David Kirsch

„2017 entscheidet sich das Schicksal Europas!“

  • 16.03.2017, 19:29
In seiner Jugend war er eurasischer Nationalist und glorifizierte autoritäre Ideale. Heute forscht er am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) zu Rechtsextremismus und engagiert sich gegen russische Propaganda. progress hat mit Anton Shekhovtsov über den Ausstieg aus der Szene, Donald Trump und die Flüchtlingskrise gesprochen.

In seiner Jugend war er eurasischer Nationalist und glorifizierte autoritäre Ideale. Mittlerweile forscht er über Rechtsextremismus und untersucht zudem die Beziehungen zwischen der extremen Rechten Europas und Putins Russland am Institut für die Wissenschaft vom Menschen. progress hat mit Anton Shekhovtsov über den Ausstieg aus der Szene, Donald Trump und die Flüchtlingskrise gesprochen.


progress: Anton, du hast ein sehr persönliches Verhältnis zu deinem Forschungsgegenstand. Du warst früher selbst in der eurasischen Szene unterwegs. Woraus setzt sich diese Ideologie zusammen und wie bist du da hineingeraten?
Anton S.: Ich bin in Sewastopol, der größten Stadt der Halbinsel Krim aufgewachsen. Die Krim war damals in zwei politische Lager gespalten. Eines davon setzte sich aus AnhängerInnen der „Partei der Regionen“ zusammen, welche innenpolitisch und außenpolitisch pro-russisch ausgerichtet war und eine eher liberalere Wirtschaftspolitik verfolgte. Das kleinere Lager setzte sich aus großrussischen NationalistInnen zusammen. Dadurch, dass die Krim vom Rest der Ukraine isoliert worden war, galt russischer Nationalismus als „Common-Sense“. Im Jahr 2000 machte ich Bekanntschaft mit dem Eurasismus und wurde zu einem Verfechter dieser imperialistischen Ideologie. Als ich im Zuge meines späteren Studiums der Politikwissenschaft bemerkte, wie faschistoid und autoritär diese Bewegung ist, reflektierte ich meine politischen Ansichten. Seitdem schreibe ich Artikel über Alexander Dugin, einer der GründerInnen der eurasischen Bewegung, und forsche über Rechtsextremismus in Russland und der Ukraine – auch auf Basis meiner persönlichen Erfahrungen mit der Szene.

Vielen Jugendlichen fällt der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene oftmals sehr schwer. Wie erging es dir dabei? Und wie kann man Jugendlichen dabei helfen?
Mir persönlich fiel es relativ leicht, da sich mein Engagement auf kleinere Demonstrationen und Internet-Aktivismus beschränkte und ich nicht viele FreundInnen in der Szene hatte. Ich war also kein vollkommen überzeugter Aktivist. Die eurasische Bewegung liebäugelt mit einer Spielart des nationalen Bolschewismus: Auch mein Interesse galt primär den sozialistischen Ideen, welche ich sympathisch fand. Zudem spielt der Antiamerikanismus hier eine große Rolle. Seit 2007 ist die eurasische Bewegung in der Ukraine ziemlich schwach, da die großrussische Agenda für viele junge UkrainerInnen zu offensichtlich wurde. Seit der 2014 stattgefundenen russischen Invasion auf der Krim hat die eurasische Bewegung aufgrund der anti-ukrainischen Doktrin weiter an Popularität eingebüßt. Konträr dazu finden rechtsextreme Weltbilder in Österreich oder Deutschland immer mehr Zuspruch. Daran tragen auch die etablierten Parteien eine Teilschuld, welche keine attraktiven Krisenlösungsmodelle mehr anbieten können und die Probleme der Jugendlichen, aber auch der Mehrheitsgesellschaft aus den Augen verloren haben. Grundsätzlich befindet sich die liberale Demokratie heute in einer schweren Krise, da sie primär mit Bürokratie assoziiert wird. Der Rechtsextremismus gewinnt an Zulauf, weil demokratische Kräfte schwächer werden, nicht weil rechtsextreme Kräfte so überzeugend sind.

Vor ein paar Wochen hast du bei einer Buchpräsentation über „Putins rechte Freunde“ mitgewirkt. Wer zählt zu Putins Verbündeten in Europa?
In Frankreich ist es der Front National, in Italien die Lega Nord, in Ungarn die Jobbik, Bulgarien hat die Ataka und in Österreich die FPÖ. Es ist auch die FPÖ, welche seit der Unterzeichnung des Kooperationsübereinkommens mit Putins Partei „Einiges Russland“ über die intensivsten Kontakte nach Russland verfügt. Die FPÖ verbindet mit Russland vor allem ein ideologisches Interesse. Die Freiheitlichen sehen in Putins Russland einen natürlichen Verbündeten: Putin erscheint als Vertreter eines traditionalistischen, konservativen Bollwerks gegen Globalisierung und Überfremdung. Putin strebt danach, sich als Staatsoberhaupt eines konservativen Volks zu porträtieren: Soziologische Untersuchungen beweisen jedoch das Gegenteil. Die Mehrheit der RussInnen ist weder besonders religiös, noch besonders konservativ. Die russische Elite hingegen versucht die Bevölkerung durch die vom Kreml kontrollierten Medien verstärkt zum Traditionalismus zu bewegen. Mit mäßigem Erfolg. Russland wird von den Rechtsextremen als konservative Einheit gesehen, tatsächlich ist die Zahl der RussInnen, die sonntags in die Kirche gehen, sehr gering. Die Elite gibt sich konservativ und anti-amerikanisch, gleichzeitig führt man ein Leben in Luxus und Hedonismus und schickt die Kinder auf US-amerikanische Schulen. Das russische Interesse an rechtsextremen Parteien in Europa ist dahingehend eher pragmatischer Natur. Russland kann gegen ein geeintes Europa nicht konkurrieren, weder ökonomisch, noch militärisch. Man ist daher auf europäische Verbündete, die ich „Putin-VersteherInnen“ nenne, angewiesen, um liberale Diskurse und transatlantische Ideen in Europa zu schwächen und die europäischen Einzelstaaten gegeneinander ausspielen zu können. Dies geschieht auch über Desinformation und das Verbreiten von „Fake-News“, was durch soziale Medien einfacher denn je geworden ist.

Seit dem Wahlsieg des US-Republikaners Donald J. Trump wird sehr viel über sein Verhältnis zu Putin diskutiert. Gehört auch Trump zum Lager der „Putin-Versteher“?
Hier muss man differenzieren. Einerseits gibt es in der Trump-Administration mehrere MinisterInnen, die ein ökonomisches Interesse an Russland haben – dazu gehört der Außenminister Rex Tillerson. Andererseits denken einige, dass Russland ein Bündnispartner im Kampf gegen den Islamismus sein könne. Ein Blick auf die russischen Aktivitäten in Syrien zeigen jedoch, dass Putin selbst eine Schuld am Erstarken des jihadistischen Terrors hat. Russland kämpft nicht gegen den Islamischen Staat, sondern hat Assad geholfen, die syrische Opposition niederzuschlagen. Momentan ist Trump gezwungen, sich von seinem pro-russischen Image zu distanzieren. Das zeigt sich etwa daran, dass sein Nationaler Sicherheitsberater Michael Flynn zurücktreten musste. Entgegen weitverbreiteter Meinungen denke ich übrigens nicht, dass Trumps Administration faschistisch ist. Bei seinem wichtigsten Berater, Steve Bannon, bin ich mir allerdings nicht so sicher. Zwar hat Bannon Putin als „Kleptokraten“ bezeichnet. Jedoch begreift auch er ihn als taktischen Bündnispartner gegen den Islamischen Staat. Putin, Trump und Bannon vereint letztlich der isolationistische Wunsch nach einem Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und Europa.

Wie werden sich Trumps Pläne auf Europa auswirken?
2017 entscheidet sich das Schicksal Europas. Wenn sich liberale Kräfte in Deutschland und Frankreich durchsetzen können, hat Europa noch eine Chance. Trumps Administration könnte auch dazu führen, dass die EU wieder zueinander findet. Die momentan stattfindenden Debatten über den Aufbau einer europäischen Armee werden zu einem interessanten Faktor werden, sollte sich die USA aus der NATO zurückziehen. Grundsätzlich wird Europa eine proaktivere Rolle spielen müssen. Als Assad begann, seinen Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen, hat die EU tatenlos zugesehen. Als Präsident Obama seine „roten Linien“ gezogen hat, musste sich Europa darauf verlassen. Auch als Russland in Syrien intervenierte, hat die EU keine glaubwürdigen Schritte unternommen. Die ultimative Konsequenz bekam Europa am eigenen Leibe zu spüren: der bis heute andauernde syrische Massenexodus. Auch der Türkei-Deal stellt keine langfristige Lösung der Flüchtlingskrise dar. Wir müssen begreifen, dass Konflikte im Nahen Osten unmittelbare Implikationen für Europa mit sich bringen. Stell dir vor, du wohnst in einer Wohnung und hörst, wie der Nachbar seine Frau verprügelt. Hörst du dann einfach zu? Tolerierst du dieses Verhalten? Nein. Du musst zumindest an seine Tür klopfen und androhen, dass du die Polizei rufst. Wenn du dieses Verhalten ignorierst, trägst du eine Mitschuld an diesem Verbrechen und den Konsequenzen.

David Kirsch studiert Politikwissenschaften und Rechtswissenschaften in Wien und Linz und veröffentlicht auf seinem Blog exsuperabilis.blogspot.com regelmäßig Analysen und Interviews zu Migration, Naher Osten und Europa.

Rechtsstaat Österreich – 404 NOT FOUND

  • 24.07.2014, 15:01

Der angebliche Rädelsführer der Proteste gegen den Akademikerball Josef S. (23) wurde am 22. Juli 2014 schuldig gesprochen. Am dritten Prozesstag wurde der Jenaer Student zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt, acht davon sind bedingt. Bezeichnend für diesen Fall war nicht nur die lange Untersuchungshaft, die vielen BeobachterInnen ungerechtfertigt erschien: Interessant sind auch die Parallelen zu einem früheren Justizfall.

Der angebliche Rädelsführer der Proteste gegen den Akademikerball Josef S. (23) wurde am 22. Juli 2014 schuldig gesprochen. Am dritten Prozesstag wurde der Jenaer Student zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt, acht davon sind bedingt. Bezeichnend für diesen Fall war nicht nur die lange Untersuchungshaft, die vielen BeobachterInnen ungerechtfertigt erschien: Interessant sind auch die Parallelen zu einem früheren Justizfall.

Als „Operation Spring“ ist eine großangelegte Operation der österreichischen Polizei in den Jahren 1999 und 2000 bekannt. Zahlreiche Menschen afrikanischer Herkunft wurden dabei festgenommen und rechtskräftig verurteilt. Einige der Festgenommenen wurden wegen illegalen Aufenthalts inhaftiert und in weiterer Folge aus Österreich abgeschoben. Dem landesweiten polizeilichen Zugriff auf Flüchtlingsheime und Wohnungen, der am 27. Mai 1999 erfolgte, ging nicht nur eine längere Überwachungsaktion voraus. Auch eine massive Welle der politischen Betätigung der afrikanischen Community gegen Rassismus, der seinen tragischen Höhepunkt in der Tötung Marcus Omufumas am 1. Mai 1999 durch österreichische Polizisten fand, hatte es gegeben. Der nigerianische Asylwerber hatte sich gegen seine Abschiebung mit Händen und Füßen gewehrt, woraufhin drei Polizisten seinen Brustkorb mit Klebebändern zuschnürten und ihm Nase und Mund verklebten. Marcus Omufuma erstickte qualvoll. Die drei Polizisten wurden wegen fahrlässiger Tötung zu acht Monaten bedingter Haft und einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Sie wurden nie vom Dienst suspendiert.

Auch der Fall des Angeklagten Josef S. hat eine Vorgeschichte, die international Aufsehen erregte. Am 24. Jänner diesen Jahres fand der Wiener Akademikerball statt, der in den Jahren davor noch „Wiener Korporations-Ball“ hieß. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) lädt dabei als Organisatorin zu einem Treffen einflussreicher internationaler RechtsextremistInnen in die Hofburg ein. Gegen das jährlich stattfindende Event wurde 2014 erstmals auch international mobilisiert. Laut den VeranstalterInnen der Proteste nahmen bis zu 12.000 DemonstrantInnen an den Aktionen teil. Zahlreiche JournalistInnen kritisierten das Verhalten der Organisatoren des Balls sowie die Tatsache, dass dieser in den Räumlichkeiten der staatstragenden Hofburg stattfinden konnte.

Foto: Soligruppe Josef in Jena

Platzverbot und Lauschangriff

Sowohl im Zuge der Operation Spring als auch bei den Protesten gegen den Akademikerball wandte die Polizei neuartige Vorgangsweisen an. So kam 1999 erstmals der „große Lauschangriff“ zum Einsatz. Im Jänner 2014 war neu, dass ein umfangreiches Platzverbot über große Teile der Innenstadt verhängt wurde. Außerdem galt ein Vermummungsverbot für die inneren Bezirke. Paragraf Eins der Verordnung schrieb vor, dass sich keine Person an öffentlichen Orten aufhalten dürfe, die ihre Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände verhüllt oder verbirgt, um ihre Wiedererkennung zu verhindern. Weiters durften keine Gegenstände mitgeführt werden, „die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die Feststellung der Identität zu verhindern“. Dies schien die polizeiliche Reaktion auf die Vorfälle im Jahr 2013 zu sein, als die FPÖ der Exekutive „Totalversagen“ bescheinigte.

Wer gegen das in Paragraf Eins angeordnete Verbot verstieß, beging eine Verwaltungsübertretung, welche mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Euro oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Wochen bestraft werden kann, hieß es damals. Der Rechtswissenschaftler Bernd-Christian Funk verurteilte das Verbot und betitelte es als „Blankoschein“ für die Polizei. Mehrere österreichische Rundfunksender schlossen sich dieser Einschätzung an und forderten erfolglos die Aufhebung der Beschränkungen. Dennoch sperrte die Exekutive bereits vor dem Beginn der Demonstration die betroffenen Teile der Innenstadt mit mehr als 2.000 PolizistInnen ab. Als einige DemonstrantInnen die Polizeisperre überschritten, eskalierte die Situation. In Folge dessen kam zu mehreren Festnahmen.

Verfahrensmängel...

Das Justizverfahren, das im Zuge der „Operation Spring“ durchgeführt wurde, richtete sich in erster Linie gegen rund 100 AfrikanerInnen. Es entwickelte sich zu einem der größten und umstrittensten Justizverfahren der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Beinahe alle Angeklagten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, unterschiedliche NGOs kritisierten die unübersehbaren Verfahrensmängel während des Prozesses sowie die von Polizei und Justiz angewandten Methoden. Michael Genner von Asyl in Not sprach von der „Verlogenheit des Rechtssystems“, während Heinz Patzelt von Amnesty International konstatierte, dass sein Vertrauen in den Rechtsstaat ernsthaft erschüttert worden sei. Die akustischen und optischen Aufzeichnungen, die während der Observationen durch Nachrichtendienste angefertigt wurden, waren größtenteils von ungewöhnlich schlechter Qualität und als Beweise im Grunde unbrauchbar. Die Zuordnung der Stimmen zu den Personen auf den Videoaufnahmen war nur spekulativ möglich.

Ebenso wurden einige vermummt vor Gericht erscheinende KronzeugInnen geladen, die einen Großteil der angeklagten AfrikanerInnen belasteten. Die Identität der ZeugInnen wurde gegenüber der Verteidigung nicht offen gelegt, zahlreiche Fragen der Verteidigung wurden – so das Gericht - zum Schutz der anonymen ZeugInnen vom Richter zurückgewiesen. So war es möglich, dass etwa Michel Kabongo (zum damaligen Zeitpunkt erst 20 Jahre alt) aufgrund einer anonymen und maskierten Zeugenaussage aus der Drogenszene erstinstanzlich wegen des Verkaufs von Rauschgift zu vier Jahren Haft verurteilt werden konnte.

Darüber hinaus offenbarten sich Mängel in der Übersetzung der Audioaufnahmen. Die Zuordnung der Stimmen nahm ein ebenfalls anonymer Dolmetscher vor, obwohl selbst ein Sachverständiger erklärt hatte, dass dies für ihn aufgrund der schlechten Qualität des Materials nicht möglich gewesen sei. Als die Verteidiger Fragen zur Qualifikation des Dolmetschers stellten, wurden auch diese vom Richter zurückgewiesen. Für internationale Kritik sorgte eine Passage in mehreren Urteilsbegründungen, die vom „Verkauf einer nicht mehr feststellbaren, jedenfalls aber großen Menge Heroin und Kokain, an unbekannt gebliebene Endabnehmer“ sprach. Der Dokumentarfilm  „Operation Spring“ von Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber aus dem Jahr 2005 thematisiert diese Missstände und vermittelt einen Einblick in die befremdlichen Vorgänge im Zuge der Polizeiaktion.

...und Widersprüche

Auch das Verfahren gegen den deutschen Studenten Josef S. war durch Widersprüchlichkeiten geprägt und hatte den Anschein eines politisch motivierten Schauprozesses. Seit dem 24. Jänner 2014 saß der bis zu diesem Zeitpunkt unbescholtene Josef S. in Untersuchungshaft, da nach Ansicht der Polizei und später auch des Gerichts sowohl „Verdunkelungsgefahr“ als auch „Wiederbegehungsgefahr“ bestanden habe. Die Staatsanwaltschaft gab an, man befürchte, dass sich Josef S. an den Protesten gegen den Wiener Opernball beteiligen könnte. Diese finden jedoch schon seit mehreren Jahren nicht mehr statt. Josef S. galt als „Rädelsführer“ – so die Angaben der Wiener Polizei – da er einen schwarzen Pullover mit der Aufschrift „Boykott“ trug. Obwohl aktuelle wissenschaftliche Studien über Protestkulturen darauf hinweisen, dass es in den Reihen formierter autonomer DemonstrantInnen keine „Rädelsführerschaft“ gibt.

Zudem widerrief ein Belastungszeuge der Polizei im Zuge des Verfahrens seine Aussage vom ersten Prozesstag, als sich herausstellte, dass die Person, die auf einer Audiodatei zu hören war, nicht der Angeklagte sein konnte. Diese Tondatei war erst auf Initiative der Verteigerin von Josef S. genauer untersucht worden. Die Frage der Verteidigung, ob in diesem Fall das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingehalten werde, konnte mit Blick auf einen Fall, in dem Mitglieder der neonazistischen Fangruppierung „Unsterblich“ direkt nach der Identitätsfeststellung entlassen wurden, auch nicht klar beantwortet werden.

Auch im Fall Josef S. trat ein anonymer Zeuge auf, der während der Demonstration als nicht uniformierter Zivilpolizist im Einsatz war. Dieser behauptete, dass Josef S. Steine und auch einen Mülleimer in Richtung der Polizisten geworfen habe. Als EntlastungszeugInnen der Verteidigung traten über 40 Angestellte der MA 48, JournalistInnen und Kameraleute auf, die Josef S. nicht einwandfrei oder gar nicht erkannt hatten. Ein STANDARD-Fotograf, der sich am Stephansplatz einige Meter entfernt vom Angeklagten aufgehalten haben soll, erkannte den Angeklagten auf keinen seiner 700 Fotos. Auch ein freier Fotograf, der ebenfalls in der Demonstrationsnacht fotografierte, sagte als Zeuge aus. Auf Filmmaterial ist er hinter Josef S. zu sehen, während der Angeklagte einen Mülleimer aufrichtete. Dass der Angeklagte den Mülleimer geworfen und somit den Tatbestand der absichtlichen schweren Körperverletzung erfüllt habe, konnte der Fotograf nicht bestätigen: „Mir ist nicht aufgefallen, dass von dort etwas geworfen wurde.“

Foto: Soligruppe Josef in Jena

Getroffen hat es Irgendeinen

Dass die „Operation Spring“ ein politisch motivierter Prozess war, um die afrikanische Community Österreichs repressiv zurückzudrängen, steht heute außer Frage. So wurde der aus Nigeria stammende Literat und politische Aktivist Obiora C-Ik Ofoedu im Zuge der Operation aufgrund von Informationen von der Polizei in den Medien als „Drogenboss“ gehandelt. Im Jahr 2000 wurde Ofoedu rechtskräftig wegen Geldwäsche verurteilt, weil er laut Gericht Geld an Landsleute überwiesen hätte, das aus Drogenhandel stammte. Für alle anderen ihm ursprünglich zur Last gelegten Verbrechen erhob die Staatsanwaltschaft keine Anklage. Den Vorwurf, Ofoedu sei der Kopf eines international agierenden Drogenrings, musste die Justiz fallen lassen. Emanuel Chukwujekwu wurde ebenfalls 1999 als „Drogenboss“ präsentiert. Im Zuge des Prozesses wurde er in zweiter Instanz freigesprochen. Der oberste Gerichtshof hob die Urteile jedoch wieder auf, worauf er schließlich im Dezember 2005 zu 4 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt wurde. Bis zu diesem Urteil saß er bereits fast 4 Jahre und 9 Monate in Untersuchungshaft. Für Chukwujekwu waren diese Vorgänge ein „Krieg gegen die Black Community in Wien“.

Der Staatsanwalt im Fall des Josef S. sprach in seinem Plädoyer von der Pflicht des Rechtsstaates sich vor „Terrorismus“ zu schützen. Clemens Lahner, einer der beiden AnwältInnen, die Josef vor Gericht verteidigt haben, stellte umfassend dar, dass der Mistkübel, den der Angeklagte geworfen haben soll, für diesen viel zu schwer gewesen sei. Außerdem liege diesbezüglich kein eindeutiges Beweismittel vor. Die Anklage stützte sich auf einen einzigen Belastungszeugen der Polizei, der als einziger angab, Josef S. zum Tatzeitpunkt am Tatort gesehen zu haben, während alle anderen als ZeugInnen geladene BeamtInnen der Anklageschrift widersprachen. Kristin Pietrczyk, die zweite Verteidigerin von Josef S., sprach in ihrem Schlussplädoyer davon, dass ein Schuldspruch ein „in Angst und Schrecken Versetzen von jedem, der auf so eine Demonstration gehen will“ sei.

Josef S. wurde am 22. Juli nach beinahe sechsmonatiger Untersuchungshaft wegen Landfriedensbruch in Rädelsführerschaft, versuchter schwerer Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung schuldig gesprochen. Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss auch hier stutzig machen: Er wurde zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt, acht davon sind bedingt. Zu einer ähnlichen Haftstrafe wurde auch jener Mann verurteilt, der im Jänner letzten Jahres eine Kenianerin vor die U-Bahn-Gleise gestoßen hatte und – bevor er diese in Lebensgefahr brachte -  noch auf die U-Bahn-Signaltafel geblickt und seiner Freundin zugerufen hatte, dass in drei Minuten "alles vorbei“ sei. Der 51-jährige Elektriker wurde in erster Instanz zu einem Jahr bedingter Haftstrafe verurteilt, da eine Absichtlichkeit nicht nachweisbar war. Der Mann habe sich „in einer Stress-Situation“ befunden.

 

David Kirsch studiert Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Universität Wien und schreibt auf exsuperabilis.blogspot.com

Gertrude Lover studiert Germanistik und Geschichte an der Universität Wien.

Mariage pour tout le monde? Ehe für Alle?

  • 17.07.2014, 20:18

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

Anmerkung der Redaktion:
Wir bedaueren sehr, dass es zu Unklarheiten rund um dieses veröffentlichtes und dann wieder gelöschtes Interview gekommen ist. Diese Situation war die Folge von Meinungsverschiedenenheiten in der Online-Redaktion. Dafür, dass nicht sofort eine adäquate und professionelle Vorgangsweise im Umgang damit gefunden wurde, möchten wir uns entschuldigen.

Uns ist klar, dass sich über das betreffende Interview zumindest stellenweise streiten lässt. Es spiegelt auch nicht unbedingt die (durchaus heterogenen) Meinungen der Redaktion und der ÖH wider, wie Artikel und insbesondere Interviews allgemein nicht immer die Meinung der ÖH widerspiegeln. In folgendem Punkt sind wir uns allerdings einig: Wir trauen unseren LeserInnen zu, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können. Sie können und sollen selbst entscheiden, ob sie die Positionen der Interviewten teilen oder nicht.

Wir werden organisatorische Konsequenzen ziehen, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden. Im progress muss Platz für Meinungsvielfalt, kritische Debatten und konstruktiven Dialog sein.

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

progress online: Wann begannen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um die "mariage pour tous" in Frankreich und wie entwickelten sie sich?

Kunstreich und Naber: Beim Amtsantritt der Regierung Hollande 2012 hatten viele Linke und Linksliberale in Frankreich das Gefühl, dass sich alle linken Essentials in der Anpassung an die Mitte in Luft aufgelöst hatten und dass als einziges genuin linkes Projekt im Vergleich zur vorangegangenen Sarkozy-Regierung die „mariage pour tous“ verblieben war. Dieses Gesetzesprojekt bekam damit wohl für Befürworter wie Gegner der sozialdemokratischen Regierung einen starken Symbolcharakter. Daraus allein aber lässt sich die Massenmobilisierung gegen dieses Gesetz nicht erklären. Vielmehr scheint es uns so zu sein, dass mit diesem Thema die Mehrheit des rechten Spektrums endlich „ihr“ Thema gefunden hatte, das an symbolischer Kraft dem Antirassismus und Antikolonialismus der Linken gleichkommt. Es sollte unterstrichen werden, dass es bürgerliche Rechte gibt, auch innerhalb von Sarkozys UMP, die diese Gegnerschaft zur „mariage pour tous“ nicht teilen. Aber diese sind aus taktisch-politischen Gründen bei der Verurteilung dieser Massenbewegung ähnlich zaghaft wie israelfreundliche Sozialdemokraten bei der Kritik des linken Antizionismus. Und daneben geht die Begeisterung für den Hass auf die „loi Taubira“, das Gesetz zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, das nach Hollandes Justizministerin Christiane Taubira benannt ist, weit ins bürgerliche Lager hinein. Die „manif pour tous“ – zu deutsch: Demo für alle –  die Aktionsbewegung, die 2013 in Frankreich den Widerstand gegen die „Ehe für Alle“ organisiert hat ist zugleich ein Klima der Enthemmung entstanden, in dem zum einen die Gewalt gegen Homosexuelle wieder hoffähig geworden ist und zum anderen ein gewisses rechtes Spektrum sich auf einmal ermutigt fühlt, sich vom linken ‚Joch des Antirassismus’ zu befreien – indem sie die schwarze Christiane Taubira mit Bananenschalen bewerfen und dabei die „quenelle“-Geste des antisemitischen und rechtsextremen Komikers Dieudonné zeigen, eine neue Variante des Hitlergrußes. Damit wird dann auch der Haken geschlagen, der die politisch rechte Identität dieser Bewegung wieder auflöst: Die „mariage pour tous“ war gewissermaßen nur der Anlass, das bürgerliche Lager, das mit Antirassismus, Antikolonialismus und Antizionismus in den letzten Jahren in der Mehrheit nie so recht zu locken war, in eine faschistische Massenbewegung einzugemeinden. Das ist geglückt.

Wie entstand die die Gegenbewegung zur "mariage pour tous", was sind ihre Besonderheiten und aus welchen Persönlichkeiten setzt sie sich zusammen?

Losgetreten hat die Bewegung Virginie Tellenne, die unter dem Namen Frigide Barjot in Frankreich als Komikerin bekannt ist. Sie gehört zu einem Spektrum, das zwischen rechtsextrem und faschistisch changiert, aber bislang sein Milieu in den verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen antibürgerlicher Provokation gefunden hatte, die landläufig eher als ‚links’ angesehen wurde, ohne dass man sich genauer angesehen hätte, was da verhandelt wurde. In den 2000ern hatte Barjot ihr katholisches Coming Out, während sie sich zuvor als Touristin in der schwulen Sub von Paris verlustiert hatte. Mit ihrer Bewegung der „Manif pour tous“ brachte sie dann aber mehr ins Rollen, als sie selbst wahrscheinlich je zu hoffen gewagt hatte. In Gestalt des „Französischen Frühlings“ wuchs ihr ein von Béatrice Bourges geführter, offen faschistischer Flügel als Konkurrent heran, der sie inzwischen an Popularität überholt hat und effektiver als sie die Verschmelzung von Links und Rechts besorgt.

Womit wird gegen das Recht Aller auf Ehe argumentiert? Kann man Analogien zu anderen regressiven Ideologien entdecken?

Das ist schwer zu sagen, denn im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht um Argumente, sondern um Glaubensbekundungen: etwa für den natürlichen Geschlechtsunterschied, für die Notwendigkeit von Mama und Papa, für die Natürlichkeit der Familie, der Abstammung und des Zustandekommens des Lebens ... Der psychologische Hintergrund ist unseres Erachtens, dass viele Menschen auf einmal merken, dass sie sexuelle Minderheiten brauchen, um auf sie herabblicken zu können, weil die Herrschaftsverhältnisse anders nicht zu ertragen sind. Deswegen werden folglich in der Begründung der Ablehnung der „mariage pour tous“ diese Verhältnisse affirmiert und als Garant alles wahrhaft Menschlichen beschworen. Das erinnert an die arabische Bevölkerung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren im Mandatsgebiet Palästina Pogrome gegen Juden veranstalteten und dabei die Parole skandierten: „Die Juden sind unsere Hunde!“ Sie konnten und wollten nicht akzeptieren, dass die Juden nicht länger ihre Hunde sein würden und das zionistische Projekt ihnen die Möglichkeit ihrer eigenen Emanzipation vor Augen führte.

 

Wie ist die allgemeine Rechtslage für Homosexuelle in Frankreich momentan?

Homosexualität wurde im Zuge der Revolution in Frankreich bereits 1791 entkriminalisiert. Im 19. Jahrhundert wurde Homosexualität im Zuge der Restauration nicht wieder verboten, was Frankreich zu einem Asylland für verfolgte Homosexuelle machte – der bekannteste Asylbewerber war Oscar Wilde, der nach seiner Haftentlassung 1897 nach Paris ging. Seit 1985 gibt es eine Antidiskriminierungsgesetzgebung und seit 1999 den Pacte civil de solidarité, kurz PACS, eine Art Zivilehe, die zwischen beliebigen Menschen geschlossen werden kann. Galt der PACS zunächst als eine Art eingetragene Partnerschaft, ist er seit einigen Jahren vor allem für heterosexuelle Paare eine Alternative zur Ehe geworden, weil sie vertragliche Regelungen erlaubt, die in der Ehe nicht vorgesehen sind, und leichter zu beenden ist. Mit der Einführung der Ehe für alle, inklusive des Adoptionsrechts, im Frühjahr 2013 hat Frankreich sich dem europäischen Mainstream – mit Ausnahme der deutschsprachigen Länder – angeglichen.

Woraus speist sich die spezielle Ablehnung der Homosexualität bzw. des Rechts homosexueller Paare auf Heirat seitens rechter Organisationen in Frankreich? Was für Positionen hat die Linke in Frankreich hierbei?

Frankreich ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz Entkriminalisierung das Ressentiment gegen die Homosexualität halten kann. Solange die Homosexuellen, wie die Juden im Übrigen auch, die Plätze einnehmen, die ihnen zugewiesen werden, können sie damit rechnen, zu überleben und toleriert zu werden. Dafür gibt die Literatur von Marcel Proust ein beredtes Beispiel. Im Unterschied zu deutschen und österreichischen Nazis sind französische Faschisten allerdings nicht an sich homophob: Sie dulden die Homosexualität als Markenzeichen eines intellektuellen Grand-Seigneurs, der sich über Klassenschranken hinwegsetzt und sich zu Kommunismus und Faschismus gleichermaßen bekennen kann, wie ihn etwa der Schriftsteller André Gide verkörperte. Außerdem gibt es die Fraktion der katholischen extremen Rechten und die Überbleibsel des Monarchismus, die klassische konterrevolutionäre Gegenaufklärung, die die Entkriminalisierung der Homosexualität auch nach über zweihundert Jahren noch bedauern. Sie sind nicht mit den Faschisten zu verwechseln – nicht wenige von ihnen kämpften gegen die deutsche Besatzung –, ihre Gemeinsamkeit liegt jedoch darin, dass sie die Homosexualität straffrei im übertragenen Sinn nur dem Adel zugestehen wollen. In diesem Sinne argumentieren manche Intellektuelle gegen die „mariage pour tous“ mit dem Verweis auf die großen homosexuellen Dichterfürsten, was aber in dem Moment albern wird, wenn man sich auf Amerikaner wie den Dichter Walt Whitman bezieht, der eine Poetik der Individualität in der Gleichheit und der Demokratie geschaffen hat.

Eine Mehrheit der Linken hat in französisch- republikanischer Tradition die „mariage pour tous“ unterstützt. Auch linksradikale Gruppierungen, wie die verschiedenen trotzkistischen Parteien, haben sich angesichts der wachsenden rechten Bewegung schließlich für die Ehe für alle ausgesprochen. Wobei es nie eine Massenbewegung für die Ehe für alle gegeben hat – sie ist, wie in anderen europäischen Staaten und den USA, das Ergebnis des jahrzehntelangen Ringens einer klugen Lobby. Die Demonstrationen für die „mariage pour toues“ waren eine Reaktion auf die „Manif pour tous“ und die mit ihr einhergehenden Angriffe auf Homosexuelle und ihre Treffpunkte.

Daneben gibt es aber noch jene Linke, die das Rechtsinstitut der Ehe für überholt hält und nicht verstehen kann, was der Staat in privaten Beziehungen zu suchen hat. Mit ihrem Ideal der offenen Zweierbeziehung perpetuieren sie die Illusion der autonomen Linken vom kollektiven Leben jenseits von Staat und Gesellschaft – die Ideologie des Freiraums. Für sie gilt, was der neokonservative Publizist Alain Finkielkraut, der selbst die Ehe für alle ablehnt, vor kurzem in einer Fernsehsendung im Hinblick auf die liberalen Kritiker des vom französischen Innenminister Manuel Valls durchgesetzten Verbots der Auftritte des Nazi-Komikers Dieudonné diagnostizierte: „Sie wünschen sich einen Rechtsstaat ohne Staat und eine Justiz ohne Schwert.“

 

„Plötzlich verprügelte man Frauen“

  • 07.03.2014, 12:34

Sogol Ayrom (*1970) ist eine iranisch-österreichische Aktivistin, die für Frauen- und Menschenrechte im Iran kämpft. Im Interview mit progress-online erklärt sie, wieso das iranische Regime frauenfeindlich ist, unter welchen Restriktionen die IranerInnen leiden müssen und warum sie trotz allem Hoffnung hat.

Sogol Ayrom (*1970) ist eine iranisch-österreichische Aktivistin, die für Frauen- und Menschenrechte im Iran kämpft. Im Interview mit progress-online erklärt sie, wieso das iranische Regime frauenfeindlich ist, unter welchen Restriktionen die IranerInnen leiden müssen und warum sie trotz allem Hoffnung hat.

progress online: Wann und warum hast du begonnen gegen das iranische Regime zu kämpfen?

SOGOL AYROM: Ich habe im Alter von 14 Jahren entschieden, dass ich nicht mehr im Iran leben möchte. Der Grund dafür war, dass ich in diesem Alter wegen meiner unzureichenden Kopfbedeckung verhaftet und eingesperrt wurde. Später wurde ich vor einem Gericht zu 60 Peitschenhieben verurteilt, die durch einen Mann vollzogen wurden. Ob mich das eingeschüchtert hat? Nein, ganz im Gegenteil. Ich weigerte mich, mich zu unterwerfen und begann kritisch über den Islam im Allgemeinen und über die Frauenunterdrückung im Iran nachzudenken. Und ich habe mich in kleineren Gesellschaften, in der Familie und in der Schule ausgetauscht.

In diesem Alter habe ich begonnen, mich aktiv gegen dieses Regime zu positionieren. Allerdings gab es schon damals eine enorme Repression gegen Andersdenkende. Deshalb sagte ich zu mir selbst: ‚Ich will hier nicht weiterleben. Ich kann hier nicht leben. Ich möchte nicht, dass meine Töchter in diesem System aufwachsen müssen.’ Glücklicherweise hatte ich Bekannte in Frankreich, zu denen ich mittels eines Studentenvisums flüchten konnte. Mein Vater musste eine hohe Kaution für mich hinterlegen und bekam selbst ein Ausreiseverbot, um mich zu einer Rückkehr zu verpflichten. Diese Bürgschaft führte dazu, dass er niemals den Iran verlassen konnte und daher auch dort verstarb.

1979 wurde im Iran im Zuge der „Islamischen Revolution“ der Schleierzwang eingeführt. Wie war die damalige Situation?

Man sollte sich die Bilder von iranischen Universitäten vor 1979 ansehen. Wir waren genauso wie im Westen gekleidet. Wir hatten sehr viele zivile Freiheiten und niemand hatte vor der Polizei Angst. Frauen waren in allen möglichen Ämtern, sei es in Ministerien oder als Richterinnen. Wir hatten Frauen in Top-Positionen und der Schah hat das damals auch unterstützt. Frauen genossen bereits ab 1963 ihr Wahlrecht – viel früher etwa als in der Schweiz. Das kam im Zuge der weißen Revolution (Anm.: Reformprogramm, das von Schah Mohammad Reza Pahlavi durchgesetzt wurde), wo viele Freiheiten und Rechte sogar Frauen zugesprochen wurden. Frauen waren bis 1979 weitestgehend gleichgestellt, bis es hieß, dass eine islamische Regierung das ehemalige Regime übernehmen wird. Viele Aktivisten – auch linke Frauen und Männer – haben das unterstützt, oft ohne wirklich zu wissen wie das Leben in einem islamischen Staat ist. Sie haben blind mitgemacht. Natürlich ließ man zuerst verlautbaren, dass niemand dazu gezwungen werde einen Hijab zu tragen. Kaum waren sie jedoch gewählt, gab es Spezialeinheiten, die die Einhaltung der Scharia gewährleisten sollten - etwa die „Sittenwächter“ oder die „Pasdaran“.

Plötzlich verprügelte man Frauen, oder man bewarf sie mit Säure, wenn sie kein Kopftuch trugen. Das hatte natürlich zur Folge, dass viele aus Angst das Kopftuch getragen haben. Mir Hossein Mussawi, 1981 und 2009 iranischer Premierminister, ein angeblicher „Reformer“, hat damals ein Gesetz beschlossen, das die Kopftuchbekleidung nur noch in grauer, dunkelblauer, schwarzer oder brauner Farbe erlaubte. Ich kann immer noch nicht verstehen, wieso man sich von ihm Besserung erhoffte.

Sogol Ayrom berichtet David Kirsch über ihr Leben im Iran. Foto: Christopher Glanzl

Du hast erwähnt, dass die Menschen nach 1979 sehr viel Angst gehabt hätten. Gab es damals bereits Proteste gegen den Schleierzwang?

Am Anfang schon. Ich kann mich noch gut erinnern, dass sogar viele Frauen, die bereits vor 1979 das Kopftuch freiwillig trugen – da hatte man ja noch eine Wahl – gegen diesen Zwang mitprotestiert haben. Das hat allerdings nur Verhaftungen und noch mehr Unterdrückung hervorgebracht, weil  unsere Männer damals geschwiegen und nicht mitgemacht haben.

Du meinst, dass man die Frauen damals alleine gelassen hat?

Ja, sie wurden alleine gelassen. Jedoch gibt es seit jeher unter den iranischen Frauen einen starken Zusammenhalt. Das Regime hat es niemals geschafft sie völlig zu kontrollieren, weil die Frauen sich immer wieder auf verschiedenste Art und Weise gewehrt haben. Sie haben immer einen Weg gesucht – trotz des Hijabs – sich schick und modern zu kleiden. Die größte aktive Oppositionsgruppe im Iran waren immer schon die Frauen. Man hat ihnen schließlich die Möglichkeit genommen über ihr Leben zu entscheiden. So ist es auch Shirin Ebadi (Anm.: bekannte Menschenrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin) geschehen. Sie war vor 1979 Richterin, später hat man sie zur Anwältin herabgestuft.

Natürlich haben viele Frauen für ihre Arbeitsplätze und ihre Posten gekämpft, um weiterhin aktiv in der Gesellschaft mitzuwirken. Der Grund, wieso das Regime es nicht geschafft hat, den Iran in ein Land wie Saudi-Arabien umzuwandeln, war der Widerstand der Frauen.

Der Widerstand der Frauen ist also heute noch sichtbar, da diese immer wieder Wege finden, um sich dem Sittenkodex zu entziehen.

Das sind oft total ausgefallene Ideen. Die iranischen Frauen sind kreativ. Obwohl sie immer wieder erniedrigt, geschlagen und verhaftet werden, wenn sie erwischt werden. Sie nehmen all das trotzdem immer wieder in Kauf, weil sie sich einfach nicht den Mullahs beugen wollen. Bereits während der Grünen Bewegung (Anm.: Protestwelle im Iran 2009), als das 30-jährige Schweigen durchbrochen wurde, waren die Frauen in dieser Bewegung an vorderster Front.

Wie du schon erwähnt hast, schien es 2009 so, als wäre eine Art Umsturz im Iran möglich. Was lief damals schief?
Die Bewegung wurde von den westlichen Staaten alleine gelassen. Einerseits wurde der nicht weiter definierte Wunsch nach Veränderung - den diese Bewegung dargestellt hat -, so interpretiert als hätte man bloß gewollt, dass Moussawi die Wahl gewinnen sollte. In den Reihen der Protestierenden waren jedoch nicht nur Reformisten, sondern auch viele, die einen regime change forderten. Die breite Masse war bereit dieses Regime zu stürzen. Wenn ich mit vielen Leuten rede, die vor 5 Jahren mitdemonstriert haben, höre ich oft, dass diese es Moussawi nicht verzeihen, dass er ihnen befohlen hat, nach Hause zu gehen und Ruhe zu bewahren. Am 25. Bahman (Anm.: persische Bezeichnung für den Monat vom 21. Januar bis 19. Februar) hätten wir dieses Regime stürzen können. Die Bewegung dachte, Moussawi würde deren Rücken stärken, aber die Enttäuschung war sehr groß als er offiziell gesagt hat:  „Islamische Regierung kein Wort mehr oder weniger“.

Der Protest hat sich aber wieder gelegt, da das Regime diese Niederlage nutzte, um Zeit zu gewinnen und sich zu mobilisieren. Aber die Bewegung ist immer noch da. Bloß wollen diese Leute davon ausgehen können, dass die westlichen Staaten sie unterstützen und sie möchten wissen, wogegen sie auf die Straße gehen. Sie wissen aber, dass sie dieses Regime nicht weiter haben wollen. Es soll nicht wie damals 1979 sein, wo es nur darum ging, dass der Schah gehen solle und es egal war, was danach kommt. Das haben wir aus der Geschichte gelernt.

"Es soll nicht wie damals 1979 sein, wo es nur darum ging, dass der Schah gehen solle und es egal war, was danach kommt. Das haben wir aus der Geschichte gelernt". Foto Christopher Glanzl

Wie ist die gesetzliche Lage für Frauen heute und mit welchen Restriktionen haben sie zu kämpfen?

Im Iran sind die Gesetze grundsätzlich sehr frauenfeindlich. Als Frau ist man eine Bürgerin zweiter Klasse. Denn du kannst als Frau nicht einfach einen Pass bekommen, ohne dass dein Mann oder dein Vater dir dafür die Genehmigung erteilt. Auch im Scheidungsrecht werden Frauen stark benachteiligt. Beruflich ist es für Frauen sehr schwierig hohe Ämter zu bekleiden. Die Frauen geben aber nicht auf und im Iran gibt es einen sehr hohen Anteil an Studentinnen. Natürlich würden die Kleriker die Studentinnen am Liebsten nach Hause schicken, aber das können sie nicht einfach so machen.

Grundsätzlich verhält sich die iranische Jugend ja versteckt widerständig. Verbotene Dinge, die man tun möchte, muss man im Untergrund machen. Homosexuelle Jugendliche etwa, sind gezwungen ihre Homosexualität im Untergrund auszuleben. Es soll beispielsweise eine Art moderne Parallelgesellschaft in Teheran geben.

In iranischen Großstädten sind Frauen und Männer viel offener zueinander als in manchen Dörfern, in denen ja weniger Studierende leben. Umso höher der Bildungsgrad ist, desto geringer sind die Restriktionen, denen die Frauen unterworfen sind. Die iranischen Untergrundpartys, die du angesprochen hast, gab es bereits zu meiner Zeit. Wir mussten uns zu Hause treffen und wir wurden natürlich oft verhaftet. Aber das konnte uns nicht abhalten. Sobald wir aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, planten wir die nächste Party. Das Regime dachte bisher immer, dass die Kinder der Revolution die Wächter der Revolution bleiben würden. Man hat aber vergessen, dass durch das Internet die ganze Wahrheit ans Licht kommen kann, denn die iranische Jugend informiert sich. Ein Blick in das Fotoalbum der Familie reicht schon und es springen ihnen Fotos von ihren Eltern entgegen, die ein sicheres, freies und glückliches Leben hatten. Natürlich gab es auch früher nicht so viel politische Freiheit. Aber wenn man bedenkt, dass damals Leute im Gefängnis saßen, die als politische Gefangene galten und die heute in der Regierung sitzen - Khamenei, Rafsanjani – all die sollten meiner Meinung nach wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden. Für die meisten im Iran ist das, was sie jetzt erleben, einfach unerträglich und viele fragen deshalb auch vorwurfsvoll ihre Eltern: „Warum habt ihr eine Revolution gemacht?“ Die iranische Jugend sieht sich selbst als eine  „verbrannte Generation“.

Zurück zu deiner Frage: Ich kann mich noch daran erinnern, dass meine Nachbarn zwei homosexuelle Männer waren, die zusammen in einem Haus lebten. Man akzeptierte das. Die Akzeptanz der Homosexualität fand während der 1970er Jahre auch im Iran statt. Nach der Revolution war das jedoch gegen die islamischen Gesetze und wurde somit zu einem Hinrichtungsgrund. Deshalb flüchten Homosexuelle in den Untergrund. Momentan ist die Homosexualität immer noch ein Tabu im Iran. Das hindert jene Menschen aber nicht, sich dazu zu bekennen – nur müssen sie in der Öffentlichkeit dazu schweigen. In deren Familien und in den eigenen vier Wänden wird diese aber oft akzeptiert. 

Du meinst also, dass das Private der einzige selbstbestimmte und freigestaltete Raum im Iran ist?

Genau so ist es. Früher hat man sich in Cafes und Bars getroffen. Da man sich heute nicht mehr draußen treffen kann, passiert das alles in den eigenen vier Wänden.

Gehen wir in das Jahr 2013. Anlässlich der Wahl von Hassan Rohani zum Präsidenten des Iran hoffte man lange, dass dieser nun einige Veränderungen umsetzen würde. Was kann sich die iranische Frauenbewegung und die Jugend von ihm erwarten?
Warum Hassan Rohani an die Macht gekommen ist, hat einen einfachen Grund. Das islamische Regime hat gemerkt, dass seine Säulen wackelig sind. Ich bezeichne Rohani oft als einen schlauen Fuchs, der sich nach außen gut zu verkaufen weiß. Das Regime hat sich lediglich in der Darstellung geändert, nicht aber  im Inhalt. Die Zahl der Hinrichtungen, die in den ersten sechs Monaten der Präsidentschaft von Rohani durchgeführt worden sind, ist doppelt so hoch, wie jene während der letzten sechs Monate von Ahmadinejads Amtszeit. All die Wahlversprechen von Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit sind natürlich nicht eingehalten worden. Vor kurzem wurde eine iranische Zeitung geschlossen, weil ein Artikel in ihr Kritik an der Steinigung von Frauen geübt hatte und die Kleriker behaupteten, dass der Artikel gegen die islamischen Sitten verstoßen würde. Ich bin hinsichtlich Rohani sehr skeptisch. Meiner Ansicht nach hat das Regime nur einen Weg gefunden um seine wackeligen Säulen, die 2009 bereits beinahe am Stürzen waren, zu festigen. Mit dem kürzlich geschlossenen Atom-Abkommen mit dem Westen hat der Iran nun eine wohlwollende Presse bekommen. Meine Sorge sind aber die Frauen- und Menschenrechte, die im Iran so völlig außer Acht gelassen werden, dass man es nicht mehr nur als Menschenrechtsverletzungen abkanzeln kann, sondern als Verbrechen an der Menschlichkeit. Doch gerade auf diese wird vergessen.

Ein Freund von mir hat vor kurzem eine passende Anekdote für die momentane Situation geliefert: Das iranische Regime ist wie ein Zelt. In der Mitte gibt es eine Säule: das ist Ayatollah Khamenei. Es gibt viele verschiedene Säulen rundherum, die zur Instandhaltung der mittleren Säule dienen. Das können dann die Frauenrechte und der Kopftuchzwang, die Exekutionen, die Presse- oder Meinungsfreiheit sein. Was wir in den letzten 35 Jahren versucht haben, war die mittlere Säule zu attackieren. Nun versucht man die anderen Säulen, die das ganze Zelt halten, zum Einsturz zu bringen. Ich glaube, dass es zu einigen Änderungen kommen wird. Denn die Machthaber können nicht mehr ausschließlich die Hardliner-Linie nachverfolgen, schon alleine aus strategischen Gründen nicht. Die Menschen werden von einer Säule zur nächsten Säule wandern und am Ende wird von diesem Mullah-Regime nichts mehr übrig bleiben, weil die Menschen Säkularismus wollen. Das wird das Ende des Gottesstaates im Iran sein - und zwar für immer.

Wieso hat man im Westen einen dermaßen verzerrten Blick auf die islamische Welt? Trotz all der grassierenden Frauenfeindlichkeit in den muslimischen Ländern wird am Weltfrauentag der Iran kaum erwähnt.

Der Iran war vor 1979 ein säkularer Staat. Frauen hatten einen Platz in der Gesellschaft. Sie waren in dieser sogar sehr aktiv. Es gibt bereits seit langer Zeit eine Frauenbewegung im Iran. In anderen muslimischen Ländern, die von Anfang an muslimische Staaten waren, etwa Qatar, Saudi Arabien, Sudan, wurden die Frauenbewegungen von der Geburtsstunde der Nation an unterdrückt. In Ländern wie der Türkei, die eigentlich säkulare Staaten sind, in denen jedoch immer wieder die Islamisten die Oberhand gewinnen und dabei immer repressiver werden, wird auch die Frauenbewegung wieder stärker werden. Die Frauen werden aktiver und wehren sich gegen diese fundamentalistischen Gesetze wie etwa in Ägypten oder im Libanon. Nicht, dass die Frauen in anderen muslimischen Ländern nicht unglücklich wären und es gerne anders hätten. Sie haben allerdings kaum eine Möglichkeit ihre Stimme zu erheben. Der Westen sollte untersuchen, warum in diesen anderen Ländern keine Frauenbewegung entstanden ist. Es ist klar, der Islam, so wie er in diesen Ländern geführt wird, ist nun einmal eine frauenfeindliche Religion.

Sogol Ayrom ist immer ihren eigenen Weg gegangen. Selbst die iranischen Revolutionswächter konnten sie nicht einschüchtern. Foto: Christopher Glanzl

Du setzt dich ja bereits seit langer Zeit für Frauenrechte ein. Was kann ein politisch aktiver Mensch unternehmen, um die Frauenrechte im Iran zu stärken?

Ich setze mich allgemein für Menschenrechte ein. Aber dadurch, dass ich eine Frau bin, kann ich natürlich auch die Stimme meiner iranischen Mitbürgerinnen im Ausland sein. Was ich mir wünsche ist, dass dieser Kopftuchzwang verschwindet. Die Frau soll entscheiden, ob sie eines tragen möchte oder nicht. Dafür setzen wir uns ein. Vor kurzem habe ich ein Video gesehen, in dem eine junge Frau ohne Kopftuch auf der Straße gegangen ist. Das hat für Jubel gesorgt. Doch das traut sich noch kaum jemand. Aber wenn diese Tabus verschwinden, werden wir das häufiger sehen.

Zudem sind die Gesetze im Iran sehr frauenfeindlich und Frauen besitzen nur halb so viel Vermögenswerte wie ihre Männer. Im Falle einer Erbschaft bekommt die Tochter der Familie die Hälfte von dem, was der Bruder erbt. Frauen haben überhaupt keine Scheidungsrechte. Das bewirkt, dass viele Frauen in gewalttätigen Familien bleiben und keine Möglichkeit zur Flucht haben. Immer mehr Frauen bleibt nur die Prostitution als Ausweg, wenn die Eltern oder der Gatte verstorben sind. Denn es gibt keine Frauenhäuser im Iran und Frauen werden sehr leicht zu Drogenopfern. Das sind die Dinge, für die ich mich einsetzen möchte. Was wir aber alle können, ist sich gegen Unterdrückung einzusetzen, „nein“ zu sagen und unermüdlich für das, woran wir glauben, zu kämpfen!

 

David Kirsch studiert in Wien und schreibt auf exsuperabilis.blogspot.com

 

 

Antisemitische Kapitalismuskritik am Linzer "Burschenbundball"

  • 07.02.2014, 13:49

Am 8. Februar diesen Jahres propagieren deutschnationale Burschenschaften am Linzer Burschenbundball den Kampf gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ und „Entwurzelung“. Sämtliche Motive ihres reaktionären Antikapitalismus sind durchzogen von antisemitischen Stereotypen. Ressentimenthaltige Kapitalismuskritik ist jedoch keine Eigenheit des österreichischen „nationalen“ Lagers.

Am 8. Februar diesen Jahres propagieren deutschnationale Burschenschaften am Linzer Burschenbundball den Kampf gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ und „Entwurzelung“. Sämtliche Motive ihres reaktionären Antikapitalismus sind durchzogen von antisemitischen Stereotypen. Ressentimenthaltige Kapitalismuskritik ist jedoch keine Eigenheit des österreichischen „nationalen“ Lagers.

Jedes Jahr feiern deutschnationale Burschenschaften im „Palais des Kaufmännischen Vereins“ den sogenannten „Burschenbundball“. Er stellt damit neben dem Akademikerball (vormals WKR-Ball) für Antisemiten, Frauenfeinde und Rassisten sämtlicher Couleur eine der wichtigsten Festlichkeiten im Jahr dar. Maßgeblich verantwortlich für die Durchführung und Organisation der Feierlichkeiten zwischen Männerbündelei und Deutschtümelei ist die Burschenschaft Arminia Czernowitz, auf deren Homepage man gegen „egoistische Selbstverwirklichung“ ankämpft und sich in einer „staatenübergreifenden, deutschen (...) Volksgemeinschaft“ verwurzelt sieht.

Auf der Homepage des deutschnationalen Balls findet sich - neben einer Werbeanzeige der „Akademischen Burschenschaft Oberösterreicher Germanen“ - ein weiteres sehr typisches Motiv reaktionärer, antikapitalistischer Rhetorik: (siehe Bild) FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache wettert in einem Inserat gegen „Entwurzelung und Beliebigkeit“. Was aber meint diese Parole?

Antisemitische Kapitalismuskritik

Der Kampf gegen „Entwurzelung“ ist ein oft bemühtes Motiv antisemitischer Globalisierungskritik, das eine Rückkehr zum Natürlichen anstrebt und den Globalisierungsprozess aufgrund seiner internationalisierenden Tendenzen ablehnt. Nach dem Politmagazin „profil“ konnte man bereits 2003 in der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift der Freiheitlichen Partei Österreichs „Zur Zeit“ genauestens nachverfolgen, was sich dort der österreichische Ökonom Friedrich Romig, der das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes als „kommunistische Tarnorganisation“ titulierte und dafür wegen übler Nachrede teilweise schuldig gesprochen wurde, unter dem Begriff „Globalisierung“ versteht: „als Weg, auf dem das Judentum (...) weltweite Dominanz erlangt.“

In vorkapitalistischen Gesellschaften beruhte Ausbeutung auf einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis: der leibeigene Bauer etwa war an den Grundherren gebunden. Seit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im 19. Jahrhundert sind keine direkten, personengebundenen Abhängigkeitsverhältnisse mehr gegeben (wie etwa im Feudalismus). Es dominieren „unpersönliche“ und undurchschaubare Zwänge zur individuellen Sicherung des eigenen Lebensabends. Angesichts der krisenhaften, für die einzelnen menschlichen Existenzen oft tragischen Entwicklungen des Kapitalismus, kommt es zu immer neuen Formen von Personalisierungen der kapitalistischen Verhältnisse. „Personalisierungen“ meint, dass gesellschaftliche Strukturen auf das bewusste Wirken von einzelnen Personen zurückgeführt werden.

Der Antisemitismus ist also eine besondere Form der Personalisierung des Kapitalismus – und wurde in den „Rassetheorien“ des 19. Jahrhunderts beschrieben . Es wird „dem Juden“ per se eine ökonomische Orientierung an Geld und Gewinn zugeschrieben, die in ihrer Wesensart und somit in ihrer „Rasse“ wurzeln soll. Ebenso soll in ihnen ein unbedingter Wille zum Erstreben der Weltherrschaft schlummern. Zugleich erscheinen diese auch als übermächtig: Über Banken und Börse beherrschen sie die großen Unternehmen der Welt. Gleichzeitig gelten die Juden jedoch als „heimatlos“ und „entwurzelt“, aber mit weltweiten Verbindungen zu ihresgleichen.

Diese beiden Stereotypen führen konsequenterweise zur paranoiden Wahnvorstellung der „jüdischen Weltverschwörung“, der Antisemiten wie Romig verfallen sind. Diese Stereotypen finden sich am deutlichsten im wohl bekanntesten antisemitischen Pamphlet – den Protokollen der Weisen von Zion – das als einflussreiche Programmschrift antisemitischer Verschwörungsideologie gilt und 1929 im Parteiverlag der NSDAP publiziert wurde.

Brothers in Arms

Solche antisemitischen Wahngebilde kann man auch bei der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ feststellen. Jürgen Gansel, der seit 2004 Abgeordneter im Sächsischen Landtag ist und seine Magisterabschlussarbeit nicht zufällig über „Antikapitalismus in der konservativen Revolution“ schrieb, definiert die Globalisierung als das „planetarische Ausgreifen der kapitalistischen Wirtschaftsweise unter der Führung des Großen Geldes.“ Dieses habe, so zitiert man Gansel im Buch „Neonazis in Nadelstreifen“ von Andreas Speit und Andrea Röpke, „obwohl seinem Wesen nach nomadisch und ortlos, seinen politisch-militärisch beschirmten Standort vor allem an der Ostküste der USA.“

Diese Ausführungen enthalten freilich ein kaum verhülltes Bündel antisemitischer Stereotypen, wobei hier das Wort „nomadisch“ als Synonym für „heimatlos“ fungiert und die „Ostküste“ der USA ein Synonym für die jüdische Weltverschwörung ist. Das ehemalige SS-Mitglied Franz Schönhuber brachte 2002 in „Nation & Europa“ (Nr. 9/02) den Kern des antisemitischen Antikapitalismus auf den Punkt: „Die Fronten sind klar: Besorgte Menschen in der ganzen Welt von links bis rechts versuchen, sich im Kampf gegen die Globalisierung zu einigen. Sie wissen, was Globalisierung bedeutet, nämlich Amerikanisierung plus Judaisierung.”

Das deutlichste Beispiel für antisemitischen Antikapitalismus als Konnex linker und rechter Agitation ist Jürgen Elsässers „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“.  Das ehemalige Mitglied des Kommunistischen Bundes Jürgen Elsässer rief 2009 zur Gründung dieser auf, da sie ein „bewusster Angriff des anglo-amerikanischen Finanzkapitals“ sein sollte, den es abzuwehren gelte. Hauptaufgabe der Initiative sei „die entschädigungslose Nationalisierung des Finanzsektors“. Kurz nach der Gründung der Initiative ließ der damalige NPD-Vorsitzende Holger Apfel über den Pressesprecher der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag verlautbaren, die Volksinitiative solidarisch zu begleiten. 2010 brachte Elsässer, nach Ausschluss aus der linken Zeitung „Neues Deutschland“, in der er bisher publizieren durfte, ein eigenes Magazin namens „Compact“ auf den Markt. Seit August 2011 erscheint das Blatt in der Compact-Magazin GmbH, die dafür von Elsässer zusammen mit seinen Genossen Kai Homilius und Andreas Abu Bakr Rieger gegründet wurde.

Andreas Abu Bakr Rieger ist deutscher Konvertit, der 1990 zum „Jihad gegen die Marktwirtschaft“ aufrief,  und 1993 betörte, dass die Nationalsozialisten für eine „gute Sache“ gekämpft hätten, bei ihrem Hauptfeind allerdings „nicht ganz gründlich“ gewesen seien. Abu Bakr ist Herausgeber der „Islamischen Zeitung“ und hat – welch Überraschung – 2011 sein Buch „Weg mit dem Zins!“ im Kai Homilius Verlag herausgebracht. Neben Hans Modrow, dem Ehrenvorsitzenden der deutschen Linkspartei, ist auch der österreichische Historiker Hannes Hofbauer zu erwähnen, der für seine Tätigkeit als Chef des linken Promedia-Verlages bekannt ist und ebenfalls für „junge welt“, „analyse und kritik“ und das „Neue Deutschland“ schreiben darf.

Dass auch namhafte Linke in Elsässers Querfront-Blättchen schreiben, ist kein Zufall, hat sich doch beispielsweise auch die österreichische Sozialdemokratie dieses Gedankengut zu eigen gemacht. Alfred Gusenbauer, anno dazumal Vorsitzender der SPÖ, erklärte gegenüber dem „profil“ (Nr. 15/02) den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital für „überholt“: „Der wahre Widerspruch liegt heute zwischen dem Realkapital und dem Finanzkapital, also dem Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitnehmern einerseits und den Mechanismen der Finanzmärkte andererseits.“ Diesen personalisierenden Antikapitalismus kann man bereits bei den anti-marxistischen, anarchistischen Theoretikern wie Michail Bakunin sowie bei manchen Sozialdemokraten wie Ferdinand Lassalle erkennen, deren Theorie ebenfalls auf der Ebene der Zirkulation verharrt.

Die Vertreter des antisemitischen Antikapitalismus, ob sie sich nun rechts oder links sehen, haben also eines gemeinsam: Man unterscheidet zwischen dem produktiven, heimatverbundenen Industriekapitalisten und gierigen Finanzhaifischen mit kosmopolitischer Orientierung. Es ist die Unterscheidung zwischen „schaffendes“ und „raffendes Kapital“ in neuer Terminologie, wodurch man alte antisemitische Ressentiments im Stil des nationalsozialistischen Gottfried Feders bedient, der einst die „jüdische Zinsknechtschaft“ brechen wollte. Wie Stephan Grigat bereits 2009 in der „Wiener Zeitung“ vom 19.03.2012 feststellte, hinkt die FPÖ allerdings zumindest terminologisch noch etwas hinterher: Vor einigen Jahren noch bezeichnete man dort die grüne und linke Opposition in klassischer Nazidiktion als „Handlanger der Amerikaner“.

Wenn Heinz-Christian Strache also in diesen Tagen in einem Inserat gegen „Entwurzelung“ wettert, so darf jedenfalls kein Zweifel daran bestehen, wer damit gemeint ist: Der Jude als Personalisierung der kapitalistischen Ökonomie.

 

David Kirsch studiert in Wien und schreibt auf exsuperabilis.blogspot.com

 

Aktion und Reaktion bei der Wiener Refugee-Bewegung

  • 11.12.2013, 19:19

Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

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Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

Der dem Marsch zu Grunde liegende Anlass zum Protest und die daraus erwachsene Protestbewegung rund um die „Besetzung“ der Votivkirche war eine Einzigartigkeit der österreichischen Asylrechtsgeschichte. Zum ersten Mal machten österreichische Flüchtlinge auf die barbarischen Zustände, denen sie ausgeliefert sind, weitestgehend eigenständig aufmerksam. Sie versuchten so einerseits ihrer Wut über den täglichen Spießrutenlauf durch die oftmals unergründlichen Wege der österreichischen Asyljudikatur Ausdruck zu verleihen, andererseits versuchten sie mittels später ausformulierten politischen Forderungen konkrete Veränderungen herbeizuführen.

Kaum jemand hätte wohl zu diesem Zeitpunkt eine solche Welle an darauffolgenden Ereignissen erwartet. Vielmehr rechnete man in den Kreisen der UnterstützerInnen und direkt Beteiligten mit einem baldigen Erschlaffen des Protests, da bisher von zivilgesellschaftlicher Seite vergleichsweise geringes Interesse an einer Thematisierung der menschenunwürdigen Zustände in Asylheimen bestand. Bei einer genaueren Untersuchung asylrechtlicher Sachverhalte in der österreichischen Medienlandschaft als auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen konnte man erkennen, dass etwa Stellungnahmen und Aufrufe zum Protest sich bisher meist auf eine sehr oberflächliche und plakative Behandlung dieser Thematik beschränkten. Bloß zu tatsächlich "massenfähigen" Anlässen mobilisierte man zu Demonstrationen (wie etwa im Falle der in den Kosovo "auszuweisenden" Arigona Zogaj), jedoch nicht um eine grundlegende Skandalisierung der menschenunwürdigen Zustände zu leisten. Dies änderte sich jedoch mit dem Aufflammen des Flüchtlingsprotests dramatisch, der Protest war weitestgehend "in aller Munde".

Anfängliches Desinteresse
Die österreichischen Medien zeigten von Beginn an flächendeckendes Desinteresse oder betrieben Faktenhuberei; der Kurier versuchte gar den Protest als ein von außerhalb gelenktes Ereignis zu brandmarken, in dem eine dubiose Gestalt in Form eines bayrischen „Linksaktivisten“ (1) als alleiniger Strippenzieher herhalten musste. Damit sollte der Protest der Flüchtlinge, der bereits Forderungen nach vollem Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit beinhaltete, delegitimiert werden.
Die „Flüchtlingsbewegung“ war anfänglich eher ein Sammelsurium verschiedenartiger, gemeinsam agierender Gruppierungen. Um auf die menschenunwürdigen Zustände aufmerksam zu machen, errichtete man ein Zelt-Lager im Sigmund-Freud-Park. Jedoch provozierte dies sehr bald gezielte Aktionen der Wiener Polizei, die sich in erster Linie gegen dort ansässige AsylwerberInnen und UnterstützerInnen richteten. Fortan wurde den Protestierenden klar, dass das Zeltlager bloß von kurzer Lebensdauer sein würde und so suchten etwa 20 Asylwerber Zuflucht in der Votivkirche. Derjenige, der von einer „Besetzung“ der Votivkirche überhaupt erst sprach, war der Pfarrer der Kirche, der sich ganz und gar nicht solidarisch zeigte und sich später durch gewisse Feindseligkeiten gegenüber den Geflüchteten bemerkbar machte: etwa durch die Weigerung, die Flüchtlinge aus der Kirche zu lassen und durch den Versuch das Betreten der Kirche zu verhindern.
Die Flüchtlinge forderten zu dem Zeitpunkt unter anderem grundlegend menschenwürdigere Zustände in den Lagern, einen freien Zugang zur staatlichen Grundversorgung für alle AsylwerberInnen unabhängig von ihrem Rechtsstatus, die Leistungen (darunter: Mietzuschuss, Verpflegungsgeld und Krankenversicherung) beinhalten, welche de jure schutzbedürftigen AsylwerberInnen zustehen und einen Austausch sämtlicher Dolmetscher in Traiskirchen, da diese oftmals sprachlich unqualifiziert sind und kaum in der Lage sind die AsylwerberInnen präzise genug zu verstehen.

Bis März dieses Jahres verweilten die Flüchtlinge in der Votivkirche, bis man sich darauf einigte in das Servitenkloster umzusiedeln.
Die Caritas diente in der Zeit ab der Besetzung der Votivkirche maßgeblich als Verhandlungsteam zwischen den Refugees und dem österreichischen Staat. Der Aufenthalt der Protestierenden in der Votivkirche war jedoch von mehreren Repressalien und Einschüchterungsmethoden geprägt, die allesamt das Ziel hatten den Protest zu unterbinden und ihn zu delegitimieren.

Repression
Am 28. Februar ereignete sich ein Treffen zwischen Flüchtlingen und ihren UnterstützerInnen mit mehreren Vertretern der Kirche in einem Café unweit der Votivkirche, bei dem angeblich auch Shahjahan Khan anwesend gewesen sein soll. Shahjahan Khan war zu diesem Zeitpunkt einer der federführenden Akteure und Sprecher des Protests. Vermutlich am Weg zurück zur Votivkirche, war Shahjahan Khan in einer Gruppe anderer Illegaler unterwegs gewesen. Einige ZivilpolizistInnen erblickten ihn, umzingelten ihn in Folge dessen und führten ihn ab.
Es war kein Zufall, dass Shahjahan Khan Zielscheibe der polizeilichen Repression wurde: Shahjahan Khan war nicht nur ein Sprecher der in der Votivkirche Protestierenden, er war auch einer der schärfsten Kritiker des Wiener Polizeiwesens, der in einer Presseaussendung vor 2 Tagen, anlässlich der Verhaftung eines anderen, illegal aufhältigen Fremden, der auf selbige Art und Weise festgenommen wurde, schrieb:

“We want to negotiate, but the police threatens us. We are being surveilled, stopped and checked in front of the church with increasing frequency, without having done anything. Often by undercover officers, who don’t reveal their identity to us. Worst of all is, that one of us has been arrested and taken away by the police and that we still don’t know, what happened to him.” (2)

Was sich liest wie das Drehbuch eines miesen Krimis, schien sich sehr bald als Strategie der österreichischen Exekutive herauszukristallisieren, um den Flüchtlingsprotest aus dem Zentrum der medialen Aufmerksamkeit zu drängen: Einschüchterung mittels repressiver Methoden gepaart mit innenpolitischer, medialer Delegitimation.

Am 29. Juli – 4 Monate waren seit dem „Umzug“ in das Servitenkloster vergangen – wurden acht pakistanische Asylwerber, die allesamt in die Besetzung der Votivkirche involviert gewesen waren, im Rahmen einer polizeilichen Aktion, in den sicheren Tod abgeschoben. "Weil wir Refugees auch Pakistan und die Taliban in den Medien kritisiert haben, werden uns die Geheimdienste schon am Flughafen erwarten, einsperren und wie Kriminelle behandeln. Sie werden uns töten", sagte Shahjahan Khan. (3)

Die österreichische Judikative wandte hierbei - wie bereits in der Vergangenheit - bemerkenswerte, extralegale judizielle Methoden an. Der Verhaftung der acht Refugees war die Verhängung des „gelinderen Mittels“ vorausgegangen, die mittels eines Bescheides erfolgte, der am 23. Juli erlassen wurde. In diesem Bescheid war sich die Fremdenpolizei also noch einig, dass die Schubhaft noch nicht erforderlich sei, da die „tägliche Meldung“ bei einer Polizeistation ausreiche. Selbst dieser Bescheid war bereits rechtswidrig gewesen, da die Fremdenpolizei sie damit begründete, sie müsse „den aktuellen Aufenthaltsort von amtsbekannt rechtswidrig aufhältigen Fremden“ kennen.  Der amtsbekannte Aufenthaltsort war aber kein anderer als das Servitenkloster gewesen, sodass schon für die Verhängung der täglichen Meldung keine Veranlassung bestand und der Bescheid selbst nichts als eine polizeistaatliche Drangsalierung darstellte.
Ebenfalls bemerkenswert war, dass das Bundesministerium für Inneres die bedrohliche Sicherheitslage für sich in Pakistan Aufhältige gar nicht erst geleugnet hatte, sondern selbst eine Reisewarnung auf der offiziellen Homepage ausschrieb. (4) Auf die Frage jedoch, ob Innenministerin Johanna Mikl-Leitner garantieren könne, dass einem der Asylwerber in Pakistan nichts passiert, fiel ihr bloß folgendes ein: „Ich kann auch nicht garantieren, dass einem Asylwerber in Österreich ein Verkehrsunfall passiert, genauso wie ich das bei einem Österreicher oder einer Österreicherin nicht garantieren kann.“ (5)
Im Laufe dieses Montags wurde also acht jungen Existenzen ein jähes Ende bereitet, indem man sie beispielsweise in die Terror-Provinz Khyber Pakhtunkhwa abschob - der Ort an dem sich einst Osama Bin Laden verschanzen konnte - oder auch in das Swat Tal, wo der Zimmernachbar von einem der Abgeschobenen erst vor Kurzem seinen Bruder durch eine gezielte Tötung der Taliban verloren hatte.

 

Delegitimation
Es war nicht der erste Schlag gegen die Flüchtlingssolidarität - und es sollte auch nicht der Letzte gewesen sein, in dem die Innenministerin eine tragende Rolle spielen sollte.
Mittels einer gezielten medialen Delegitimationskampagne versuchte man am darauffolgenden Tag, dem 30. Juli, einige Refugees in die Nähe von Schlepperei und Menschenhandel zu rücken um die Solidaritätskampagne mit den Flüchtlingen so in ein schlechtes Licht zu rücken.

Wegen Verdachts der Schlepperei wurden sechs weitere Personen, drei davon im Servitenkloster, festgenommen. Sie sollen einer großen kriminellen Organisation angehören, die mindestens 300 Schleppungen von vorwiegend pakistanischen Staatsbürgern organisiert und durchgeführt haben soll, welche von Kleinasien über die sogenannte "Balkanroute" nach Österreich und in den EU-Raum erfolgt sein sollen." (derstandard.at, 31. Juli 2013)

"Schwere Vorwürfe gegen drei pakistanische Asylwerber aus dem Servitenkloster. Azhar I., Ali S., und Sabtain S. wurden am Dienstag in der Nähe des Klosters verhaftet. Die drei Pakistani sollen in den letzten Monaten (...) bis zu 10.000 Euro kassiert haben, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaften Wien und Wiener Neustadt. Insgesamt soll die Truppe 10 Millionen Euro verdient haben." (ÖSTERREICH, 31. Juli 2013, Printausgabe)

Dass die Vorwürfe haltlos waren und dies lediglich ein Versuch des Innenministeriums war, der Solidarität, die in den Tagen rund um den 29. Juli ihren Höhepunkt fand, einen Schranken vorzuschieben, zeigte sich letztendlich dadurch, dass die Staatsanwaltschaft selbst die konstruierten Vorwürfe, die Inhumanität und Folter inbegriffen, widerlegten und zurückwiesen.

"Diese Vorwürfe sind nicht Gegenstand unseres Ermittlungsverfahrens. Wir kennen das nur aus den Medien", sagen Thomas Vecsey und Erich Habitzl, die Sprecher der Anklagebehörden Wien und Wiener Neustadt. Auch die laut Polizei gescheffelten "zehn Millionen" (in manchen Stellungnahmen war von drei Millionen die Rede) sind, wie die Gerichtsakte zeigt, nicht Akteninhalt, sondern nur zugespitzte polizeiliche Schätzungen.
Einem Bericht des Falter zufolge finden sich im Gerichtsakt weder Hinweise auf Millionenbeträge, die die Wiener Beschuldigten laut Innenministerium kassiert haben sollen, noch auf Gewalthandlungen, von denen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach. Sie hatte etwa in einem Interview mit dem KURIER gemeint, der Schlepperring würde "äußert unmenschlich" agieren: "Wenn es etwa Probleme mit schwangeren Frauen auf der Schlepper-Route gab, dann wurden diese Frauen hilflos auf der Route zurückgelassen." (6)

Dass staatliche Behörden seit jeher versuchen, unliebsame Proteste zu kriminalisieren und delegitimieren, konnte man bereits angesichts der Flüchtlingsproteste in Würzburg und München beobachten.
Auch im postnazistischen Österreich geht es brutaler zu als im allgemeinen kapitalistischen Normalvollzug , denn auch hier herrscht ein grundlegend anderer Umgang mit Migration und Asyl als etwa in "republikanisch" verfassten Staaten, an deren Basis nicht das Prinzip der "Blutsverwandschaft" steht, sondern das ius solis. Während beispielsweise in den USA (nicht nur kandidierende) Präsidenten verlautbaren, dass es sich um eine "nation of immigrants" (Obama) handele, so scheint dies in Staaten wie Österreich, in denen selbst im Lande geborene MigrantInnen stets versöhnlich als "Austro-Türken" bezeichnet werden und nicht etwa als vollwertige Österreicher angesehen werden, als undenkbar.

Allerdings ist der Vorgang der Asylabwehr in Österreich und Deutschland ein anderswertiger: er beschränkt sich nicht nur auf die klassischen Abwehrformen politisch-ökonomischer Facon (etwa die Verhärtung asylrechtlicher Normen um anhand ökonomischer Argumentation Einwanderung einzuschränken), sondern gedeiht hier ein Verhalten, das nur durch den Postnazismus erklärt werden kann. So fungiert das Ressentiment gegen Migration und Einwanderung in Österreich und Deutschland als parteiübergreifendes Scharnier zwischen einander eher verfeindeter Gruppen. Denn das Bild, das der Wahlkampf anlässlich der diesjährigen Nationalratswahl zeichnete, war nicht das eines kollektiven Rutsches nach ,Rechts‘, sondern vielmehr das Abbild eines Österreichs, in dem ehemals als ,extrem‘ titulierte Parteien nicht mehr ausschließlich Klientelpolitik betrieben, sondern sich durch modifizierte Positionspapiere einander annäherten. Von Efgani Dönmez bis Heinz Christian Strache war man sich einig, dass die Flüchtlinge zwar Mitleid verdient hätten, man allerdings den eigens erschafften unmenschlichen Gesetzen Folge leisten müsste. (7)

So hätte es jedem aufmerksamen Verfolger der Proteste zumindest denkbar erscheinen müssen, dass es sich auch bei den sich in Wien ereignenden polizeilichen und ministeriellen Aktionen gegen die Flüchtlingssolidarität, um nichts anderes als einen derartigen Versuch gehandelt hatte: unliebsamen Protest mittels gezielten asylrechtlichen, strafrechtlichen und fremdenpolizeilichen Aktionen ein für alle Mal den Garaus zu machen. (8)

 

-David Kirsch

 

Anmerkungen:

(1) http://kurier.at/chronik/wien/hausverbot-fuer-linksaktivisten/2.301.992
(2) http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/02/25/fluchtlinge-aus-der-votivkirche-kritisieren-bedrohung-durch-die-polizei/
(3) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(4) http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/pakistan-de.html
(5) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(6) http://kurier.at/politik/inland/servitenkloster-fluechtlinge-ermittlungsakt-relativiert-schlepper-verdacht/21.850.377

(7) Siehe meine Untersuchung zum parteiübergreifenden Ressentiment gegen Asyl in Österreich in der UNIQUE/04:

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3123

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3901
(8) Siehe dazu auch meine eigenen zeitgleich erschienen Einschätzungen und Studien zu den einzelnen Vorfällen:
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/02/zu-den-polizeilichen-aktionen-vorfallen.html,
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/07/erinnert-sich-noch-jemand-den-27-mai.html