Anne-Marie Faisst

Fakten - Fakten - Fakten

  • 11.10.2017, 17:56
Wessen Wahrheit spiegeln Kriminalitätsstatistiken wider – und warum haben Lügen in der Politik so lange Beine?

Als im vergangenen Mai die Kriminalitätsstatistik von 2016 veröffentlicht wurde, gab es an den Zahlen einiges an Kritik, unter anderem von Kriminalsoziologe Reinhard Kneissl, der die fehlende wissenschaftliche Begleitung und nicht haltbare Zahlen (KURIER) kritisierte.

So scheine die „Ausländerkriminalität“ stark gestiegen zu sein, die Klassifizierungen „fremder” Tatverdächtiger entspräche laut Kneissl jedoch nicht wissenschaftlichen Kriterien. Es handle sich um eine Vermengung von verschiedenen Kategorien wie Beruf und Aufenthaltsstatus. Dadurch komme es beim Eintrag in die Statistik schon zu Unklarheiten.

Zudem fehlt jede Spur von „police performance indicators“: Daten, die das Vorgehen der Polizei beschreiben, vor allem wie und wen sie kontrolliert. Natürlich gibt es mehr Anzeigen über Drogendelikte gegen Migrant_innen, wenn die Polizei primär Migrant_innen kontrolliert. Aber der Polizeibericht zur Kriminalitätsstatistik setzt sich lieber nicht mit racial profiling und anderen Rassismen auseinander und ignoriert ihre Einflüsse auf die Statistik. Abgesehen davon, dass somit schon die Erhebung der Daten nicht objektiv geschieht, kann auch keine unabhängige Evaluierung dieser Daten stattfinden, da sie nur für die polizeieigene Verwendung zugänglich sind. Es werden also nur die Ergebnisse präsentiert und nicht die Datenrohmasse.

Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast

Die Kriminalstatistik ist eine Anhäufung von Rohdaten und Fakten. Um Daten begreifbar zu machen, werden sie sortiert, zusammengefasst und ausgewertet. Das ist die zentrale Aufgabe der Statistik. Als erster Schritt bestimmt die Polizei welche Daten überhaupt erhoben werden und welche nicht. Im zweiten Schritt werden diese vom erhebenden Organ, der Polizei, präsentiert. Auslassungen und Vereinheitlichungen sind hier nicht a priori falsch. Ohne eine Ordnung der Daten könnte man sie nicht erfassen und verstehen. Doch dieser Schritt ist nicht wert- und herrschaftsfrei. Dass beispielsweise keine Indikatoren zur Polizei Performance erhoben werden, ist kein Zufall, sondern politisch gewollt. Statistik muss nicht lügen, Zahlen müssen nicht gefälscht sein. Die Erhebung der Daten, deren Ordnung und Präsentation sind niemals rein objektiv. Daten und Fakten haben keine Bedeutung per se, sondern unterliegen immer einer Interpretation. „Fakten sind zentral. Sie haben aber keine objektive Bedeutung, das ist ein Irrglaube. Andernfalls gäbe es keinen politischen Streit" so Sprachforscherin Elisabeth Wehling (im Tagesspiegel).

Fakten – Fakten - Fakten

In unserer gesellschaftlichen Vorstellung gibt es jedoch eine interpretationsresistente Wahrheit, die eindeutig erfahrbar sei. So kommt es zu dem idealisierten Dreisatz:

-Person XY geht einer Lüge auf den Leim oder hat eine falsche Vorstellung.

-Person XY wird mit der Wahrheit konfrontiert.

-Die Wahrheit wird angenommen, die falsche Vorstellung korrigiert.

Auf diesem Dreisatz bauen alle Faktenchecks auf. Immer häufiger wird nach Wahldebatten oder Behauptungen von Politiker_innen auf Faktenchecks gesetzt. Im US-Wahlkampf war ein ganzes Team von Hillary Clinton dabei, in Debattenechtzeit alle Aussagen von Donald Trump zu überprüfen. Auch in Österreich ist es ein beliebtes zivilgesellschaftliches Mittel, die Aussagen der FPÖ einem Faktencheck zu unterziehen um sie als Lügen zu entlarven. Doch das Ganze hat einen Fehler: es wirkt nicht. In den USA glauben Trump Befürworter_innen immer noch, dass Trump die Mehrheit der Stimmen erhielt, obwohl dies tatsächlich sehr leicht nachprüfbar nicht der Fall war.

Aber warum wirken Faktenchecks nicht? Politikwissenschaftler Brendan Nyhan beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen, seit er Anfang der 2000er eine Faktencheck-Webseite ins Leben rief und merkte, dass die Aufdeckung von Lügen politisch äußerst selten Konsequenzen hatte. Nyhan näherte sich dem Problem interdisziplinär und verortete verschiedene Problematiken. Erstens überprüfen Menschen tatsächlich sehr selten Quellen oder die Statistiken, die sie konsumieren. Das liegt nicht daran, dass wir alle zu faul dazu sind, sondern dass es schon aus reinem Zeitmangel nicht möglich ist, immer alles zu überprüfen. So vertrauen wir Quellen, die wir oft heranziehen und die sich als vertrauenswürdig erwiesen haben, ohne sie jedes Mal zu überprüfen. Wird also beispielsweise eine Studie über islamische Kindergärten von einem renommierten Professor der Universität Wien veröffentlicht, glaubt man dieser wegen der Reputation der Institution. Ein Vertrauensverlust beginnt dann, wenn sich herausstellt, dass die Institution dem guten Ruf nicht gerecht wird. Nun steht nicht nur der eine Wissenschaftler in der Kritik, sondern die gesamte Institution erfährt eine Abwertung und viele Menschen sehen das Vorurteil bestätigt, dass Wissenschaft nur denen nützt, die sie in Auftrag geben. Berechtigte Wissenschaftsskepsis gleitet so leicht ab in Antiintellektualismus, vor allem wenn die Institution eher ihre eigenen Leute schützt als gegen Fehlverhalten vorzugehen. Und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht (mehr).

Den zweiten Grund, warum Faktenchecks nicht das gewünschte Ergebnis haben, leitet Nyhan psychologisch her: „There’s a high cost to accepting evidence that contradicts our beliefs" (Nyhan in „Why fact-checking can’t stop Trump’s lies“). Es ist psychisch schwierig, sich einzugestehen, dass man falsch liegt. Oft würde dann nicht nur eine Lüge in sich zusammen fallen, sondern ein ganzes Weltbild und Glaubenssystem. Auch soziologisch müsste ein hoher Preis bezahlt werden. Oft ist unser soziales Umfeld zusammengesetzt aus Menschen, die die gleichen Vorstellungen und politischen Meinungen haben. Diese zu ändern hieße dann, Familie und Freund_innen ständig widersprechen zu müssen, im schlimmsten Fall droht ein Ausschluss aus eben diesem sozialen Umfeld. Wir werden skeptisch gegenüber allem, was nicht unseren Vorstellungen entspricht. Dieses Phänomen betrifft beide Seiten des politischen Spektrums, auch Linke sind davor nicht gefeiter als Rechte. So ist es oft der erste Instinkt von Linken bei steigender „Ausländerkriminalität“, die Statistik zu hinterfragen und nach Erklärungen zu suchen, warum diese höher ist als die „Inländerkriminalität“, etwa rassistische Kontrollen oder höhere Armutsraten und weniger legale Kapitalbeschaffungsmöglichkeiten. Rechte fühlen sich von der Statistik in ihrem Denken bestätigt, doch viel häufiger trat dieses Jahr ein anderes Phänomen auf. Statt der ihrem Weltbild entsprechenden Statistik Glauben zu schenken, wurde diese von mehreren Rechten in Zweifel gezogen. Ihnen waren die Zahlen zu niedrig. Gerade die Anzeigen gegen Asylwerber_innen seien viel zu niedrig.

„Ich hab g’hört“.

Am 6. März postete die „Zeit im Bild“ einen Beitrag zur Kriminalitätsstatistik auf Facebook. Gleich darauf begann eine hitzige Diskussion, die so rassistisch verlief, dass große Teile davon gelöscht werden mussten. Ein rechter User beharrte darauf, dass die Statistik nicht stimmen könne, da die Polizei keine Anzeigen gegen Asylwerber_innen aufnehmen würde. Aufgefordert dies zu belegen, entgegnete der User, dass in Untermauerbach ein Freund von einem Freund von Asylbewerbern krankenhausreif geprügelt worden sei und weder Krankenhaus noch Polizei die Anzeige annehmen wollten. Seine Diskussionsgegner_innen machten sich die Mühe und riefen in Untermauerbach an und befragten Polizei und Krankenhaus. Es meldete sich sogar ein Untermauerbacher zu Wort, der angab, noch nie von diesem Vorfall gehört zu haben. Auch im Internet ist nichts entsprechendes zu finden. Daraufhin entgegnete der rechte User, dass die Medien und der Staat diese Meldungen unterdrücken würden. Jede weitere Präsentation von Fakten wurde als weiterer Beweis für die Verschleierung der Tatsachen abgeschmettert. Dieser User ist bei weitem nicht der Einzige, der keiner Statistik glaubt und dessen Denken derart von Verschwörungstheorien durchzogen ist, dass mit der Präsentation von reinen Fakten keine Diskussion zu gewinnen ist.

Der Schaden ist angerichtet

Bestätigung finden rechtsextreme Verschwörungstheoretiker_innen auf Internetseiten und in sozialen Netzwerken. Während Massenmedien früher die Torwächterfunktion hatten, Daten zu filtern und zu überprüfen, kann heute jede_r mit Internetzugang Bestätigung für die krudesten Verschwörungstheorien finden. Wurden früher wenigstens die härtesten Formen von Rassismus durch die Medien gefiltert, hat der Menschenhass nun freie Bahn in Facebook-Gruppen und Foren. Facebook-Seiten wie die von HC Strache mischen kräftig mit. Strache verhilft mit seiner enormen Reichweite Medien wie unzensuriert.at zu Beachtung. Bis ein Beitrag als Lüge entlarvt wird, ist er schon hunderttausendmal gesehen und geteilt worden. Der Widerruf findet zumeist nicht die gleiche Verbreitung. Faktencheck-Seiten wie kobuk.at haben nicht dieselbe Reichweite und auch ein ganz anderes Publikum.

Da etablierte Medien nicht die gleichen Fehlinformationen verbreiten wie unzensuriert.at und Co. entsteht der Eindruck, dass diese bestimmte Meldungen unterdrücken. Das Vertrauensdefizit in die Medien wächst. Aber auch etablierte Massenmedien unterstützen durch ihren Anspruch an falsch verstandene Objektivität rassistische Lügen. Da man „alle Seiten zu Wort kommen lassen“ möchte, werden rassistische Lügen als sagbare Meinungen dargestellt. Der scheinbaren Objektivität verpflichtet, können Strache und Co. vor Millionenpublikum von „Asylmissbrauch“ sprechen, ohne dass die Moderation groß widerspricht. Der Soziologe Herbert Marcuse nennt dies „unterschiedslose Toleranz“: Diese sei ein „Instrument der Fortdauer von Knechtschaft“. Er plädiert dafür, dass bestimmte Dinge nicht gesagt oder gedruckt werden dürfen. Als Gradmesser dafür schlägt er die Wahrheit, die geschichtlich klare Tatsache vor. Hierauf stützt sich das Verbotsgesetz in Österreich.

Nur was tut man in Situationen, bei denen es sich nicht um „geschichtlich klare Tatsachen“ handelt, wie der Kriminalitätsstatistik?

Die Erhebung von Statistiken ist nie objektiv und herrschaftsfrei und das sollte auch problematisiert werden und herrschaftskritisch aufgearbeitet werden. Wenn Daten und Fakten von rechts in Zweifel gezogen werden, ist dies nicht herrschaftskritisch, sondern verfolgt rassistische Denkmuster und menschenverachtenden Logiken. Nun kommt man als politische Linke plötzlich in die absurde Lage, herrschaftsaffirmativ Statistiken zu verteidigen, die man eigentlich kritisieren sollte. Stattdessen wäre es gewinnbringender, bei emanzipatorischer Wissenschaftskritik anzusetzen. Wer versteht wie Daten entstehen, wie Fakten zu Wahrheiten werden, lässt sich nicht so leicht ködern von Falschmeldungen. Weiters ist es wichtig über die Rohdaten zu verfügen, um die Interpretationen und Analysen überprüfen zu können. Eine entsprechende politische Weisung wäre hier angebracht. Die Kriminalitätsstatistik veröffentlicht diese Daten nicht und bereitet so den Nährboden für Verschwörungstheorien. Rohdaten nützen allerdings nichts, wenn man mit der schieren Masse der Daten nichts anfangen kann. Deshalb müssen Wissenschaftskritik und kritische Statistiklehre in den Schulen verankert werden, und zwar nicht nur in den Gymnasien, sondern in allen Schultypen.

Anne-Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien

Eigentumswohnungen

  • 20.06.2017, 20:14
Während manche Studierende über 50 Prozent ihres Budgets für die Miete aufbringen, leben Studierende aus „gutem Hause“ in Eigentumswohnungen. Das wirkt sich nicht nur auf den Geldbeutel aus.

Während manche Studierende über 50 Prozent ihres Budgets für die Miete aufbringen, leben Studierende aus „gutem Hause“ in Eigentumswohnungen. Das wirkt sich nicht nur auf den Geldbeutel aus.

Räumen wir gleich einmal zu Beginn mit einem Mythos auf: Student*innen sind nicht arm! Sie tun so, die meisten inszenieren sich so, aber sie sind es nicht! Die größte Gruppe der Studierenden (52 Prozent) sind laut Studierendensozialerhebung 2015 Teil der gehobenen oder hohen Schicht! Ihre Eltern haben großteils Universitätsabschlüsse und höhere Einkommen als der Durchschnitt.

Der Mythos, dass Studierende am Hungertuch nagen und kaum über finanzielle Mittel verfügen, mag mit halblustigen Sprüchen wie „Warum ist am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig?“ zusammenhängen. Aber was Pulp in den 90er Jahren sangen, „if you called your dady he could stop it all, yeah“, trifft heute noch auf die meisten Student*innen zu. Ihre Armut ist eine eingebildete, oder zumindest eine vorübergehende. Kann die Miete nicht gezahlt werden, kommt es im Studifall wohl in den seltensten Fällen zur Delogierung, sondern in den meisten Fällen hilft ein Anruf bei den Eltern, dass das für die Miete überwiesene Geld für den neuen Herschel-Rucksack und Fusion-Tickets draufgegangen sei, und man nun ein bisschen „Vorschuss“ brauche. Gleichzeitig gefällt man sich in der Rolle des armen „Bettelstudenten“ und fraternisiert mit den tatsächlich ärmeren Student*innen, die das System trotz sozial gestaffeltem Bildungssystem und Zugangsbeschränkungen nicht davon abhalten konnte, zu studieren. Alle studieren, alle haben irgendwie die gleichen Probleme und man nimmt nur zu leicht an, dass auch alle irgendwie arm sind. Schließlich meint Benjamin-Alexander* auch, dass er kein Geld mehr habe diesen Monat. Und während die ärmsten zehn Prozent der Studierenden laut Studierendensozialerhebung nur 500 Euro im Monat für ihre Grundbedürfnisse haben, und nicht wissen, wie sie ihre Miete zahlen sollen, weiß Benni nicht, ob es diesen Monat noch reicht für den Segeltrip in der Ägäis. Benni hat auch nicht das Problem, 36 Prozent seines Gesamtbudgets für Miete auszugeben. Noch drastischer wird die Situation für Studierende, die unter 700 Euro im Monat zur Verfügung haben. Dort beträgt der Anteil der Miete am Gesamtbudget laut Studierendensozialerhebung über 50 Prozent.

Die Mieten steigen und der Anteil des Einkommens, der dafür draufgeht, wird immer größer. Jene, die es sich leisten können, neigen deshalb eher dazu, die monatliche Kreditrate zu bedienen und sich eine Wohnung zu kaufen. Dann ist man in ein paar Jahren Eigentümer*in und muss nur mehr für die Betriebskosten aufkommen.

In Österreich wohnen 39 Prozent im Eigenheim und 11 Prozent in Eigentumswohnungen, also über die Hälfte der Bevölkerung, wie aus dem Endbericht 2014 der Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen und Planen hervorgeht. In der Hauptstadt wohnen 13 Prozent in Eigentumswohnungen. Eigentumswohnungen sind kostspielig. In der kleinsten Kategorie (Wohnungen unter 59 m²) schwanken die Preise an den meisten österreichischen Hochschulstandorten zwischen 95.000 und 200.000 Euro. Man braucht also schon einiges an Eigenkapital, um sich auch nur eine kleine Wohnung leisten zu können. Oder man erbt sie. Denn in Österreich werden nicht nur Bildungsabschlüsse vererbt, die Immobilien bekommt man auch noch mit dazu.

Über eine Eigentumswohnung zu verfügen, wirkt sich nicht nur auf den Geldbeutel im Studium aus: Viele Studierende klagen über psychische Probleme und haben Existenzängste. Falls man in einer anderen Stadt studiert und sich nicht auf die monatlichen Geldzuwendungen aus dem Elternhaus verlassen kann, bleibt einem gegebenenfalls nichts anderes übrig, als das Studium abzubrechen, um die Miete zahlen zu können. Der elementare Stress, die Miete nicht zahlen zu können, beherrscht schließlich jeden Aspekt des Lebens. Das Studium leidet unter dem „Nebenjob“, der im Ernstfall zum Haupterwerb wird.

Der Sommer naht und auf Facebook und auf den Wohnungsportalen sprießen die Untermietanzeigen aus dem Boden. „WG-Zimmer für 3 Monate zur Untermiete“. Während kurzfristige Untervermietung für manche bittere Notwendigkeit ist, stellt es für Studierende mit Eigentum kein Problem dar, eine Wohnung für mehrere Monate leerstehen zu lassen. Oder besser: sie trotzdem zu vermieten und so von der Eigentümer*in zur Vermieter*in zu werden. Schließlich lässt sich der Segeltrip in der Ägäis viel leichter finanzieren, wenn man noch ein paar hundert Euro mehr zur Verfügung hat. Vermietet wird dann bisweilen weit über dem Richtwert, man soll ja sein Eigentum auch nicht zu billig zu Markte tragen. Miethöchstzins und reale Mieten liegen ja auch bei anderen Wohnungen weit auseinander, meint Benni. Und so wird man als Student*in schnell zur Marktkenner*in, die nur das Beste aus dem Möglichen macht.

*Bei Menschen mit einem Einkommen unter 1.000 Euro, die Benjamin-Alexander heißen, entschuldige ich mich hiermit für den Klassismus, ihren Namen mit der Oberschicht gleichzusetzen – ich bezweifle allerdings, dass es sie gibt.

Anne-Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Fakten - Fakten - Fakten

  • 11.10.2017, 17:56
Wessen Wahrheit spiegeln Kriminalitätsstatistiken wider – und warum haben Lügen in der Politik so lange Beine?

Als im vergangenen Mai die Kriminalitätsstatistik von 2016 veröffentlicht wurde, gab es an den Zahlen einiges an Kritik, unter anderem von Kriminalsoziologe Reinhard Kneissl, der die fehlende wissenschaftliche Begleitung und nicht haltbare Zahlen (KURIER) kritisierte.

So scheine die „Ausländerkriminalität“ stark gestiegen zu sein, die Klassifizierungen „fremder” Tatverdächtiger entspräche laut Kneissl jedoch nicht wissenschaftlichen Kriterien. Es handle sich um eine Vermengung von verschiedenen Kategorien wie Beruf und Aufenthaltsstatus. Dadurch komme es beim Eintrag in die Statistik schon zu Unklarheiten.

Zudem fehlt jede Spur von „police performance indicators“: Daten, die das Vorgehen der Polizei beschreiben, vor allem wie und wen sie kontrolliert. Natürlich gibt es mehr Anzeigen über Drogendelikte gegen Migrant_innen, wenn die Polizei primär Migrant_innen kontrolliert. Aber der Polizeibericht zur Kriminalitätsstatistik setzt sich lieber nicht mit racial profiling und anderen Rassismen auseinander und ignoriert ihre Einflüsse auf die Statistik. Abgesehen davon, dass somit schon die Erhebung der Daten nicht objektiv geschieht, kann auch keine unabhängige Evaluierung dieser Daten stattfinden, da sie nur für die polizeieigene Verwendung zugänglich sind. Es werden also nur die Ergebnisse präsentiert und nicht die Datenrohmasse.

Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast

Die Kriminalstatistik ist eine Anhäufung von Rohdaten und Fakten. Um Daten begreifbar zu machen, werden sie sortiert, zusammengefasst und ausgewertet. Das ist die zentrale Aufgabe der Statistik. Als erster Schritt bestimmt die Polizei welche Daten überhaupt erhoben werden und welche nicht. Im zweiten Schritt werden diese vom erhebenden Organ, der Polizei, präsentiert. Auslassungen und Vereinheitlichungen sind hier nicht a priori falsch. Ohne eine Ordnung der Daten könnte man sie nicht erfassen und verstehen. Doch dieser Schritt ist nicht wert- und herrschaftsfrei. Dass beispielsweise keine Indikatoren zur Polizei Performance erhoben werden, ist kein Zufall, sondern politisch gewollt. Statistik muss nicht lügen, Zahlen müssen nicht gefälscht sein. Die Erhebung der Daten, deren Ordnung und Präsentation sind niemals rein objektiv. Daten und Fakten haben keine Bedeutung per se, sondern unterliegen immer einer Interpretation. „Fakten sind zentral. Sie haben aber keine objektive Bedeutung, das ist ein Irrglaube. Andernfalls gäbe es keinen politischen Streit" so Sprachforscherin Elisabeth Wehling (im Tagesspiegel).

Fakten – Fakten - Fakten

In unserer gesellschaftlichen Vorstellung gibt es jedoch eine interpretationsresistente Wahrheit, die eindeutig erfahrbar sei. So kommt es zu dem idealisierten Dreisatz:

-Person XY geht einer Lüge auf den Leim oder hat eine falsche Vorstellung.

-Person XY wird mit der Wahrheit konfrontiert.

-Die Wahrheit wird angenommen, die falsche Vorstellung korrigiert.

Auf diesem Dreisatz bauen alle Faktenchecks auf. Immer häufiger wird nach Wahldebatten oder Behauptungen von Politiker_innen auf Faktenchecks gesetzt. Im US-Wahlkampf war ein ganzes Team von Hillary Clinton dabei, in Debattenechtzeit alle Aussagen von Donald Trump zu überprüfen. Auch in Österreich ist es ein beliebtes zivilgesellschaftliches Mittel, die Aussagen der FPÖ einem Faktencheck zu unterziehen um sie als Lügen zu entlarven. Doch das Ganze hat einen Fehler: es wirkt nicht. In den USA glauben Trump Befürworter_innen immer noch, dass Trump die Mehrheit der Stimmen erhielt, obwohl dies tatsächlich sehr leicht nachprüfbar nicht der Fall war.

Aber warum wirken Faktenchecks nicht? Politikwissenschaftler Brendan Nyhan beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen, seit er Anfang der 2000er eine Faktencheck-Webseite ins Leben rief und merkte, dass die Aufdeckung von Lügen politisch äußerst selten Konsequenzen hatte. Nyhan näherte sich dem Problem interdisziplinär und verortete verschiedene Problematiken. Erstens überprüfen Menschen tatsächlich sehr selten Quellen oder die Statistiken, die sie konsumieren. Das liegt nicht daran, dass wir alle zu faul dazu sind, sondern dass es schon aus reinem Zeitmangel nicht möglich ist, immer alles zu überprüfen. So vertrauen wir Quellen, die wir oft heranziehen und die sich als vertrauenswürdig erwiesen haben, ohne sie jedes Mal zu überprüfen. Wird also beispielsweise eine Studie über islamische Kindergärten von einem renommierten Professor der Universität Wien veröffentlicht, glaubt man dieser wegen der Reputation der Institution. Ein Vertrauensverlust beginnt dann, wenn sich herausstellt, dass die Institution dem guten Ruf nicht gerecht wird. Nun steht nicht nur der eine Wissenschaftler in der Kritik, sondern die gesamte Institution erfährt eine Abwertung und viele Menschen sehen das Vorurteil bestätigt, dass Wissenschaft nur denen nützt, die sie in Auftrag geben. Berechtigte Wissenschaftsskepsis gleitet so leicht ab in Antiintellektualismus, vor allem wenn die Institution eher ihre eigenen Leute schützt als gegen Fehlverhalten vorzugehen. Und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht (mehr).

Den zweiten Grund, warum Faktenchecks nicht das gewünschte Ergebnis haben, leitet Nyhan psychologisch her: „There’s a high cost to accepting evidence that contradicts our beliefs" (Nyhan in „Why fact-checking can’t stop Trump’s lies“). Es ist psychisch schwierig, sich einzugestehen, dass man falsch liegt. Oft würde dann nicht nur eine Lüge in sich zusammen fallen, sondern ein ganzes Weltbild und Glaubenssystem. Auch soziologisch müsste ein hoher Preis bezahlt werden. Oft ist unser soziales Umfeld zusammengesetzt aus Menschen, die die gleichen Vorstellungen und politischen Meinungen haben. Diese zu ändern hieße dann, Familie und Freund_innen ständig widersprechen zu müssen, im schlimmsten Fall droht ein Ausschluss aus eben diesem sozialen Umfeld. Wir werden skeptisch gegenüber allem, was nicht unseren Vorstellungen entspricht. Dieses Phänomen betrifft beide Seiten des politischen Spektrums, auch Linke sind davor nicht gefeiter als Rechte. So ist es oft der erste Instinkt von Linken bei steigender „Ausländerkriminalität“, die Statistik zu hinterfragen und nach Erklärungen zu suchen, warum diese höher ist als die „Inländerkriminalität“, etwa rassistische Kontrollen oder höhere Armutsraten und weniger legale Kapitalbeschaffungsmöglichkeiten. Rechte fühlen sich von der Statistik in ihrem Denken bestätigt, doch viel häufiger trat dieses Jahr ein anderes Phänomen auf. Statt der ihrem Weltbild entsprechenden Statistik Glauben zu schenken, wurde diese von mehreren Rechten in Zweifel gezogen. Ihnen waren die Zahlen zu niedrig. Gerade die Anzeigen gegen Asylwerber_innen seien viel zu niedrig.

„Ich hab g’hört“.

Am 6. März postete die „Zeit im Bild“ einen Beitrag zur Kriminalitätsstatistik auf Facebook. Gleich darauf begann eine hitzige Diskussion, die so rassistisch verlief, dass große Teile davon gelöscht werden mussten. Ein rechter User beharrte darauf, dass die Statistik nicht stimmen könne, da die Polizei keine Anzeigen gegen Asylwerber_innen aufnehmen würde. Aufgefordert dies zu belegen, entgegnete der User, dass in Untermauerbach ein Freund von einem Freund von Asylbewerbern krankenhausreif geprügelt worden sei und weder Krankenhaus noch Polizei die Anzeige annehmen wollten. Seine Diskussionsgegner_innen machten sich die Mühe und riefen in Untermauerbach an und befragten Polizei und Krankenhaus. Es meldete sich sogar ein Untermauerbacher zu Wort, der angab, noch nie von diesem Vorfall gehört zu haben. Auch im Internet ist nichts entsprechendes zu finden. Daraufhin entgegnete der rechte User, dass die Medien und der Staat diese Meldungen unterdrücken würden. Jede weitere Präsentation von Fakten wurde als weiterer Beweis für die Verschleierung der Tatsachen abgeschmettert. Dieser User ist bei weitem nicht der Einzige, der keiner Statistik glaubt und dessen Denken derart von Verschwörungstheorien durchzogen ist, dass mit der Präsentation von reinen Fakten keine Diskussion zu gewinnen ist.

Der Schaden ist angerichtet

Bestätigung finden rechtsextreme Verschwörungstheoretiker_innen auf Internetseiten und in sozialen Netzwerken. Während Massenmedien früher die Torwächterfunktion hatten, Daten zu filtern und zu überprüfen, kann heute jede_r mit Internetzugang Bestätigung für die krudesten Verschwörungstheorien finden. Wurden früher wenigstens die härtesten Formen von Rassismus durch die Medien gefiltert, hat der Menschenhass nun freie Bahn in Facebook-Gruppen und Foren. Facebook-Seiten wie die von HC Strache mischen kräftig mit. Strache verhilft mit seiner enormen Reichweite Medien wie unzensuriert.at zu Beachtung. Bis ein Beitrag als Lüge entlarvt wird, ist er schon hunderttausendmal gesehen und geteilt worden. Der Widerruf findet zumeist nicht die gleiche Verbreitung. Faktencheck-Seiten wie kobuk.at haben nicht dieselbe Reichweite und auch ein ganz anderes Publikum.

Da etablierte Medien nicht die gleichen Fehlinformationen verbreiten wie unzensuriert.at und Co. entsteht der Eindruck, dass diese bestimmte Meldungen unterdrücken. Das Vertrauensdefizit in die Medien wächst. Aber auch etablierte Massenmedien unterstützen durch ihren Anspruch an falsch verstandene Objektivität rassistische Lügen. Da man „alle Seiten zu Wort kommen lassen“ möchte, werden rassistische Lügen als sagbare Meinungen dargestellt. Der scheinbaren Objektivität verpflichtet, können Strache und Co. vor Millionenpublikum von „Asylmissbrauch“ sprechen, ohne dass die Moderation groß widerspricht. Der Soziologe Herbert Marcuse nennt dies „unterschiedslose Toleranz“: Diese sei ein „Instrument der Fortdauer von Knechtschaft“. Er plädiert dafür, dass bestimmte Dinge nicht gesagt oder gedruckt werden dürfen. Als Gradmesser dafür schlägt er die Wahrheit, die geschichtlich klare Tatsache vor. Hierauf stützt sich das Verbotsgesetz in Österreich.

Nur was tut man in Situationen, bei denen es sich nicht um „geschichtlich klare Tatsachen“ handelt, wie der Kriminalitätsstatistik?

Die Erhebung von Statistiken ist nie objektiv und herrschaftsfrei und das sollte auch problematisiert werden und herrschaftskritisch aufgearbeitet werden. Wenn Daten und Fakten von rechts in Zweifel gezogen werden, ist dies nicht herrschaftskritisch, sondern verfolgt rassistische Denkmuster und menschenverachtenden Logiken. Nun kommt man als politische Linke plötzlich in die absurde Lage, herrschaftsaffirmativ Statistiken zu verteidigen, die man eigentlich kritisieren sollte. Stattdessen wäre es gewinnbringender, bei emanzipatorischer Wissenschaftskritik anzusetzen. Wer versteht wie Daten entstehen, wie Fakten zu Wahrheiten werden, lässt sich nicht so leicht ködern von Falschmeldungen. Weiters ist es wichtig über die Rohdaten zu verfügen, um die Interpretationen und Analysen überprüfen zu können. Eine entsprechende politische Weisung wäre hier angebracht. Die Kriminalitätsstatistik veröffentlicht diese Daten nicht und bereitet so den Nährboden für Verschwörungstheorien. Rohdaten nützen allerdings nichts, wenn man mit der schieren Masse der Daten nichts anfangen kann. Deshalb müssen Wissenschaftskritik und kritische Statistiklehre in den Schulen verankert werden, und zwar nicht nur in den Gymnasien, sondern in allen Schultypen.

Anne-Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien