Anna Radl

Studis am Ende

  • 04.02.2015, 17:31

Dem Ziel so nah und doch so fern – so schwierig kann der Uni-Abschluss sein.

Dem Ziel so nah und doch so fern – so schwierig kann der Uni-Abschluss sein.

Aller Anfang ist schwer, heißt es. Doch kaum jemand spricht darüber, dass das Ende genauso problematisch sein kann. Während nämlich zu Beginn des Studiums zahlreiche Tutorien und Infoveranstaltungen den Einstieg ins Unileben erleichtern, fühlen sich viele Studis auf den letzten Metern vor dem Abschluss allein gelassen.

FRODO STATT BACHELORARBEIT. Studierende, die ewig an ihrer Abschlussarbeit sitzen, die sich immer wieder vor der letzten Prüfung drücken oder gar – mit dem Ziel schon vor Augen – alles hinschmeißen, sind keine Einzelfälle. Sein Bachelorstudium an einer FH in Wien nach drei erfolgreichen Studienjahren ohne Titel beendet, hat etwa der 25-jährige Martin. 40 Seiten Bachelorarbeit – für ihn zum damaligen Zeitpunkt eine unbewältigbare Aufgabe. „Ich musste ständig daran denken, in meinem Kopf wurde die Arbeit immer größer und größer. Als letztendlich klar war, dass ich meine letzte Chance wirklich verpasst hatte, gab es deshalb kein Bedauern, sondern nur Erleichterung.“ Davor hatte Martin unter Stress, Frust und Ärger bereits eineinhalb Jahre an seiner Abschlussarbeit gefeilt. Lange Nächte saß er von Energydrinks aufgeputscht vor dem Computer und hatte um vier Uhr Früh keinen einzigen Satz niedergeschrieben. „Einmal habe ich mir einen ganzen Tag frei genommen, um mich voll auf die Arbeit zu konzentrieren. Am Ende hatte ich alle ‚Herr der Ringe‘- Filme in der extended Version am Stück gesehen.“ Die Folge war, wie immer, ein schlechtes Gewissen. Martin war gereizt, traurig und ständig schlecht gelaunt. Warum es ausgerechnet ihm so schwer gefallen ist, die Bachelorarbeit zu beenden, kann er bis heute nur vermuten: „Prinzipiell liegt mir das wissenschaftliche Arbeiten wohl nicht; an der FH lag der Fokus sonst ja auch eher auf praktischen Übungen. Aber dass das alles zu einem so großen Problem wurde, liegt wohl auch an einer persönlichen Veranlagung.“

HEMMUNGEN VOR HILFESUCHE. Die Hochschulprognose der Statistik Austria besagt, dass über 40 Prozent der heutigen StudienanfängerInnen ihr Studium ohne Abschluss beenden werden. Diese Dropout-Quoten sind laut einer Studie des Institut für höhere Studien (IHS) jedoch wenig aussagekräftig. Viele AbrecherInnen nehmen nämlich ein anderes Studium auf, wechseln zwischen FH und Uni oder bleiben inskribiert ohne Prüfungen abzulegen. Genaue Zahlen sind also schwierig zu ermitteln. Zumindest konnte festgestellt werden, dass neben vielen frühen Abgängen in den ersten drei Semestern die Abschlussphase ebenfalls eine besonders kritische Periode ist.

Doch die Hemmungen, um Hilfe zu bitten, sind groß. Eigentlich sollte Unterstützung ja auch von Seiten der Betreuerin oder des Betreuers gegeben werden. Doch immer wieder kommt es vor, dass hier auf eine Person über 50 Studierende kommen. Dabei bleibt der persönliche Kontakt zwangsläufig auf der Strecke. Eine alternative Form der Unterstützung können sich Betroffene bei der Psychologischen Studierendenberatung holen. Im Jahr 2013 wurden hier insgesamt 11.662 KlientInnen betreut. Abgesehen von bei der Studienwahl Unschlüssigen handelt es sich zum Großteil um KlientInnen, die bereits länger als fünf Jahre studiert haben.

Elisabeth Hefler ist klinische und Gesundheitspsychologin und leitet eine DiplomandInnen-Gruppe in der Beratungsstelle. Ihren Erfahrungen nach können unterschiedliche Faktoren zu einer Überforderung in der Studienabschlussphase führen. Dazu zählen etwa die persönlichen Fähigkeiten und die Themenwahl, aber auch die psychische Verfassung, diverse Ängste und Vorerfahrungen der Studis. Viele haben Probleme, weil plötzlich die gewohnten Strukturierungshilfen der Uni wegfallen. „Oft kommt es auch vor, dass Leute am Ende des Studiums bemerken, dass sie nicht wissen, was sie danach machen wollen – das kann Autonomieängste auslösen.“ Manche Studierende stehen aufgrund ihrer finanziellen Situation oder weil ihr Studiengang ausläuft unter Druck. Momentan sind es beispielsweise besonders viele Studierende im Diplomstudium Theater- Film- und Medienwissenschaft, die Hilfe in der Beratungsstelle suchen, da sie bis Ende April ihr Studium abschließen müssen.

ANGST VOR DEM LEEREN BLATT. Auch die 27-jährige Thewi-Studentin Sarah (Name von der Redaktion geändert) ist von dieser Frist betroffen. Für sie war das Auslaufen des Diplomstudiums Fluch und Segen zugleich. „Natürlich hat sich der zeitliche Druck und damit der Stress erhöht“, erzählt sie. „Doch ohne die Frist wäre ich wohl immer noch weit vom Studienabschluss entfernt.“ Offiziell soll das Thema einer Diplomarbeit so gewählt werden, dass es innerhalb eines halben Jahres ausreichend bearbeitet werden kann. Für eine Teilzeit-Berufstätige wie Sarah verlängert sich diese Zeitspanne. Doch Sarah hatte ihr Thema bereits im März 2013 eingereicht. Dass sie heute immer noch daran arbeitet, hat auch bei ihr zum Teil psychische Ursachen.

„Schon Seminararbeiten haben bei mir regelmäßig Probleme ausgelöst. Dabei lief es immer gleich ab: Erst wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte, dann kam die Panik und damit auch die Schreibblockade. Das war bei der Diplomarbeit nicht anders. Oft fühlte ich mich nicht fähig, einen geraden Satz zu formulieren.“ Aus dem Druck heraus, zumindest irgendetwas aufs Papier zu bringen, begann Sarah ungenau zu arbeiten, was schlussendlich aber zusätzlichen Aufwand bedeutete. „Immer wieder nahmen die Zweifel überhand und ich dachte, ich würde den Abschluss nie schaffen. Das ging sogar so weit, dass sich der Stress körperlich äußerte.“ Heute steht Sarah trotz aller Schwierigkeiten kurz vor dem Abschluss. Der Weg zur fertigen Diplomarbeit war für sie mühsamer als für andere. Auch auf die Zeit danach blickt sie nicht gänzlich unbeschwert. Für sie gilt wohl wie für viele ihrer KollegInnen: Das Studium mag manchmal beschissen sein. Aber leider kann niemand versprechen, dass es auf der anderen Seite der Ziellinie besser aussieht.
 

Anna Radl studiert Globalgeschichte und Global Studies an der Universität Wien und schreibt gerade an ihrer Masterarbeit.

Erasmus für alle?

  • 22.06.2013, 23:59

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Wie lernen sich ein steirischer Bauernsohn und ein Citygirl aus Birmingham kennen? Im Normalfall gar nicht – sie kommen aus allzu unterschiedlichen Welten. So wäre es auch Reini Moschitz ergangen, hätte er nicht an jenem Tag vor elf Jahren in einem Portugiesisch-Kurs in Coimbra gesessen und seine künftige Frau Diana das erste Mal gesehen. Und Julius, Isi und die kleine Amadea, die heute in einem versteckten Garten hinter den Mauern des Schloss Belvedere herumtollen und einander ein buntes Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch zurufen, gäbe es auch nicht.

„Im normalen Leben hätten wir uns nie kennengelernt“, sagt Diana. Erasmus machte es möglich. Das Paar verliebte sich und verbrachte ein aufregendes gemeinsames Jahr in Portugal. Nach vorübergehender Trennung, jahrelanger Fernbeziehung und gemeinsamen Auslandsaufenthalten haben sie 2008 geheiratet. Die Hochzeitsgäste reisten aus 26 verschiedenen Ländern an. Im September erwarten sie ihr viertes Kind.

Geschichten wie die von Reini und Diana machen Erasmus seit gut 25 Jahren zum Vorzeigeprogramm der EU. Hier werden junge Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zu Europäerinnen und Europäern. Kein Wunder also, dass das Programm auch in Österreich immer beliebter wird. Im Studienjahr 2011/12 haben insgesamt 5590 österreichische Studierende einen Erasmus-Aufenthalt absolviert. Die Zahlen steigen seit 1992, als die ersten Studierenden aus Österreich ins europäische Ausland geschickt wurden, stetig an. Dem taten auch Änderungen in den Studienplänen, die mit der Bologna-Umstellung einhergingen, keinen Abbruch.

Bei einer solchen Erfolgsgeschichte war es für viele ein Schock, als vor einigen Monaten die Medien berichteten, dass die Erasmus-Förderungen gekürzt werden sollen. Gerhard Volz, der beim Österreichischen Austauschdienst (OEAD) Bereichsleiter für Erasmus ist, kann beruhigen: „Da ist wohl in der Pressearbeit der Kommission etwas fehlgeschlagen.“ Ein verunglückter Marketing-Gag: Die europäische Kommission wollte wohl durch diese Ankündigungen Aufmerksamkeit erregen, gerade weil Erasmus ein solches Prestigeprojekt darstellt. Geführt hat die Pressearbeit aber vor allem zu Verwirrung. Die tatsächliche Finanzierung des Programms sei laut Volz nie in Gefahr gewesen. „In Österreich wäre notfalls auch das Wissenschaftsministerium eingesprungen, um die versprochenen Stipendien auszahlen zu können“, sagt er.

Über das Erasmus-Budget ab 2014 werde aber sehr wohl noch verhandelt. Denn dann startet das neue Bildungsprogramm der EU mit dem Titel „Erasmus für alle“. Zwar soll es insgesamt zu einer Aufstockung der Mittel in diesem Bereich kommen, wie sich das Budget auf die einzelnen Programme verteilen wird, ist aber noch nicht klar. Auch inhaltliche Änderungen sind angedacht, jedoch noch nicht beschlossen. So sollen etwa weitere Länder in den Erasmus-Raum aufgenommen werden. Es gibt also noch einiges zu klären und die Zeit drängt, denn schon im nächsten Studienjahr soll es losgehen.

Diana und Reini Moschitz lernten sich in Coimbra auf Erasmus kennen. Foto: Luiza Puiu

Der Arbeitstitel des neuen Programms verspricht „Erasmus für alle“. Ob man das wohl halten kann? „Leider nein“, sagt Volz: „Die Erfahrung zeigt, dass ein Auslandssemester für Studierende umso wahrscheinlicher ist, je höher der berufliche Status und der akademische Ausbildungsgrad der Eltern angesiedelt sind.“ Derzeit ist das Erasmus-Stipendium, das den Studierenden zur Verfügung steht, an die Lebenserhaltungskosten des Gastlandes gekoppelt. So bekommt eine Erasmus-Studentin, die nach Schweden geht, einen Zuschuss von 368 Euro im Monat. Ihr Kollege, der in Paris studiert, erhält nur 300 Euro, weil Frankreich in eine niedrigere Kategorie fällt. Dass damit in Städten wie Paris nicht einmal ansatzweise die Miete für ein kleines Zimmer gedeckt ist, wird nicht berücksichtigt. In jedem Fall reicht das Stipendium nicht als einzige Finanzierungsquelle. Die meisten Erasmus-Studierenden werden deshalb von ihren Eltern unterstützt, müssen auf Erspartes zurückgreifen oder sich um zusätzliche Fördermittel bemühen.

Und auch wer die nötigen familiären und finanziellen Voraussetzungen erfüllt, hat immer noch einige Hürden zu überwinden. Am Beispiel der Wienerin Manuela wird das besonders deutlich: Sie macht einen Master an der TU Wien und ist eine prädestinierte Erasmus-Teilnehmerin – sie hat sehr gute Noten und sogar einen studienbezogenen Nebenjob. Schon jetzt hat sie das Auslandssemester 250 Euro gekostet: TOEFEL-Sprachtest mit Vorbereitungsbuch, eingeschriebene Eilbriefe und Telefonate ins europäische Ausland. Und das, ohne Wien überhaupt verlassen zu haben.

Dabei fing alles gut an: Fristgerecht gab Manuela ihre Bewerbung mit den nötigen Unterlagen ab. Ihre erste Wahl war Helsinki. Sie wurde abgelehnt. Eine andere Studentin habe schon mehr ECTS gesammelt als sie, hieß es von der zuständigen Koordinatorin an der TU. „Mehr ECTS als ich kann man fast nicht haben, denn dann ist man mit dem Studium fertig“, sagt Manu. Für ihre zweite Wahl bekam sie erst gar keine Absage. Der zuständige Koordinator nominierte zwar einen Studierenden, lehnte aber die anderen BewerberInnen nicht ab. So blieb Manu im System hängen, ihre Bewerbung wurde nicht weitergeleitet. Nach Ablauf aller Fristen stand sie ohne Erasmus-Platz da. Nach einigen Beschwerden und vielen „wir können da nichts mehr machen“ seitens der KoordinatorInnen und des Erasmus-Büros wurde sie für einen Restplatz in Dänemark nominiert – eine fixe Zusage hat sie bis heute nicht.

Erasmus ist eben nicht nur eine großartige Erfahrung, sondern auch ein unglaublicher Papieraufwand. Die Gelder kommen von der EU-Kommission, werden von den jeweiligen Nationalagenturen verwaltet und an die Studierenden verteilt. Wer aber auf Erasmus gehen darf, entscheidet jeder Studiengang mit seinen FachkoordinatorInnen selbst. Das sind Uni-ProfessorInnen, die sich neben ihrer Forschung und Lehrverpflichtung zusätzlich – und unentgeltlich – um die Vergabe der Erasmus-Plätze kümmern; tun sie das nicht, passiert das zum Schaden der Studierenden, wie der Fall von Manu zeigt.

Erasmus endet auch nicht mit dem Rückflug. Zuhause angekommen, wird mit den FachkoordinatorInnen weiterverhandelt. Es muss geklärt werden, ob die Lehrveranstaltungen, die an der Gastuni besucht wurden, auch für das eigene Studium angerechnet werden. Obwohl jedeR Erasmus Studierende dies bereits in Form eines Learning Agreements vor Abreise mit seiner eigenen Uni und der Gastinstitution vereinbart, kommt es immer wieder zu Problemen. Müssen Prüfungen nachgemacht oder sogar ganze Lehrveranstaltungen wiederholt werden, kann sich das Studium verlängern – im schlimmsten Fall müssen sogar Studiengebühren bezahlt werden. „Das sind aber nur Einzelfälle“, beruhigt Karin Krall vom Büro für internationale Beziehungen der Uni Wien. Das bestätigt auch die PRIME-Studie des Erasmus Student Network (ESN) aus dem Jahr 2010, die sich mit Anrechnungsproblemen auseinandersetzt. Von fast 9000 europäischen Studierenden gaben lediglich 12,9 Prozent an, dass sich ihr Studium durch den Auslandsaufenthalt verlängert hat. Auch Reini, der seine Studienzeit neben Graz und Coimbra noch an drei weiteren internationalen Unis verbrachte, kennt die Probleme bei den Anrechnungen: „Ja, es kostet jede Menge Mühe und Zeit“, sagt er: „Trotzdem wäre es mir den Aufwand immer wieder wert.“

Und er ist nicht der Einzige, der so denkt. Auch Claudia Walouch wurde während ihres Semesters in Göteborg mit dem Erasmus-Virus infiziert. „Als ich zurückkam, hatte ich richtig Panik, dass ich mit keinen internationalen Studierenden mehr in Berührung komme“, erzählt sie. Drei Jahre lang war sie deshalb ehrenamtlich für ESN tätig. Das Netzwerk gibt es mittlerweile in 36 Ländern. Mit Ausflügen, heimischen PartnerstudentInnen (sogenannten „Buddys“) und Partys hilft es den Ankömmlingen, im Gastland Anschluss zu finden. Dass es bei Erasmus nur ums Feiern geht, wie dem Programm öfter vorgeworfen wird, stimmt nicht. Claudia hat durch ihre Zeit in Göteborg und ihre Arbeit bei ESN herausgefunden, was sie machen will: Heute arbeitet sie für die Studienzulassung im Auslandsreferat der WU und hat täglich mit internationalen Studierenden zu tun. Es scheint, als würde die interkulturelle Kompetenz, die ein Auslandsstudium mit sich bringt, immer noch eine spezielle Auszeichnung für das spätere Berufsleben sein.

Interkulturelle Kompetenz – die verlangt nicht nur die Berufswelt, sondern auch der Alltag in einer Union mit 500 Millionen BürgerInnen mit verschiedensten Wurzeln. Es gibt wohl kein zweites Programm, das diese Fähigkeit so gut vermittelt. Erasmus ist aber keineswegs für alle; noch richtet sich das Programm an eine akademische Elite. Aber jeder fängt klein an: Im allerersten Erasmusjahr 1987 nahmen 3244 Studierende aus elf Ländern am Programm teil. Mittlerweile sind es jährlich über 230.000. Wie viele werden es wohl sein, wenn im Jahr 2020 „Erasmus für alle“ ausläuft? Und wie viele erst, wenn Julius, Isi und Amadea auf Erasmus gehen? Aber denen wurde die interkulturelle Kompetenz ja sowieso schon in die Wiege gelegt.

Zwei Erfahrungsberichte:

Daniel Wenda (22) studiert an der Fachschule Kufstein Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement

Daniel Wenda (22), Fachschule Kufstein, Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement. Foto: Luiza Puiu

Daniel ist anders. Anders als die meisten anderen österreichischen Erasmus-Studierenden: Die sind weiblich, studieren an der Uni Geschichte oder Jus und gehen nach Madrid oder Paris. „Was soll ich dort? Da war doch schon jeder auf Urlaub“, dachte sich Daniel. Er entschied sich für die litauische Hauptstadt Vilnius. Während viele Studis es schwer haben, Einheimische in den Gastländern kennenzulernen, wurde Daniel von seiner Mentorin Akvile Skurkaite vom Flughafen abgeholt. Sie zeigte ihm schon in den ersten Wochen, wie die baltische Hauptstadt tickt, und begleitete ihn während seines ganzen Aufenthalts. Auch hatte er keine Schwierigkeiten, sich sein Leben zu finanzieren: Mit der Erasmus-Förderung konnte er sich ein geräumiges WG-Zimmer direkt im Zentrum von Vilnius leisten und einen Teil seiner Lebenserhaltungskosten abdecken – dafür reicht das Geld in anderen europäischen Hauptstädten nicht mal ansatzweise.
Der Nationalfeiertag und das Oktoberfest wurden in der österreichischen Botschaft begangen und im Einkaufszentrum gab es ein Bistro mit Meinl-Kaffee und Mannerschnitten. Sonst hatte Daniel wenig mit Landsleuten und österreichischer Kultur zu tun. Denn er war nur einer von etwa 20 ÖsterreicherInnen, die ihren Erasmus-Aufenthalt im letzten Studienjahr in Litauen verbrachten. Trotz eher spärlicher Kenntnisse der Landessprache hat sich Daniel gut zurechtgefunden: „Alle jungen Leute in Vilnius sprechen Englisch.“ Bereits in Österreich konnte er sich aus einem dicken Katalog, den ihm die Gastuni zugeschickt hatte, Lehrveranstaltungen aussuchen. Da gab es Kurse auf Litauisch und Russisch, auf Deutsch und Italienisch. Und sogar auf Suaheli – für diejenigen, die besonders lernwillig waren.

Zum zweiten Erfahrungsbericht:

Louise Tersen (23) kommt aus Paris und studiert BWL an der WU Wien

Während die einen einfach nur aus Österreich rauswollen, vergisst man manchmal, dass andere mit großer Freude hierher kommen. Ja, auch Wien kann etwas Spannendes an sich haben. Etwa für die Französin Louise, die ein Erasmus-Semester an der WU verbringt. Ungewohnt ist für sie beispielsweise die schwere österreichische Küche – Schweinsbraten, Leberknödel und Gröstl –, die sie augenzwinkernd als „Winter-Nahrung“ bezeichnet.
Über Erasmus wollte sie ihr Deutsch verbessern. „Bei einer Auswahl zwischen Mannheim, München und Wien ist mir die Entscheidung nicht schwergefallen“, sagt Louise. Von einer österreichischen Sprach-Tandem-Partnerin hatte sie schon vorab viel über ihre Gaststadt erfahren. „Natürlich hatte ich noch dieses romantische Image vom historischen Wien, aber ich war auch schon auf ein aufregendes Nachtleben und ein vielfältiges Kulturangebot vorbereitet.“ Um auch wirklich mit der österreichischen Kultur in Berührung zu kommen, war für Louise klar, dass sie nicht mit zig anderen Erasmus-Studis in ein Wohnheim wollte. Stattdessen lebt sie jetzt mit drei OberösterreicherInnen in einer WG im 2. Bezirk. Der Anschluss, den sie dort gefunden hat, wäre über die Uni nur schwer zu finden gewesen: „Die meisten Kurse in meinem Masterprogramm finden auf Englisch statt. Dort sitzen fast nur internationale Studierende. Außerdem ist es klar, dass viele österreichische Studis nicht daran interessiert sind, Freundschaften
aufzubauen, wenn der oder die andere nach einem halben Jahr wieder weg ist.“ Louise hat es trotzdem geschafft, aus der Erasmus-Bubble auszubrechen und sich in Wien heimisch zu fühlen. „Mit Juli schließe ich mein Studium ab und befinde mich bereits jetzt auf Jobsuche. Sollte sich in Wien eine Möglichkeit auftun, wäre es großartig, einfach hier zu bleiben.“

Louise Tersen (23), aus Paris, studiert BWL an der WU Wien. Foto: Luiza Puiu

 

Die Autorinnen studieren Globalgeschichte und Rechtswissenschaften an der Uni Wien.