Illusionen in der Wissenschaft
Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.
In der Philosophie wird Wissen und Information vornehmlich über Wort und Text weitergegeben. Es gibt ein lange gehegtes, ja traditionelles Misstrauen gegenüber anderen Medien, vor allem gegenüber Bildern und ihren Mischformen.
Für dieses schlechte Verhältnis der Philosophie zum Bild als Informationsmedium wird oft Plato zur Verantwortung gezogen.
SCHATTEN AN DER WAND. Für ihn zeigt sich die Wirklichkeit nur durch Schatten in der Höhle, in der wir Menschen uns metaphorisch befinden. Nur durch das Denken in Form eines inneren Dialogs könne die Wirklichkeit erkannt werden. Obwohl Plato auch dem geschriebenen Wort als billigem Ersatz für Erinnerung und wahres dialektisches Verstehen misstrauisch gegenüberstand, billigte er es als notwendiges Übel, ganz im Gegensatz zu Bildern und optischen Wahrnehmungen, die für ihn nichts anderes waren als trügerische Illusionen, Schatten von Schatten.
Die Philosophen des Rationalismus im 17. Jahrhundert übernahmen Platos Misstrauen gegenüber Bildern und Sinneswahrnehmungen und versuchten, die Welt zu verstehen, indem sie Phänomene isoliert von diesen trügerischen Wahrnehmungen betrachteten. Dieser Ansatz führte zunächst zu großen Entdeckungen, bestärkte jedoch auch das darauffolgende Aufteilen und Abstecken der Wissenschaften in Teilgebiete. In manchen dieser Teildisziplinen scheint es dieser Tage vor allem darum zu gehen, die für die jeweilige Disziplin reklamierten Methoden und Ideen zu verfeinern und Beobachtetes als „richtig“ zu klassifizieren.
In der Physik etwa, dem Teilgebiet der Wissenschaft, in dem ich mich Expertin nennen darf, scheint es zur Zeit nur noch darum zu gehen die „theory of everything“ zu finden, in der endlich alle Kräfte, alle Phänomene mit einer Kraft, einer Formel beschrieben werden können. Überraschenderweise sind wir mit diesem Ansatz noch nicht so weit gekommen.
SEEING DOUBLE. Viele tausend Jahre nach Plato legt Nick Sousanis in seiner Dissertation „Unflattening“ dar, wie Bilder und Comics neue Perspektiven des Denkens und Verstehens eröffnen. Verfasst in Form eines Comics kann „Unflattening“ auch als Abhandlung über unsere Wahrnehmung verstanden werden. Der Sehprozess, zeichnet und schreibt Sousanis, involviert beide Augen – also zwei Perspektiven – gleichermaßen: „Our stereoscopic vision is the creation and integration of two views. Seeing, much like walking on two feet, is a constant negotiation between two distinct sources.”
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Unseren Augen gleich, ermöglichen uns Comics, aus Text wie Bild bestehend, zwei verschiedene Sichtweisen ineinanderfließen zu lassen. Denn Text ist, seiner Natur gemäß, sequentiell und linear, eine diskrete Abfolge von Wörtern. Ein Bild andererseits präsentiert alles Gezeigte auf einmal, es gibt weder Anfangs- noch Endpunkt. Wie Michael Baxandall schreibt, gibt es keine direkte Entsprechung von Text und Bild. Jede textliche Beschreibung eines Bildes presst dieses in ihre textliche, also lineare und hierarchische Form. Das bedeutet, dass Erkenntnisse und Wahrnehmungen, die sich nicht textlich ausdrücken lassen, weil sie außerhalb dieses sequentiellen Paradigmas stehen, ausgeklammert werden. In Comics aber verschmelzen der textlich sequenzielle und der bildlich simultane Charakter und bilden so eine neue Form des Verstehens, in der nun auch das zuvor Außenstehende einen Platz findet.
Kritische Stimmen mögen an dieser Stelle anmerken, dass zum Beispiel in den empirischen Wissenschaften die Verwendung von Abbildungen gängige Praxis ist, also die Comic-Idee ohnehin schon Praxis sei. Nun stimmt es zwar, dass man beim Durchschauen einer Publikation aus den Naturwissenschaften auf viele Diagramme und Graphen stößt. Es ergibt sich jedoch nicht der dialektische Text-Bild-Zusammenhang, den Sousanis meint. In einem klassischen Graphen wird eine Größe als Funktion der anderen dargestellt, zum Beispiel die Anziehungskraft zweier massiver Körper als Funktion ihres Abstandes oder das Wahlverhalten einer Bevölkerungsgruppe als Funktion ihres Alters.
Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, besitzen Graphen ein sehr hohes Abstraktionsniveau. Graphen beantworten eine spezielle und isolierte Frage. So werden sie sogar zum Gegenspieler von Bildern, die alles Beobachtete ungeordnet und simultan preisgeben. Zudem haben Graphen in unserer heutigen Gesellschaft, ganz im Gegensatz zu Bildern, eine extreme Überzeugungskraft. Ihr reduktionistischer Charakter strahlt eine Objektivität aus, der man sich schwer entziehen kann, aber häufiger sollte.
GRAPH 4.3 ZEIGT GAR NICHTS. In den Geisteswissenschaften hingegen, und zwar vor allem in der Philosophie, wird auf Bilder jeder Art verzichtet. Es gibt zwar Philosophiecomics, diese sind allerdings entweder für Kinder oder als Infotainment gedacht. Seriöse akademische Diskussionen werden selbst in Philosophieschulen, die dem Rationalismus kritisch gegenüberstehen, ausschließlich mit Wörtern geführt. Zu sehr riechen Comics nach Anti-Intellektualismus und Reduktionismus.
Nun, wenn es um simple Graphen oder Comics zum Notfallverhalten in Flugzeugen geht, mag der Reduktionismusvorwurf, wie oben besprochen, berechtigt sein. Doch die Textversion des Flugzeugnotfallverhalten- Comics ist auch kein literarisches Meisterwerk. Die Verwendung von Comics in der Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen. Doch Versuche wie Sousanis Doktorarbeit zeigen, dass das Medium mehr als geeignet ist, komplexe Themen zu bearbeiten und neue Sichtweisen, und zwar solche die einer rein textlichen Darstellung verschlossen bleiben, zu eröffnen.
Carina Karner studiert Physik im Doktorat und baut Computermodelle für die Kristallisation von Kolloiden – Schatten von Schatten.