Zwischen Textmarkern und Tränengas
Ursprünglich hätte dieser Artikel die Unterschiede zwischen “Studieren in Österreich” vs. “Studieren in Hong Kong” thematisieren sollen. Und da gibt es einige. Aber das ist jetzt nicht mehr relevant, denn Studieren in Hong Kong ist für dieses Semester vorbei. Während wir diesen Artikel schreiben, sitzen wir in verschiedenen vorübergehenden Unterkünften mit den wichtigsten Sachen im Rucksack, bereit, Hong Kong vorerst zu verlassen. Statt in die finale Phase vor den Prüfungen zu starten, wurde am Montag, den 11. November, zu einem erneuten Boykott an Schulen und Universitäten aufgerufen. Nichts ungewöhnliches mehr für uns, da wir Hong Kong nicht ohne Proteste erlebt haben. Aber dieses Mal kam es dann doch anders.
Vor dem Wohnheim der City University wurden Straßenblockaden aus Ziegelsteinen, Gittern und allem möglichen errichtet, um die Polizei davon abzuhalten, den Campusbereich zu betreten. Von da an begannen viele der Bewohner_innen, die Brücke und den Campus zum Schutz aufzurüsten, zum Beispiel mit Tischen und Regenschirmen. Am nächsten Morgen kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Polizei und Protestierenden, wobei die Polizei Gummigeschosse einsetzte und Tränengas in die Mitte des Wohnheimgeländes schoss. Laut dem Sender ARMchannel gab ein Officer die Anordnung, mit den Gummigeschossen auf die Köpfe der Studierenden zu zielen. Für diesen Abend wurde zum ersten Mal eine Sicherheitswarnung von der Uni ausgesendet. Wer kann, soll die Unterkunft verlassen und ansonsten im Zimmer bleiben und die Türe schließen. Die Nacht blieb ruhig. Trotzdem wurden am nächsten Tag vorübergehende Unterkünfte vor allem für internationale Studierende von der Universität organisiert. Andere Studierende aus Festland-China wurden mit Bussen nach Shenzhen über die Grenze gebracht. Viele von ihnen fühlen sich durch die Spannungen zwischen Protestierenden und Establishment-Unterstützer_innen nicht mehr sicher. Selbst da dachte man noch, dass alles wieder „normal” wird.
Am 12. November wurde dann das Semester an meiner Universität, der City University of Hong Kong vorzeitig beendet, nachdem andere Universitäten, die noch härter von den Zusammenstößen zwischen Polizei und Studierenden betroffen waren, dies schon zuvor getan hatten. Am schlimmsten traf es die Chinese University of Hong Kong, die schon vorher eine Rolle in den Protesten spielte. Dort wurden laut Fotografin Laurel Chor, die die Proteste auch auf Instagram dokumentiert hat, innerhalb von einem Tag 1300 Tränengas-Kanister verschossen. Seit Juli waren es bis dahin ca. 6000 gewesen. Zum Ende der Woche erreichten Auseinandersetzungen ihren bisherigen Höhepunkt an der Polytechnischen Universität. Als letzte besetzte Hochschule wurde diese zum Ziel eines verheerenden Polizeieinsatzes. Studierende versuchten die Uni mit Pfeilen und Benzinbomben zu verteidigen, während die Polizei unaufhörlich Tränengas feuerte. Auch scharfe Munition wurde vor Ort gesichtet. Das Gefecht dauerte über einen Tag und Studierende waren gefangen in ihrer eigenen Uni. Vielen Verletzten konnte nicht geholfen werden, da medizinisches Notfallpersonal teilweise von den Polizeikräften festgehalten wurde. Statistiken des Telegram-Channels „youarenotalonehk“ stiegen danach auf fast 4.500 Verhaftete von 11-83 Jahren und mindestens 9,100 Tränengas-Einsätze vom 9. Juni bis zum 15. November. Außerdem wurden 2000 Gummi- sowie Schwammgeschosse eingesetzt und es wurde mindestens 14 Mal scharf geschossen. Nachdem sich die Lage an den Unis innerhalb einer Woche so radikal verändert hat weiß niemand, wie es jetzt weitergeht.
Zu den Eskalationen an den verschiedenen Universitätscampussen kam es, nachdem ein 22-jähriger Student am 8. November verstorben war. Er lag mehrere Tage im Koma, nachdem er in einem Parkhaus bei einer Räumungsaktion der Polizei unter ungeklärten Umständen ein Stockwerk tief gestürzt war. Es dauerte über eine halbe Stunde bis Rettungskräfte an der Polizei vorbei konnten, um Hilfe zu leisten.
Wie alles begann:
Am 9. Juni wurde von der Regierung ein neues Auslieferungsgesetz vorgeschlagen, welches erlauben würde, Verhaftete für ihren Prozess von Hong Kong nach China zu überstellen. Viele sahen dies als einen weiteren Schritt von Peking, die Sonderverwaltungszone Hong Kong mehr und mehr unter die Kontrolle der chinesischen Regierung zu bringen. Offiziell gilt das Motto „Ein Land, zwei Systeme“, das heißt, dass Hong Kong zwar ein Teil von China ist, aber eine eigene Verwaltung hat. Bürger_innen in Hong Kong können zwar ihre Regierung wählen, allerdings wird über die Hälfte der Kanditat_innen von der chinesischen Führung vorgeschlagen. Nach dem „Umbrella Movement“ 2014, das sich formte, um den Einfluss Chinas auf Schul-Curricula in Hong Kong zu verhindern, erleben wir nun die nächste Protestbewegung für den Erhalt der Freiheit und mehr Demokratie in Hong Kong. Offiziell endet Hong Kongs Sonderstatus 2047. Der Widerstand gegen das geplante Auslieferungsgesetz zeigte sich schnell. In den zwei Wochen danach versammelten sich bis zu zwei Millionen Menschen, um friedlich zu protestieren. Ihre Forderung lautet einzig und allein, das Gesetz zurückzuziehen. Doch die Regierung zeigte vorerst keine Reaktion darauf. Mit der Zahl der Protestmärsche stieg auch die Anzahl der Beschwerden über unrechtmäßiges Vorgehen der Polizei. Darunter der Einsatz von Pfefferspray und Tränengas sowie unverhältnismäßige Gewalt bei Verhaftungen, oft sogar ohne erkennbare Identifikationsnummer. Während den fortwährenden Protesten entstanden 5 Forderungen, die im Laufe der Zeit charakteristisch für die Demokratie-Bewegung wurden. „Fünf Forderungen, nicht eine weniger“ ist einer der Slogans, der die Regierung dazu auffordert, etwas zu ändern. Zu diesen fünf Forderungen gehören die Zurücknahme des Auslieferungsgesetzes, eine unabhängige Untersuchungskommission zum Einsatz von Polizeigewalt, die Zurücknahme der Einstufung der Protestierenden als „Aufständische“ durch die Regierung, Freispruch für alle Protestierenden und ein allgemeines Wahlrecht. Nicht nur die Polizei versucht mit harten Mitteln, die Masse im Griff zu behalten. Am 21. Juli kam es zu Angriffen durch weiß bekleidete Männer mit Baseballschlägern, die wahllos in einer U-Bahn-Station auf Protestierende und Passant_innen einschlugen. Sie werden den Triaden zugeordnet. Abgesehen davon gab es weitere Übergriffe durch China-Unterstützer_innen. Zu diesem Zeitpunkt war die Gewalt für die meisten noch klar einer Seite zuzuordnen, nämlich der Seite der Regierung.
Die Bewegung
Der Zusammenhalt in der Bevölkerung ist groß und jede_r kann ein Teil davon sein. Genau das ist ihr Vorteil. Die Bewegung ist dezentral organisiert. Der Spruch „Sei Wasser“ aus Bruce Lees Song „be water my friend“ charakterisiert die Form der Proteste. Die Massen sind flexibel und können sich jederzeit schnell von einem Ort zum anderen bewegen. Sie sind formlos wie Wasser, aber trotzdem stark. Eine Methode, sich gegenseitig zu motivieren, sind die Slogans, die sich von Protestierenden täglich zugerufen werden. Neben „5 Forderungen, nicht eine weniger“ heißte es auch oft „Befreit Hong Kong, Revolution unserer Zeit“. Dieser Slogan wurde zuerst von Aktivist Edward Leung in den Lokalwahlen 2016 genutzt, um zu betonen, wie Menschen unabhängig von Alter und Herkunft am Wandel Hong Kongs beteiligt sein können. In der Universität, im Einkaufszentrum oder auf der Straße beginnt oft eine Person, den ersten Teil auf Kantonesisch „Gwong fuk heung gong“ zu rufen, worauf alle anderen dann mit „was si doi gak ming“ antworten. Ein weiterer Ausdruck der Unterstützung für die Demokratie-Bewegung sind die sogenannten Lennon-Walls, an denen unterstützende Botschaften, aber auch Informationen über polizeiliche Übergriffe gesammelt werden. Universitäten sind dafür ein beliebter Ort, genauso wie viele Stationen von öffentlichen Verkehrsmitteln.
Eine Frage der Gewalt?
Nachdem Menschen immer öfter auf die Straße gingen und die Gewalt zunahm, hatte sich Regierungschefin Carrie Lam dazu durchgerungen, das Gesetz vorerst zu verwerfen. Etwas, von dem sich jedoch kaum jemand beeindrucken ließ. Selbst als sie es im September vollständig zurückzog, war es lange zu spät. Es reichte der Bevölkerung nicht mehr. Es sind fünf Forderungen und keine weniger.
Da sich nichts änderte, entwickelte sich ein Gefühl von Frust und Hilflosigkeit bei vielen und diesem Frust wurde freier Lauf gelassen. Ein großes Ziel der Zerstörung sind U-Bahn-Stationen. Betrieben wird das gesamte Netz nämlich von der Mass Transit Railway Company (MTR), die sich im Laufe der Proteste dem Druck Chinas gebeugt hat und nun aus strategischen Gründen während verschiedener Demonstrationen Stationen schließt. Nach den Ereignissen am chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober, bei denen ein Schüler angeschossen wurde, sperrt die MTR für einen ganzen Tag ihren Betrieb. Nur langsam ist die U-Bahn wieder länger nutzbar. Bis heute behält sich die Führung aber das Recht vor, Stationen willkürlich zu schließen und den Betrieb zu beenden. Ihnen wird auch eine Mitschuld an den Geschehnissen vom 31. August gegeben, als die Polizei die Prince-Edward-Station stürmte, Menschen verprügelte und mit Waffen bedrohte. In den letzten Monaten kam es deswegen in vielen Stationen vermehrt zu Sachbeschädigungen. Genauso wurden Geschäfte, die die chinesische Regierung unterstützen oder sich offiziell gegen die Proteste aussprechen, zerstört. In Einzelfällen wurden auch politische Gegner_innen körperlich angegriffen. Durch ein Vermummungsgesetz versucht die Regierung weitere Ausschreitungen seitens der Demokratie-Bewegung zu verhindern. Als Antwort darauf wird zu mehr Demonstrationen mit verschiedenen Masken aufgerufen. Wie am Schluss des Filmes „V wie Vendetta“ strömen hunderte Menschen mit Guy-Fawkes-Masken in die Straßen. Wird auch hier am Ende, wenn auch nur symbolisch, das Parlament gesprengt?
Wie es jetzt weitergeht ist unklar. Gesetzesüberschreitungen auf beiden Seiten bestimmen die Situation und anstatt die Lage zu deeskalieren warnt die Regierung, dass Gewalt nur noch mehr Gewalt nach sich ziehen wird. Einige wenden sich von den Demonstrant_innen ab, da sie sich nicht mehr mit zum Teil gewalttätigen Mitteln der Bewegung identifizieren können. Aber was ist die Alternative? „Wir haben diese Situation nicht gewollt, und trotzdem werden wir dafür verantwortlich gemacht“, heißt es auf einem Schild auf dem Campus. Die Stimmung ist angespannt. „Es sind jetzt fünf Monate und ehrlich gesagt hat sich nicht viel verändert“, sagt eine maskierte Person. „Aber ich hoffe, es gibt jetzt eine Veränderung“.
Hong Kong in dieser Zeit zu verlassen ist für uns nicht einfach. Was hier geschieht braucht internationale Aufmerksamkeit. Ein Projekt, dass zum Beispiel an die internationale Solidarität appelliert ist Hong Kongs „Global Lady Liberty“. Hier werden Spenden gesammelt, um die Freiheitsstatue, die mit Gasmaske, Regenschirm und Flagge ein Symbol der Proteste ist, nachzubauen. Damit soll die Unterstützung des Kampfes für Demokratie gezeigt werden.