? „Gegensteuern“ war das Zauberwort, der Staat müsse schleunigst etwas gegen den hohen Frankenkurs und seine Auswirkungen tun. Aber die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich langsam und noch dazu ging es hier um höchst strittige Fragen der hohen Finanzpolitik. Was blieb den Unternehmen also übrig, um den drohenden Konkurs zu verhindern? Entlassungen, Gehaltskürzungen und Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich.

ZU WENIG ARBEIT. Die Unternehmen, die in den Folgemonaten die Wochenarbeitszeit auf bis zu 45 Stunden erhöhten waren freilich keineswegs alle von der Pleite bedroht, wohl aber von einigen Prozent Gewinneinbußen. Nie darum verlegen, ihre Interessen gegenüber den Gewerkschaften und Betriebsräten durchzusetzen, widmeten sie sich also dem, was Karl Marx den „Kampf um den Normalarbeitstag“ nannte: Die Länge des Arbeitstags wechsle „mit der Länge oder Dauer der Mehrarbeit“ und müsse sowohl gesellschaftlich als auch individuell ständig neu verhandelt werden. Zwar sieht das Gesetz grundsätzlich acht Stunden pro Tag und 40 Stunden pro Woche vor, letztlich wird die Normalarbeitszeit jedoch in Kollektivverträgen geregelt und kann je nach „Betriebserfordernissen“ sehr viel höher liegen.

Unter Mehrarbeit verstand Marx nicht zwingend Überstunden, sondern jede Arbeit, die über die notwendige Arbeitszeit hinausgeht, um die Kosten eines Arbeitsplatzes zu decken. Eingestellt und behalten wird nur, wer Mehrwert produziert und davon kann es nie genug geben. Deshalb wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts staatliche Einschränkungen durchgesetzt, um Unternehmen daran zu hindern, ihre Angestellten bis zur völligen Erschöpfung schuften zu lassen.

In den USA fand die Auseinandersetzung um die Grenzen des Arbeitstags Anfang Mai 1886 ihren traurigen Höhepunkt, als ein Massenstreik in Chicago eskalierte. Dutzende Arbeiter*innen wurden im Zuge der Demonstrationen erschossen oder anschließend zum Tode verurteilt. In Gedenken an den „Haymarket Riot“ wurde der 1. Mai am Gründungskongress der Zweiten Internationale zum „Kampftag der Arbeiter*innenklasse“ erklärt und schließlich in weiten Teilen der Welt als „Tag der Arbeit“ gesetzlich verankert.

Der Streit um die maximale Arbeitszeit dauert bis heute an, in den österreichischen Medien tritt er unter den Stichwörtern Flexibilisierung, Sonntagsöffnung, Pensionsantrittsalter und Lehrer*innendienstrecht zutage. Wenig konkret wird das etwa von der Industriellenvereinigung so formuliert: Tatsächlich brauche es „mehr Bewegungsfreiheit für heimische Unternehmen und ein modernes Arbeitsrecht, welches Spielraum sowohl für die Arbeitgeber- als auch für die Arbeitnehmerseite” ermöglichen soll.

ZU VIEL ARBEIT. Auf der anderen Seite fordern Arbeiterkammer und linke Gewerkschaften eine Verkürzung der Arbeitszeit, bei vollem Lohnausgleich, versteht sich. Proponent*innen eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) argumentieren, dass es uns vom Zwang zur Erwerbsarbeit befreien und die Unternehmen zwingen würde, sich mehr um die Lohnabhängigen zu bemühen. Dabei beziehen sie sich etwa auf den Ökonomen Jeremy Rifkin, der 1995 in seinem gleichnamigen Werk „Das Ende der Arbeit“ prophezeite. Durch Produktivitätssteigerung und Automatisierung würde uns bald die Arbeit ausgehen, nicht nur im industriellen Sektor. Deshalb sollen wir uns vom Streben nach Vollbeschäftigung lösen. Kritiker*innen wenden ein, dass Rifkin hier einem technikdeterministischen Trugschluss unterliegt; die Automatisierung sei kein neues Phänomen und führe letztlich nur dazu, dass mehr Arbeit in kürzerer Zeit erledigt werden muss.

In anarchistischen Kreisen ist die Vorstellung beliebt, mittels basisdemokratischer Umgestaltung der Produktionsweise die Wochenarbeitszeit auf fünf Stunden zu reduzieren. Die Berechnung dieses Werts stammt von Darwin Dante, einem Elektrotechniker und Informatiker aus Frankfurt, und lässt sich hier zusammengefasst nachvollziehen.

Foto: Carla Heher

Der Soziologe Jörg Flecker argumentiert pragmatischer und plädiert für die Einführung einer 30-Stunden-Woche. Er sehe hier ein doppeltes Kausalverhältnis: „Einerseits kann man sagen, damit werde die Arbeit teurer und es sei schlecht für die Wettbewerbsfähigkeit, andererseits treibt eine Arbeitszeitverkürzung auch die Produktivität voran und die Firmen überlegen sich, was sie mit dieser kostbaren Zeit der Beschäftigten machen.“ Zur Frage der Umsetzbarkeit gibt er sich vorsichtig optimistisch, es komme „immer auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse an, wem es letztlich gelingt, die eigenen Interessen durchzusetzen.“ Die Gewerkschaften müssten die Beschäftigen mobilisieren und ein Modell finden, das mehr Arbeitsplätze garantiert und eine Arbeitsintensivierung verhindert.

Auch Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ sieht in einer Arbeitszeitverkürzung und der Einführung des BGE eine Möglichkeit, den Menschen mehr Zeit zu geben, um sich etwa verstärkt der politischen Bewusstseinsbildung zu widmen. Der Widerspruch zwischen Überarbeitung einerseits und Arbeitslosigkeit andererseits würde damit jedoch nicht aufgelöst werden: „Wir sagen klar, dass es innerhalb des Kapitalismus keine echte Lösung geben kann. Dabei ist der Kampf um die Rechte der Erwerbsarbeitslosen zentral, er ist letzten Endes ein Kampf um die Rechte aller unter dem jetzigen System leidenden Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit. Ilija Trojanow bringt es in seinem Buch ‚Der überflüssige Mensch’ auf den Punkt: Es geht ums Ganze. Außer uns selbst haben wir ja nicht mehr viel zu verlieren.“

 

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

Nie wieder Schlussstriche: Zur Entnazifizierung der Österreichischen Unis

  • 17.03.2015, 12:00

Österreichs Universitäten waren schon Jahre vor dem „Anschluss“ Brutstätten für deutschnationale Eliten, reaktionäre Gesellschaftskritik und Antisemitismus. Ein historischer Überblick und warum die Entnazifizierung nach 1945 zum Scheitern verurteilt war.

Österreichs Universitäten waren schon Jahre vor dem „Anschluss“ Brutstätten für deutschnationale Eliten, reaktionäre Gesellschaftskritik und Antisemitismus. Ein historischer Überblick und warum die Entnazifizierung nach 1945 zum Scheitern verurteilt war.

Am 31. März 1965 wurde der kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem Mitglied des Rings Freiheitlicher Studenten (RFS) auf einer Demonstration niedergeschlagen. Er erlag zwei Tage später seinen Verletzungen und ging als „erstes politisches Todesopfer in der Zweiten Republik“ in die Geschichte ein. Die Demonstration richtete sich gegen den Professor für Wirtschaftsgeschichte Taras Borodajkewycz, der in Vorlesungen und Interviews aus seinem Antisemitismus und seiner Treue zu Großdeutschland keinen Hehl machte. Obwohl er bereits 1934 in die verbotene NSDAP eingetreten war und als wichtiger Vermittler zwischen dem faschistischen Österreich und Nazideutschland fungiert hatte, wurde er später als „Minderbelasteter“ eingestuft.

In der Zwischenkriegszeit war Borodajkewycz mit seinem deutschvölkischen Denken an den österreichischen Universitäten in guter Gesellschaft. "Was die Erste Republik betrifft, so ging es unserer Intelligenz, der studentischen und professoralen, einfach gesagt darum, ein neues Gesellschaftsprinzip zu entwickeln und auf den Hochschulen einzuführen. Gegen das republikanische Staatsbürgerprinzip wurde das völkische Volksbürgerschaftsprinzp gestellt. Der Kampf um eine studentische Vertretungskörperschaft mündete schließlich 1930 in einem sogenannten Studentenrecht, das die Studenten nach ihrer "Abstammung und Muttersprache" organisieren sollte", so die Historikerin Brigitte Lichtenberger-Fenz. Jüdinnen und Juden wurden von allen Möglichkeiten der Mitbestimmung an der Uni Wien ausgeschlossen. Als das Studentenrecht 1931 aus formalen Gründen wieder aufgehoben wurde, kam es in Folge immer wieder zu Demonstrationen und gewaltsamen Übergriffen auf jüdische, ausländische und marxistische Kommiliton*innen.

ERZIEHUNG IM AUSTROFASCHISMUS. Der Ständestaat wusste die antisemitische und antidemokratische Stimmung im Land für sich zu nutzen und versuchte seine österreichnationale und katholisch-fundamentalistische Spielart des Faschismus auch an den Universitäten durchzusetzen. In einem Gesetz von 1934 „betreffend der Aufrechterhaltung der Disziplin unter den Studierenden“ wurde die Betätigung für eine verbotene Partei mit einem Verweis von mindestens zwei Semestern unter Strafe gestellt. Im Aktenbestand des Universitätsarchivs der Uni Wien zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der 309 Disziplinarverfahren NS-Aktivist*innen traf, sie wurden jedoch weitaus seltener tatsächlich von der Uni verwiesen als im linken Umfeld verortete Studierende. Das Hochschulerziehungsgesetz von 1935 machte schließlich den Zweck von Hochschulen im Austrofaschismus klar: Neben „Pflege der Forschung und Lehre“ galt es „auch die Erziehung (...) zu sittlichen Persönlichkeiten im Geiste vaterländischer Gemeinschaft“ zu forcieren. Hierfür gab es Vorlesungen zur „weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung“ und in den Sommerferien „Hochschullager“ für Männer bzw. eine „Schulungsdienstzeit“ für Frauen „in besonderer Anpassung an die weibliche Eigenart“. Besondere Bedeutung hatte damals der Österreichische Cartellverband (ÖCV), dessen Mitglieder wichtige Positionen im Staat innehatten. Nicht zuletzt war auch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ein „Bundesbruder“ und wird im ÖCV heute noch für seinen „Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs“ gefeiert.

NAZIFIZIERUNG UND ENTNAZIFIZIERUNG. Alle Bemühungen von Dollfuß‘ Nachfolger Kurt Schuschnigg, mittels Annäherung an das Deutsche Reich und teilweiser Aufhebung des NS-Verbots die Souveränität Österreichs aufrechtzuerhalten, scheiterten. Seine geplante Volksabstimmung platzte und damit auch die letzten Hoffnungen derer, die nicht den rassischen Kriterien der Nazis entsprachen. Als im März 1938 die „Wiedervereinigung vollzogen“ war, jubelten Arbeiter*innen und Akademiker*innen gleichermaßen. Burschenschaften und Corps gingen freudig im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) auf. Sofort wurde mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung begonnen. An der Uni Wien wurden 45 Prozent des Lehrpersonals entlassen und die Zahl der Studierenden sank um 42 Prozent. Ab 1939 wurden auch Studierende „mit Erbkrankheiten und schweren Leiden“ exmatrikuliert.

Bekanntlich wollte davon nach 1945 niemand etwas gewusst haben und Österreichs jüngste Republik gründete sich auf dem Mythos, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Die Alliierten gaben sich damit jedoch nicht zufrieden und erinnerten die Übergangsregierung – wie bereits 1943 in der Moskauer Deklaration angekündigt – an ihre Verantwortung. In „Volksgerichten“ wurde NS-Verbrecher*innen der Prozess gemacht, Reichsdeutschen sowie frühen NSDAP-Mitgliedern wurde umgehend die Lehrbefugnis und das Wahlrecht entzogen.

Überdurchschnittlich hoch war der Anteil der Belasteten an der Medizinischen Fakultät, der BOKU und der WU, die damals noch Hochschule für Welthandel hieß. Die Politikwissenschaftlerin Elke Rajal erklärt: „1945 hat für die Minderbelasteten keine schwerwiegende Zäsur in ihrer Karriere bedeutet. Zudem hat man sich bemüht, die katholisch-konservative Prominenz aus dem In- und Ausland zurück an die Uni zu holen, anstatt jüdischer Wissenschafter geschweigedenn Wissenschafterinnen."

VERDRÄNGUNG UND VERBOT. Wahrlich große Defizite zeigen sich auch in der Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Ideologien der NS-Herrschaft. Man konterte mit Nationalismus unter anderen Vorzeichen. „Der Österreichpatriotismus wurde einfach vom Ständestaat übernommen“, sagt der Historiker Gerhard Jagschitz. „Er hat sicher nicht den Kern erreicht, aber er hat sowohl auf konservativen als auch linken Fundamenten ein gewisses Selbstbewusstsein als Gegensatz etabliert.“ Die „Reeducation“ beschränkte sich auf wenige Ausstellungen zum Holocaust, kulturelle Propaganda der jeweiligen Besatzungsmacht und die Berichterstattung über NS-Prozesse, die als Einzelfälle dargestellt wurden.

Dementsprechend ist zwar der Deutschnationalismus längst nicht mehr mehrheitsfähig, der Opfermythos hielt sich jedoch bis zur Waldheim-Affäre 1986 und darüber hinaus. Eine breite Auseinandersetzung mit der Funktionsweise des Antisemitismus ist bis heute nicht geschehen und der vielfach geforderte, doch schon längst gezogene „Schlussstrich unter der Geschichte“ weist darauf hin, dass die Qualität der Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus im Schulunterricht unzureichend vermittelt wird. Vermehrt sammeln sich an den Universitäten reaktionäre Gruppen und zeigen sich selbstbewusst in der Öffentlichkeit. Die Geschichte lehrt uns, dass inhaltliche Kritik notwendig ist. Es reicht nicht, mit Empörung und moralischem Fingerzeig auf das Verbotsgesetz und den unverwirklichten antifaschistischen Grundkonsens hinzuweisen, will man eine neuerliche rechtsextreme Hegemonie verhindern.

 

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

Veranstaltungshinweise
Gedenkveranstaltung zum 50. Todestag von Ernst Kirchweger der ÖH Uni Wien
1010 Wien, Universitätsstraße 7, Neues Institutsgebäude, Hörsaal 2
20.03.2015, 18.30 Uhr
Ernst Kirchweger (1898-1965): Das erste Todesopfer politischer Gewalt in der Zweiten Republik
Eine Veranstaltung des DÖW zu seinem 50. Todestag
1080 Wien, Schulungszentrum des Wiener Straflandesgerichts, Eingang Wickenburggasse 18-22
25.03.2015, 18.00 Uhr (Einlass ab 17.30 Uhr)

„Österreich hat den Paternalismus der Monarchie nie überwunden“

  • 06.06.2015, 15:12

Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.

Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Zu Wort gekommen sind sie bereits im Artikel „Tag der (Mehr-)Arbeit“, nun haben wir genauer nachgefragt: Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.

progress: Wie erklären Sie sich, dass es so etwas wie Arbeitslosigkeit überhaupt gibt? Wieso brauchen Menschen Arbeit, obwohl die Gesellschaft ihre Arbeit nicht braucht?

Martin Mair: Weil in einem kapitalistischen Staat die Produktionsmittel und das Geld nicht demokratisch organisiert und verteilt sind. Während die Wirtschaft ihre Strukturen und Vermögen immer weiter aufbaut und immer mehr Lebensbereiche ihren Kapitalverwertungsprozessen unterwirft, erhalten die ArbeiterInnen aufgrund des steigenden Machtungleichgewichts immer weniger und werden in ihren Handlungsmöglichkeiten stärker eingeschränkt. Sie müssen mehr Arbeit zu schlechteren Bedingungen auf sich nehmen, um ihren Arbeitsplatz überhaupt behalten zu dürfen.

Durch steigende Erwerbsarbeitslosigkeit können die ArbeiterInnen von den Unternehmen besser ausgebeutet werden. Der Staat wiederum ist auf die Steuern der ArbeiterInnen angewiesen, weil das Kapital im wahrsten Sinne des Wortes die Steuern umgeht. Obwohl Kapitaleinkommen die Lohnarbeitseinkommen zum Teil überholt haben, hängt die ganze Finanzierung des Sozialsystems und des Staates von der Kopfsteuer in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben ab.

Die Europäische Union versucht daher mit einem „Aktivierungsregime“ alle Menschen auf den freien Arbeitsmarkt zu drängen, um die Sozialausgaben weiter zu senken. So steigt vor allem das Angebot prekärer Jobs. Angenehmer Nebeneffekt für das Kapital ist, dass aufgrund steigenden Angebots der Preis der Arbeit sinkt. Für die Gesellschaft als Ganzes ist das eine brandgefährliche Abwärtsspirale, siehe Griechenland und Spanien. Dank technischem Fortschritt und internationaler Arbeitsteilung wäre eigentlich eine Arbeitszeitverkürzung auf 25 Stunden pro Woche längst machbar.

Wieso kommt uns der technische Fortschritt dann nicht entsprechend zugute?

Weil im Kapitalismus Eigeninteressen der UnternehmerInnen wichtiger sind als die Bedürfnisse der ArbeiterInnen und KonsumentInnen. Viele Produkte werden absichtlich so gebaut, dass sie schnell kaputtgehen oder es werden künstliche Abhängigkeiten geschaffen. Das heißt, Produkte sind nicht mehrfach verwendbar, mit anderen Produkten inkompatibel, sie veraltern rasch und können nicht repariert werden.

Durch das zwanghafte Konkurrenzregime wird erst recht unnötige Arbeit geschaffen. Es wird vieles vernichtet, das mühsam aufgebaut wurde, nur weil es nicht genug Gewinn gebracht hat. Es wird die Überproduktion vernichtet, um die Preise hoch zu halten. Neue Modelle steigern den Konsum künstlich, weil der Wachstumszwang im kapitalistischen Geldsystem angelegt ist. Die Gewinnerwartungen der KapitalbesitzerInnen müssen mit aller Gewalt erfüllt werden. Sogar die blanken Lebenskosten werden künstlich hoch gehalten, zum Beispiel Mieten, um die Gewinne auf Kosten anderer zu steigern und den Zwang zur Lohnarbeit zu erhöhen.

Durch Lohnarbeit und Konsum werden Menschen zugerichtet und isoliert. Der neueste Schrei ist Crowdworking, wo wir gar keine ArbeitskollegInnen mehr haben, sondern uns am globalen Arbeitsmarkt via Internet völlig anonym rund um die Uhr niederkonkurrieren.

Heißt das auch, dass Vollbeschäftigung im Kapitalismus immer ein Wunschtraum bleiben wird? Sie kennen die nächste Frage vermutlich: Was ist die Alternative?

Wir sagen klar, dass es innerhalb des Kapitalismus keine echte Lösung geben kann. Wichtig wäre, schrittweise ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen und die Arbeitszeit zu verkürzen. Wie schon Viktor Adler Ende des 19. Jahrhunderts feststellte, kann es revolutionär sein, wenn die Menschen Zeit haben, sich ohne Angst zu überlegen, was sie wirklich wollen.

Auf jeden Fall brauchen wir wieder echte politische Bewusstseinsarbeit, so wie sie in den vergangenen Jahrhunderten ArbeiterInnenbildungsvereine gemacht haben. So wie früher Produktions- und Konsumgenossenschaften gegründet wurden, wäre es notwendig, in solidarökonomischen Projekten Abhängigkeiten vom jetzigen System zu reduzieren und gemeinsames politisches und wirtschaftliches Handeln von Grund auf neu zu entwickeln. Dank Internet wäre nun eine vielseitige Information und Selbstorganisation möglich.

Österreich hat die zutiefst paternalistische Tradition der katholischen Monarchie nie wirklich überwunden. Demokratie wurde nicht erkämpft, sie war das Ergebnis zweier verlorener Weltkriege. Selbstverwaltungsprojekte waren leider immer nur Nischenprojekte. Eine Bildung zu echter, kritischer Selbstständigkeit ist überfällig, damit die Menschen die Bevormundung durch die Bürokratie und die erstarrten Parteiapparate überwinden. Demokratie kann nie auf Dauer an Parteien delegiert werden.

Wie fördern die Aktiven Arbeitslosen die Bewusstseinsbildung und Selbstbestimmung?

Wir wollen eine längerfristige Strategie fahren. Mittels Aufklärung der Erwerbsarbeitslosen über ihre Rechte versuchen wir schrittweise einen Raum für den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und politisches Bewusstsein aufzubauen. Vom „Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose“ – das erstmals umfassend die Rechte der Arbeitslosen und die Fallstricke bei AMS & Co. darstellt – ist bereits die dritte Auflage in Arbeit.

Wir haben nun auch eine Arbeitslosenakademie gegründet und versuchen Geld für erste Projekte über die Österreichische Gesellschaft für politische Bildung aufzustellen. Wir haben auch schon erste Themen wie das Sanktionsregime beim AMS und das Aktivierungsregime der EU einer politisch interessierten Wissenschaft präsentiert.

Der Kampf um die Rechte der Erwerbsarbeitslosen ist im Kapitalismus ein zentraler Kampf. Er ist letzten Endes ein Kampf um die Rechte aller unter dem jetzigen System leidenden Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit. Wir verstehen uns daher als eine Avantgarde einer international orientierten Gewerkschafts- und Sozialbewegung 2.0, die in all ihrer Vielfalt geeint – wie einst die Internationale propagiert hatte – das Menschenrecht erkämpft. Auch wenn es am Anfang sehr mühsam ist, so bleibt uns nichts anderes mehr übrig.

 

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.