Cengiz Kulaç

Protest, Spektakel und Verschwörungstheorien

  • 20.09.2012, 00:57

Die USA sind besetzt – und Tausende demonstrieren seit September für soziale Gerechtigkeit. Doch wer sind die BesetzerInnen eigentlich und was wollen sie? Ein kritischer Blick auf Occupy Wall Street, direkt aus Downtown Manhattan.

"Mic check“, schreit jemand in die Menge. Ein lautes Brüllen und „mic check“ schallt es zurück. Damit ist der provisorische „Soundcheck“ abgeschlossen. Technik nützt nichts am Zuccotti Plaza, nahe der New Yorker Wall Street. Mikrophone und Lautsprecher wurden polizeilich untersagt, also wiederholt die Menge das Gesprochene. Mitten drinnen steht eine der Ikonen der Anti-Globalisierungsbewegung: Naomi Klein. Alles ist bereit für ihren Auftritt. „Ich liebe euch“, repliziert die Menge ihre Worte. Die Journalistin und Autorin (No Logo, The Shock Doctrine – The Rise of Desaster Capitalism) wartet nicht mit viel Neuem auf. Sie ruft: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Mit „ihr“ ist dabei jenes „eine Prozent“ gemeint, das laut Klein die „globale“ Krise verursacht habe. Dem stellt sie den Leitgedanken der Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ entgegen: Das reiche eine Prozent würde die Krise nutzen, um sich noch mehr zu bereichern und seine Wunschliste – von der Privatisierung der Bildung bis zum Gesundheitssystem – durchzusetzen. Aber: Nun gäbe es glücklicherweise 99 Prozent, die sich dies ab sofort nicht mehr gefallen ließen. „Was heute anders ist als 1999 in Seattle: Damals griffen wir den Kapitalismus auf der Höhe eines Booms an. Heute zum Zeitpunkt der Krise“, erklärt sie den Protestierenden. Es gelte, die Gelegenheit zum Protest zu nutzen – wie 1999 bei den Protesten gegen G8 in Seattle.* Aber nicht nur Klein sprach ihre Solidarität aus. „Star-Philosoph“ Slavoj Zizek, Skandalpublizist Michael Moore, Hollywood-Linke Susan Sarandon – alle kamen sie und sprachen am Liberty Plaza in New York, dem Herzen der Occupy Wall Street-Bewegung.

Protest-Accessoirs. Von Boston bis Chicago, von Los Angeles bis Miami von Minneapolis bis Portland sprossen weitere Besetzungen aus dem Boden. Der Protest macht sich in den gesamten USA breit. Seit dem 17. September, dem „Constitution Day“, werden Sit-ins, Teach-ins, offene Foren, Kundgebungen, Demonstrationen, Besetzungen organisiert. Ein unüberschaubares Mischmasch aus AnarchistInnen und anderen „linken“ Gruppierungen, kleineren Gewerkschaften, Parteien wie der Revolutionary Communist Party oder den US-Grünen – jedoch primär eine Masse an erstmals aktiven „Unzufriedenen“ bringt sich in den Protest ein. Zeitungen, Flugblätter, Buttons und all die bekannten Protest-Accessoirs – sogar eine People‘s Library – sind vorhanden. Und während das Plenum tagt, geben sich einige Meter weiter die karnevalesken TrommlerInnen frenetisch, ja fast ununterbrochen, ihren Rhythmen hin. Doch wer sind die AktivistInnen? Es ist die selbsternannte „Mittelschicht“, die sich durch die vorherrschende Politik des Landes bedroht fühlt. Dazu Diana Levinson, deklarierte Demokratin: „Jungen Menschen wird die Zukunft geraubt, die Wirtschaft ist in Amerika außer Kontrolle geraten und hat die Mittelschicht zerstört.“ Eine andere Aktivistin fasst den Protest so zusammen: „Die Leute haben es satt, es braucht eine Umverteilung des Reichtums, wir haben die Mittelschicht verloren, Studierende können ihre Ausbildungskosten nicht mehr zurückzahlen, HausbesitzerInnen ihre Hypotheken.“ Wer aber konkret diese Mittelschicht ist, bleibt offen – insbesondere, weil sich jedeR als Mittelschicht bezeichnet.

Kritik an der Protestbewegung. Kritik kommt nicht nur von konservativer Seite. So äußert sich die marxistische US-Theoriegruppe The Platybus Affiliated Society kritisch gegenüber Occupy Wall Street. Diese, kurz Platybus genannt, hat mehrere Versuche gestartet, vor Ort zu intervenieren. Parallel zu zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Lesekreisen reagiert die Gruppe mit öffentlichen Diskussionen auf die Proteste. Laurie Rojas von Platybus New York etwa wünscht sich mehr konkrete Kritik. „In der Bewegung besteht eine begrenzte Sichtweise auf die Natur des Kapitalismus“, stellt sie fest. „Occupy Wall Street stellt aber auch eine neue Möglichkeit für die Linke dar.“ Rojas und Platybus sehen allerdings grundlegendere Probleme als die meisten der BesetzerInnen und konstatieren „eine sichtliche Schwäche der Linken“. Die Analyse dieser Schwäche könne aber nicht nur an den letzten Jahren festgemacht werden, sondern müsse eine Untersuchung der gesamten Geschichte der Linken bilden. Ross Wolfe, ebenfalls von Platybus, kritisiert in seinem Blog The Charnel-House: „Das endlose Trommeln, pseudo-tribale Tanzen und Singen, wiederholende Slogans („this is what democracy looks like“ und andere populistische Banalitäten), vorhersehbare Plakate, schwarze Halstücher, anarchistischer Chic – all das riecht ein bisschen zu viel nach dem, was nur zur normalen orgiastischen Post-Neue-Linke-Party- und Protestkultur wurde.“

Die Occupy-Bewegung bildet außerdem keine Ausnahme, was klassisch und vermeintlich „linke“ Verschwörungstheorien, Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik angeht. Die Krux beim Protest gegen den Kapitalismus ist, dass er sich oftmals nicht gegen das gesellschaftliche System Kapitalismus wendet, sondern sich Einzelpersonen als vermeintliche Sündenböcke herausnimmt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits primär die „Zerstörung“ der undefinierbaren Mittelschicht anstatt sozialer Verhältnisse kritisiert werden und auf der anderen Seite „Börsenspekulanten“, Banker und die sogenannten ein Prozent als Verantwortliche an den Pranger gestellt werden. Als „links“ betitelter Protest kippt dann leicht in antisemitische Stereotype, die auch schon die Nazis gegen „die Juden“ bemühten. Stereotype wie die Vorstellung vom „parasitären Finanzkapital“ sind Standard-Repertoire von Antisemitismus, und werden oftmals frisch verpackt in der Occupy- Bewegung artikuliert. Wenn es darum geht, den „corporate Greed“, die Gier, an den Pranger zu stellen, wie dies bei Occupy Wall Street der Fall ist, folgt dann auch meist der Fingerzeig auf bekannte UnternehmerInnen und BankerInnen, wie den Präsidenten von Goldman-Sachs, Lloyd Blankfein. Offen bleibt ohnehin auch die Frage, warum die Wall Street als Zentrum allen Übels dargestellt wird und nicht der Kapitalismus an sich. Auch „die Politik“, also Barack Obama, der gefallene Held vieler Occupier, die Demokratische Partei oder die Republikanische Partei und die ultra-konservative Tea-Party, sind nur Ziele zweiter Wahl. Naomi Klein schlägt vor: „Kümmert euch nicht um die Demokratische Partei.“ Um es mit dem inflationär gebrauchten Präfix „post“ zu sagen: Im Zeitalter der Postdemokratie, eines zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus, ist man eben post-politisch, post-anarchistisch. Man hat das ganze Politikspiel satt, fordert nicht und fordert niemanden heraus, will sich die Welt selbst organisieren und mimt eine zeitgenössische Form von „going west“: Nur in diesem Fall mitten in Downtown Manhattan. Konkrete Kritik ist politisch und was politisch ist, will man nicht. Man ist gegen Gier, Korruption und Ungleichheit. Wie dies alles entsteht, ist aber nicht die Frage. Spekulationen, wer dafür verantwortlich ist, rücken ins Zentrum der Auseinandersetzung. Antisemitische Untertöne bis hin zu offenem Antisemitismus finden in einem solchen Umfeld leicht Platz: von Plakaten wie „Hitler‘s Banker – Wall Street“, diversen antisemitischen bis verschwörungstheoretischen Kommentaren auf Webseiten und Bildern eines aufgespießten Lloyd Blankfein.

Lippenbekenntnisse. Seth Weiss von der Marxist Initiative kritisiert den laschen Umgang mit den vom Plenum beschlossenen „Prinzipien der Solidarität“, welche unter anderem die „Bestärkung untereinander gegen jede Form von Unterdrückung“ miteinschließt. Darüber hinaus halte sich die Linke davon ab, „eine Vision einer befreienden Alternative zum Kapitalismus und seiner Schrecken“ zu entwickeln. Wenngleich sich dennoch zeigt, dass diese Bewegung keineswegs antisemitisch sein will, so zeigt sich genauso, dass ihr dabei die genaue Auseinandersetzung fehlt. Somit verwundert es auch nicht, dass die dringende Frage des Umgangs mit und der Abgrenzung von antisemitischen Elementen unbeachtet im Raum steht. Die Antwort bleibt als Schuld verbucht. „Das Plenum und alle UnterstützerInnen der Wall-Street-Besetzung würden besser daran tun, mehr als ein Lippenbekenntnis dazu abzugeben“, sagt Weiss.

Repression und Repetition. Der Protestalltag birgt bei all dieser notwendigen Reflexion auch praktische Probleme, Grenzen und Gefahren sowie die Frage nach Strategien. Die Protestbewegung ist mit der härtesten Repression seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg konfrontiert. Von großangelegten Pfefferspray- und Prügelaktionen durch die Exekutive, Massenverhaftungen bis hin zu brutalen Auflösungen von Besetzungen und Demonstrationen. Die Besetzung im Zuccotti-Park wurde erst im November durch die Polizei aufgelöst. Der Winter kommt, die Proteste schwächeln. Vielleicht war es nur das repetitorische Erwachen der „Linken“, die sich mehr schlecht als recht als symbolische Figur am Leben erhält – ein bisschen nach dem Vorbild der britischen Monarchie: „The left is dead, long live the left“, wie ein Plakat von Platybus New York es ausdrückt? Doch im November 2012 sind PräsidentInnenschaftswahlen und die Zeichen deuten auf heiße Zeiten. Fix ist dabei jedenfalls: Die öffentliche Diskussion hat sich hin zur sozialen Frage verschoben – und das in einem Land, in dem mehr als in jedem anderen persönlicher Erfolg und Scheitern privatisiert sind und einzementiert scheinen. Und das markiert dann doch einen Erfolg der Bewegung.

Der Autor studiert Jus an der Uni Graz und lebt derzeit in New York.

* Im Dezember 1999 kam es am Rande der Welthandels-Konferenzin Seattle zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei – viele betrachten diese Demonstration als Geburtsstunde der zweiten Welle der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Die Konferenz konnte aufgrund des Protestes nicht abgehalten werden.

Von mysteriösen Mächten verfolgt

  • 13.07.2012, 18:18

Moishe Postone im PROGRESS-Interview über Straches „Wir sind die neuen Juden“-Sager am WKR-Ball, Opfermythos und Antisemitismus.

Moishe Postone im PROGRESS-Interview über Straches „Wir sind die neuen Juden“-Sager am WKR-Ball, Opfermythos und Antisemitismus.

Am 27. Jänner 2012 – dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung von Auschwitz – luden Wiener Burschenschaften in die Hofburg, um das Tanzbein zu schwingen. Doch der Ball des Wiener Korporationsrings ist mehr als nur eine Tanzveranstaltung, er ist Dreh- und Angelpunkt zur Vernetzung von Rechtsextremen und Neo-Nazis in Österreich und ganz Europa. PROGRESS sprach über den Strache-Sager und typisch österreichische Kontinuitäten nach 1945 mit Moishe Postone, Professor an der University of Chicago. Ein hintergründiger Bogen von Antisemitismus, falsch verstandenem Antikapitalismus, TäterInnen-Opfer-Umkehr, bis hin zur Bedeutung von Auschwitz.

progress: Über Heinz-Christian Straches Aussage „Wir sind die neuen Juden“ wurde in den österreichischen Medien ausführlich berichtet. Es hagelte Kritik, aber Tiefgang fehlte. War das nur ein einmaliger „Ausrutscher“ oder steht das für eine Kontinuität in Österreich und Deutschland nach 1945?

Moishe Postone: Seit 1945 haben sich Rechte in Österreich und Deutschland auf unterschiedliche Art und Weise als Opfer dargestellt. Denn Österreich hat ja den wunderbaren Mythos, das erste Opfer des Nationalsozialismus, und dann Opfer der Besatzung gewesen zu sein. Aber auch die Deutschen fühlten sich als Opfer der Bombardierungen und der Teilung des Landes in BRD und DDR. Wenn die österreichischen Neo-Nazis und Burschenschaften nun sagen, sie seien „die neue Juden“, sagen sie damit: Wir sind die Opfer. Dabei ist es wichtig, festzuhalten: Das sieht zwar aus wie eine Umkehrung, ist es aber nicht. Denn Antisemitismus selbst basiert auf dem Glauben der Menschen, dass sie von mysteriösen Mächten verfolgt werden, die sie dann mit den Juden gleichsetzen. In diesem Sinne besteht eine Kontinuität auf einer tiefliegenden Ebene zwischen Nazi-Antisemitismus und einem Opfermythos Österreichs und Deutschlands – noch bevor sie sich mit Juden gleichsetzten.

Damit findet ein Austausch der TäterInnen- und der Opferrolle statt?

Ja, allerdings setzt Antisemitismus Juden immer mit Tätern gleich.

Sie schreiben, „Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des Wertes ..., das Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu befreien“. Sie setzen damit Antisemitismus und Kapitalismus in Bezug. Könnten Sie das weiter ausführen?

Ja, ich habe auch in meinem Aufsatz geschrieben, der Antisemitismus sei eine fetischisierte Form von Antikapitalismus. Das haben viele missverstanden. Denn ich sage damit nicht, die Nazis seien auf dem richtigen Pfad gewesen. Sondern nationalsozialistisches Denken ist eine Reaktion auf den Kapitalismus, die auf fundamentalem Unverständnis gegründet ist. Denn das Faktum, dass man gegen etwas ist wie Kapitalismus, macht diese Gegnerschaft ja noch nicht progressiv. Es kann sie auch reaktionär und mörderisch machen.

Also ist es eine rückschrittliche Form des Antikapitalismus?

Es ist vielmehr eine Verschiebung, eine verschobene Form des Antikapitalismus. Denn anstelle eines post-kapitalistischen, deutet der Nationalsozialismus auf die Utopie eines post-jüdischen Universums. Man glaubt: Gäbe es keine Juden, die Welt wäre heil.

Ist es dann richtig zu sagen, Juden und Jüdinnen hatten keinen Wert für die Nazis?

Nein, ich würde diese Problematik mit Marx betrachten und eher das Gegenteil behaupten. Was die Nazis glaubten zu vernichten, indem sie die Juden umbrachten, waren jene Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx mit dem Wert assoziiert. Marx sagt, dass die grundlegende Form der kapitalistischen Gesellschaft, die Ware, einen Doppelcharakter hat, einen konkreten und einen abstrakten. Im Weltbild des NS werden Juden und Jüdinnen zur Verkörperung des Abstrakten, und die Deutschen zu Repräsentanten des Konkreten, des Gebrauchswerts. Das Abstrakte, den Wert, will man dann auslöschen. Auch daran erkennt man, dass es widersinnig ist, Nazis als antimodern zu bezeichnen. Sie haben sich sehr positiv auf Technologie bezogen, weil Technologie für sie konkret war.

Das heißt, die JüdInnen wurden der konkreten, produktiven Arbeit gegenübergestellt?

Ja. Im Gegensatz dazu wurden Juden und Jüdinnen zu Parasiten erklärt. Sie stehen für die Finanzwelt. Gleichzeitig wurden sie aber auch mit Bolschewisten identifiziert. In beiden Fällen wurden sie als abstrakt, als Kosmopoliten gesehen, die wurzellos sind. Darin zeigt sich eine primitive Form des Antikapitalismus. Anstatt die Warenform zu begreifen, wird nur die abstrakte Dimension gesehen, ähnlich wie bei Pierre-Joseph Proudhon im 19. Jahrhundert, der das Geld abschaffen wollte. Sein Verständnis des Kapitalismus und sein Antisemitismus sind aufs Engste verbunden.

Die Niederlage der K.u.k.-Monarchie im ersten Weltkrieg verbunden mit sozio-ökonomischen Veränderungen führte ja damals in Österreich zur Zunahme von Antisemitismus. Wie hat sich das weiter ausgewirkt?

Man erinnere sich, dass knapp ein Viertel der Einwohner Wiens Juden waren. Neben Budapest lebten hier die meisten städtischen Juden in Europa – mehr als in Berlin. Bis die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, war der Antisemitismus in Österreich stärker als in Deutschland. Der frühere Oberbürgermeister von Wien, Karl Lueger, ist dafür ein gutes Beispiel. Hitler bewunderte ihn sehr, und doch ist noch immer die Straße vor der Universität Wien nach ihm benannt.

Zur Person: Moishe Postone (*1942) ist Historiker an der University of Chicago und Teil des Committee on Jewish Studies. Er war Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und promovierte 1983 an der Frankfurter J. W. Goethe Universität. Bekannt wurde Postone im deutsch- sprachigen Raum insbesondere durch seinen offenen Brief an die deutsche Linke und seinen Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus - Theoretischer Versuch.

Protest, Spektakel und Verschwörungstheorien

  • 13.07.2012, 18:18

Die USA sind besetzt – und Tausende demonstrieren seit September für soziale Gerechtigkeit. Doch wer sind die BesetzerInnen eigentlich und was wollen sie? Ein kritischer Blick auf Occupy Wall Street, direkt aus Downtown Manhattan.

"Mic check“, schreit jemand in die Menge. Ein lautes Brüllen und „mic check“ schallt es zurück. Damit ist der provisorische „Soundcheck“ abgeschlossen. Technik nützt nichts am Zuccotti Plaza, nahe der New Yorker Wall Street. Mikrophone und Lautsprecher wurden polizeilich untersagt, also wiederholt die Menge das Gesprochene. Mitten drinnen steht eine der Ikonen der Anti-Globalisierungsbewegung: Naomi Klein. Alles ist bereit für ihren Auftritt. „Ich liebe euch“, repliziert die Menge ihre Worte. Die Journalistin und Autorin (No Logo, The Shock Doctrine – The Rise of Desaster Capitalism) wartet nicht mit viel Neuem auf. Sie ruft: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Mit „ihr“ ist dabei jenes „eine Prozent“ gemeint, das laut Klein die „globale“ Krise verursacht habe. Dem stellt sie den Leitgedanken der Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ entgegen: Das reiche eine Prozent würde die Krise nutzen, um sich noch mehr zu bereichern und seine Wunschliste – von der Privatisierung der Bildung bis zum Gesundheitssystem – durchzusetzen. Aber: Nun gäbe es glücklicherweise 99 Prozent, die sich dies ab sofort nicht mehr gefallen ließen. „Was heute anders ist als 1999 in Seattle: Damals griffen wir den Kapitalismus auf der Höhe eines Booms an. Heute zum Zeitpunkt der Krise“, erklärt sie den Protestierenden. Es gelte, die Gelegenheit zum Protest zu nutzen – wie 1999 bei den Protesten gegen G8 in Seattle.* Aber nicht nur Klein sprach ihre Solidarität aus. „Star-Philosoph“ Slavoj Zizek, Skandalpublizist Michael Moore, Hollywood-Linke Susan Sarandon – alle kamen sie und sprachen am Liberty Plaza in New York, dem Herzen der Occupy Wall Street-Bewegung.

Protest-Accessoirs.

Von Boston bis Chicago, von Los Angeles bis Miami von Minneapolis bis Portland sprossen weitere Besetzungen aus dem Boden. Der Protest macht sich in den gesamten USA breit. Seit dem 17. September, dem „Constitution Day“, werden Sit-ins, Teach-ins, offene Foren, Kundgebungen, Demonstrationen, Besetzungen organisiert. Ein unüberschaubares Mischmasch aus AnarchistInnen und anderen „linken“ Gruppierungen, kleineren Gewerkschaften, Parteien wie der Revolutionary Communist Party oder den US-Grünen – jedoch primär eine Masse an erstmals aktiven „Unzufriedenen“ bringt sich in den Protest ein. Zeitungen, Flugblätter, Buttons und all die bekannten Protest-Accessoirs – sogar eine People‘s Library – sind vorhanden. Und während das Plenum tagt, geben sich einige Meter weiter die karnevalesken TrommlerInnen frenetisch, ja fast ununterbrochen, ihren Rhythmen hin. Doch wer sind die AktivistInnen? Es ist die selbsternannte „Mittelschicht“, die sich durch die vorherrschende Politik des Landes bedroht fühlt. Dazu Diana Levinson, deklarierte Demokratin: „Jungen Menschen wird die Zukunft geraubt, die Wirtschaft ist in Amerika außer Kontrolle geraten und hat die Mittelschicht zerstört.“ Eine andere Aktivistin fasst den Protest so zusammen: „Die Leute haben es satt, es braucht eine Umverteilung des Reichtums, wir haben die Mittelschicht verloren, Studierende können ihre Ausbildungskosten nicht mehr zurückzahlen, HausbesitzerInnen ihre Hypotheken.“ Wer aber konkret diese Mittelschicht ist, bleibt offen – insbesondere, weil sich jedeR als Mittelschicht bezeichnet.

Kritik an der Protestbewegung.

Kritik kommt nicht nur von konservativer Seite. So äußert sich die marxistische US-Theoriegruppe The Platybus Affiliated Society kritisch gegenüber Occupy Wall Street. Diese, kurz Platybus genannt, hat mehrere Versuche gestartet, vor Ort zu intervenieren. Parallel zu zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Lesekreisen reagiert die Gruppe mit öffentlichen Diskussionen auf die Proteste. Laurie Rojas von Platybus New York etwa wünscht sich mehr konkrete Kritik. „In der Bewegung besteht eine begrenzte Sichtweise auf die Natur des Kapitalismus“, stellt sie fest. „Occupy Wall Street stellt aber auch eine neue Möglichkeit für die Linke dar.“ Rojas und Platybus sehen allerdings grundlegendere Probleme als die meisten der BesetzerInnen und konstatieren „eine sichtliche Schwäche der Linken“. Die Analyse dieser Schwäche könne aber nicht nur an den letzten Jahren festgemacht werden, sondern müsse eine Untersuchung der gesamten Geschichte der Linken bilden. Ross Wolfe, ebenfalls von Platybus, kritisiert in seinem Blog The Charnel-House: „Das endlose Trommeln, pseudo-tribale Tanzen und Singen, wiederholende Slogans („this is what democracy looks like“ und andere populistische Banalitäten), vorhersehbare Plakate, schwarze Halstücher, anarchistischer Chic – all das riecht ein bisschen zu viel nach dem, was nur zur normalen orgiastischen Post-Neue-Linke-Party- und Protestkultur wurde.“

Die Occupy-Bewegung bildet außerdem keine Ausnahme, was klassisch und vermeintlich „linke“ Verschwörungstheorien, Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik angeht. Die Krux beim Protest gegen den Kapitalismus ist, dass er sich oftmals nicht gegen das gesellschaftliche System Kapitalismus wendet, sondern sich Einzelpersonen als vermeintliche Sündenböcke herausnimmt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits primär die „Zerstörung“ der undefinierbaren Mittelschicht anstatt sozialer Verhältnisse kritisiert werden und auf der anderen Seite „Börsenspekulanten“, Banker und die sogenannten ein Prozent als Verantwortliche an den Pranger gestellt werden. Als „links“ betitelter Protest kippt dann leicht in antisemitische Stereotype, die auch schon die Nazis gegen „die Juden“ bemühten. Stereotype wie die Vorstellung vom „parasitären Finanzkapital“ sind Standard-Repertoire von Antisemitismus, und werden oftmals frisch verpackt in der Occupy- Bewegung artikuliert. Wenn es darum geht, den „corporate Greed“, die Gier, an den Pranger zu stellen, wie dies bei Occupy Wall Street der Fall ist, folgt dann auch meist der Fingerzeig auf bekannte UnternehmerInnen und BankerInnen, wie den Präsidenten von Goldman-Sachs, Lloyd Blankfein. Offen bleibt ohnehin auch die Frage, warum die Wall Street als Zentrum allen Übels dargestellt wird und nicht der Kapitalismus an sich. Auch „die Politik“, also Barack Obama, der gefallene Held vieler Occupier, die Demokratische Partei oder die Republikanische Partei und die ultra-konservative Tea-Party, sind nur Ziele zweiter Wahl. Naomi Klein schlägt vor: „Kümmert euch nicht um die Demokratische Partei.“ Um es mit dem inflationär gebrauchten Präfix „post“ zu sagen: Im Zeitalter der Postdemokratie, eines zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus, ist man eben post-politisch, post-anarchistisch. Man hat das ganze Politikspiel satt, fordert nicht und fordert niemanden heraus, will sich die Welt selbst organisieren und mimt eine zeitgenössische Form von „going west“: Nur in diesem Fall mitten in Downtown Manhattan. Konkrete Kritik ist politisch und was politisch ist, will man nicht. Man ist gegen Gier, Korruption und Ungleichheit. Wie dies alles entsteht, ist aber nicht die Frage. Spekulationen, wer dafür verantwortlich ist, rücken ins Zentrum der Auseinandersetzung. Antisemitische Untertöne bis hin zu offenem Antisemitismus finden in einem solchen Umfeld leicht Platz: von Plakaten wie „Hitler‘s Banker – Wall Street“, diversen antisemitischen bis verschwörungstheoretischen Kommentaren auf Webseiten und Bildern eines aufgespießten Lloyd Blankfein.

Lippenbekenntnisse.

Seth Weiss von der Marxist Initiative kritisiert den laschen Umgang mit den vom Plenum beschlossenen „Prinzipien der Solidarität“, welche unter anderem die „Bestärkung untereinander gegen jede Form von Unterdrückung“ miteinschließt. Darüber hinaus halte sich die Linke davon ab, „eine Vision einer befreienden Alternative zum Kapitalismus und seiner Schrecken“ zu entwickeln. Wenngleich sich dennoch zeigt, dass diese Bewegung keineswegs antisemitisch sein will, so zeigt sich genauso, dass ihr dabei die genaue Auseinandersetzung fehlt. Somit verwundert es auch nicht, dass die dringende Frage des Umgangs mit und der Abgrenzung von antisemitischen Elementen unbeachtet im Raum steht. Die Antwort bleibt als Schuld verbucht. „Das Plenum und alle UnterstützerInnen der Wall-Street-Besetzung würden besser daran tun, mehr als ein Lippenbekenntnis dazu abzugeben“, sagt Weiss.

Repression und Repetition.

Der Protestalltag birgt bei all dieser notwendigen Reflexion auch praktische Probleme, Grenzen und Gefahren sowie die Frage nach Strategien. Die Protestbewegung ist mit der härtesten Repression seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg konfrontiert. Von großangelegten Pfefferspray- und Prügelaktionen durch die Exekutive, Massenverhaftungen bis hin zu brutalen Auflösungen von Besetzungen und Demonstrationen. Die Besetzung im Zuccotti-Park wurde erst im November durch die Polizei aufgelöst. Der Winter kommt, die Proteste schwächeln. Vielleicht war es nur das repetitorische Erwachen der „Linken“, die sich mehr schlecht als recht als symbolische Figur am Leben erhält – ein bisschen nach dem Vorbild der britischen Monarchie: „The left is dead, long live the left“, wie ein Plakat von Platybus New York es ausdrückt? Doch im November 2012 sind PräsidentInnenschaftswahlen und die Zeichen deuten auf heiße Zeiten. Fix ist dabei jedenfalls: Die öffentliche Diskussion hat sich hin zur sozialen Frage verschoben – und das in einem Land, in dem mehr als in jedem anderen persönlicher Erfolg und Scheitern privatisiert sind und einzementiert scheinen. Und das markiert dann doch einen Erfolg der Bewegung.


Der Autor studiert Jus an der Uni Graz und lebt derzeit in New York.


* Im Dezember 1999 kam es am Rande der Welthandels-Konferenzin Seattle zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei – viele betrachten diese Demonstration als Geburtsstunde der zweiten Welle der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Die Konferenz konnte aufgrund des Protestes nicht abgehalten werden.