Die Queeren Kinder der Umm el-Dunya

„Umm el-Dunya“ bedeutet auf Arabisch „Mutter der Welt“ und ist eine arabische
Redewende, die Ägypten beschreibt und die historischen Leistungen der antiken Zivilisation
in der Region betont. Nur hat die Umm el-Dunya ein scheinbar schmutziges Geheimnis, das
sie und ihre Familie zu leugnen versuchen, weil es von der Gesellschaft nicht akzeptiert
wird. Sie hat queere Kinder, mich eingeschlossen.
Als ich in Kairo in die Unterstufe ging war „Erstargel“ eine Aufforderung, mit dem ich sehr
oft konfrontiert war. Sei es in der Schule von Schulkolleg_innen und Lehrer_innen, von
Familienmitgliedern, von einst mir sehr nahestehenden Personen oder sogar von Fremden
auf der Straße. „Estargel“ lässt sich am treffendsten mit dem Englischen „Man up“
übersetzen und bedeutet “werde ein Mann“ oder „sei mehr wie ein Mann“.
Ein paar mir vertraute Kontexte:
„Estargel“, denn dein Verhalten ist sehr feminin.
„Estargel“, weil du nur mit Mädchen plauderst wenn du lieber mit Jungs Fußball spielen
solltest.
„Estargel“, denn dein Gang ist „schwul“.

Auf unterschiedlichste Art und Weise stach ich hervor, da ich nicht dem Männlichkeitsideal
meiner Umgebung und meiner Familie entsprach. Ich spielte nicht Fußball, hatte kaum
männliche Freundschaften und konnte mich mit dem stereotypischen Machobild hinter
„Estargel“ nicht identifizieren. Als ich zwölf Jahre alt war begriff ich, dass ich keinerlei
sexuelles Interesse an Frauen hatte und selbst als mir Jahre später klar wurde, dass ich auf
Männer stehe, habe ich mich nicht als „schwul“ oder gar „queer“ einordnen können. Grund
war meine Sozialisierung und Erziehung in Kairo, der Hauptstadt Ägyptens und größten
Stadt im Nahen Osten. Ganz zu schweigen davon, dass es zur Zeit meiner Jugend kein
arabisches Wort für „homosexuell“ gab, das nicht „pervers“ oder „abartig“ bedeutete oder
generell negativ behaftet war.

Ägypten, wie viele andere Länder in der Region, tabuisiert weitgehend Homosexualität und
LGBTQ*-Themen aus verschiedensten Gründen, sei es wegen einer bestimmten
Moralvorstellung, der spezifischen Kultur im jeweiligen Land, der Religion und/oder wegen
der Folgen europäischer Kolonialisierung. Nicht tabuisiert ist das Wort „Schwuchtel“, das
beim Mobbing am Schulhof oder beim Beschreiben von nicht ausreichend „männlichen“
Männern schnell einmal fällt.
Staatliche Unterdrückung
Zwar gibt es in Ägypten formell keine Gesetzeslage zur Bestrafung von Homosexualität, es
kommt aber vor, dass queere Menschen unter den Vorwürfen „Ordnungswidrigkeit“ und
„Entartung der Sitten“ inhaftiert werden. Diese Fälle wecken breite mediale
Aufmerksamkeit, bekannte Nachrichtensprecher_innen stempeln die unschuldig
Inhaftierten als „krank” und „geistesgestört“ ab. Mächtige Institutionen wie zum Beispiel die

Koptische Kirche, der Staat oder die islamische Al-Azhar Organisation wähnen sich im
Feldzug gegen das moralisch Böse und sehen queere Lebensentwürfe als bekämpfenswert.
Die Unterdrückung der queeren Szene in Kairo war und ist nie konstant gewesen.
Tatsächlich gab es Phasen, in der es von Seiten der Staatsgewalt mal mehr, mal weniger
Repression gab. So zum Beispiel die Zeit vor dem Arabischen Frühling, in der es wesentlich
einfacher gewesen sein soll, sich zu vernetzen. Da galten andere Randgruppen als
Zielscheibe. Ebenso verhält es sich mit dem stetigen Auf und Ab von medialen
Hetzkampagnen gegen die queere Minderheit, die sich ohnehin für die eigene Sicherheit
verstecken muss. Zurückzuführen ist dieses Phänomen einerseits auf die sich immer
verändernde innenpolitische Lage (Revolutionen, kontroverse Wahlen,
Terrorismusbekämpfung) als auch auf die abwechselnde Bereitschaft der Polizei und
Repressionsbehörden mit Gewalt zu handeln.

Auch ist die staatliche und soziale Repression,
die queere Menschen erleben, abhängig von der sozio-ökonomischen Schicht, aus der die
Betroffenen herstammen. In „Sex and the Citadel“, dem Buch der Wissenschaftsjournalistin
Shereen El Feki, erkundigt sie im Kapitel „Dare to be different“ die queere Szene Kairos. So
legt ein Lehrer einer elitären Schule im Gespräch mit ihr fest: „Es geht um Macht“. Die
Polizei traut sich keine Razzia in geschlossenen, abgetrennten Wohnkomplexen
durchzuführen, in denen Ärtz_innen, Rechtsanwält_innen, Autor_innen, Professor_innen,
usw. verkehren. Auch im kontroversen Film „Family Secrets“ wird Ähnliches geschildert:
Marwan, ein Achtzehnjähriger, der schwul ist, outet sich und wird trotz heftiger sozialer
Abgrenzung und Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie nicht verhaftet. Sein Vater ist
einflussreicher Geschäftsmann. Er landet bei fünf verschiedenen Therapeut_innen und ihm
wird aus falscher Fürsorge der Familie die Chance gegeben, seine Homosexualität „heilen“
zu lassen, was vielen Menschen niedrigerer sozialen Schichten keine Option ist.

Auch nach meinem Coming-Out war die erste Reaktion eines nahestehenden
Familienmitglieds, panisch zum Hausarzt zu fahren und zu fragen, wie man meine
„Krankheit“ heilen kann. Mein Glück war es, dass der Hausarzt in den USA studiert hatte
und meiner Familie medizinisch erklären konnte, dass Homosexualität keine Krankheit ist
und dass es keine Heilmittel gibt. Selbst nicht mehr Testosteron, was als Vorschlag eines
anderen Familienmitglieds kam. Anders war die Reaktion eines bestimmten Imams, der mir
mit religiöser Autorität aufgrund strittiger Sekundarquellen des Islams erklärte, warum ich
einen Exorzismus brauchen würde. Ein anderes Familienmitglied legte mir nahe, dass es
doch nur eine Phase ist und dass ich einfach mehr Sport betreiben soll. Auch ein Bluttest
wurde vorgeschlagen. Zu dem Zeitpunkt war ich längst nach Österreich gezogen, wo meiner
österreichischen Familie mein Coming-Out viel leichter fiel als mir selbst. Denn mich als
schwuler Mann zu identifizieren bedeutete für mich anfangs das Auflehnen gegen eine
soziale Ordnung, an die ich aufgrund meiner Erziehung in Kairo fest glaubte und die für mich
als unerschütterlich galt. Doch ich bin mit österreichischem Pass und der Möglichkeit, nicht
in Ägypten leben zu müssen, im Vergleich zu vielen anderen privilegiert.

Unterdrückung als Ablenkungsstrategie
Oft fungiert die Unterdrückung von Individuen oder gar ganzen Gruppen als Manöver, um
von der wirtschaftlichen und demokratiepolitischen Notlage des Landes abzulenken, wie
zum Beispiel im bekannten Fall „Cairo 52“, wo im Jahr 2001 52 Männer in einem Nachtclub

für homosexuelle Männer inhaftiert wurden. Politisch gelten queere Menschen als „innere
Feinde“, die die Ordnung und Stabilität des Landes zu bedrohen schienen. Alle
sozialpolitisch relevanten Institutionen, sei es die islamische Al-Azhar Organisation, die
Koptische Kirche, der Militärapparat, die Muslimbruderschaft, die einflussreiche
Medienlandschaft oder der Staat, sind in ihrer Überzeugung ausnahmsweise geeint:
LGBTQ*-Identitäten sind „Erfindungen des Westens“ und stören die soziale Ordnung.
Heutzutage stehen wenige hinter der LGBTQ* Community. Laut Nicola Pratt in „The Queen
Boat case in Egypt“ vermitteln Medien und Staat, dass Homosexualität „un-ägyptisch“ sei.
Das spiegelt den gesellschaftlichen Konsens: 95% von Ägypter_innen sind gegen eine soziale
Akzeptanz von Homosexualität. Dies belegte eine Statistik des Pew Research Center im Jahr
2013.
Für mich hieß es konkret: Mit meiner Identität offen umzugehen könnte für mich sozialen
Auschluss und wahrscheinlich familiäre Intervention bedeuten. Für mich als Erwachsener in
Ägypten könnte mir eine Freiheitsstrafe mit Begründung der Ordnungswidrigkeit drohen.
Angesichts der zivilgesellschaftlichen Befürwortung der Bestrafung meiner queerness war
mir als Zwölfjähriger schon klar, dass die Lage in Kairo für Menschen wie mich nicht sicher
ist.

Die Reaktionen meiner Familie, meiner Schulgemeinschaft und meiner Freund_innen
konnte ich nicht einschätzen. Das Risiko ging ich nicht ein. Denn auch wenn das Milieu, mit
dem ich konfrontiert war, ihre Urlaube in Nordamerika und Europa verbrachten, Englisch
und eine weitere europäische Sprache als Bildungssprache fließend sprachen, viele
außerhalb Ägyptens oder an der American oder German University in Cairo studierten und
sich als weltoffen, bildungsnahe und des öfteren wohlhabend verstanden, galt Queersein
und die Akzeptanz dessen oft als die rote Linie, die man nur schwer überquert.

Hoffnung für die Zukunft:

Es gibt aber positive Entwicklungen. Mit LGBTQ*-Repräsentation in erfolgreichen
amerikanischen Serien und Filmen sowie der immer größer werdende Akzeptanz in den USA
und Europa wird auch die Akzeptanz unter Kairoer Jugendlichen, die gute Aufstiegschancen
haben und privilegiert sind, besser. Da kann man aber trotzdem nicht von einer generellen
Norm ausgehen. Für einige gilt nach wie vor: Egal wie „offen“ man westlichen Idealen oder
dem westlichen Lebensstil gegenüber ist, ist Homosexualität im besten Falle eine Krankheit,
die es zu bekämpfen gilt.
Deswegen lebte ich mehrere Jahre mit großer Achtsamkeit; ein Coming-Out und eine
öffentlich queere Identität kamen für mich nicht in Frage. Viel einfacher schien mir die
Unterdrückung meiner Homosexualität und das Hoffen, dass sie mit Mühe und Disziplin von
alleine weggehen würde. Die tiefe Verwurzelung der Queerphobie in der Gesellschaft und
im Einzelnen führte dazu, dass ich mich selbst nach meinem Coming-Out gegen die
gleichgeschlechtliche Ehe in Ägypten aussprach, denn für mich fühlte sich eine
Gleichberechtigung unter ägyptischem Himmel nicht angemessen an.

Für viele queere Menschen mit Wurzeln im Nahen Osten ist die eigene und fremde
Akzeptanz keine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber seit einigen Jahren vor allem in den
sozialen Medien Grund zur Freude. Zum Beispiel gibt es das „Queer Muslim Project“, das in
einem sozialpolitischen Kontext die Erfahrungen und das Leben queerer Muslim_innen in

den Vordergrund stellt. Rafiul Alom Rahman, der Gründer, ist Aktivist gegen Queerphobie
innerhalb und außerhalb der muslimischen Community und arbeitet gegen
antimuslimischen Rassismus. Auch bekannt auf Instagram ist @artqueerhabibi, ein account,
der queere Postkarten und Illustrationen mit arabischen Queers als Motiven kreiert. Umso
bekannter ist Hamed Sinno, der als queerer Aktivist auch gleichzeitig Sänger in der
libanesischen Band Mashrou‘ Leila ist. 2017 startete er nach einem kontroversen
Konzertauftritt (welcher jedoch gut besucht war) indirekt eine große Debatte um LGBTQ* in
Ägypten. Online gründeten sich ebenfalls die Initiativen „No Hate Egypt“ und „Solidarity
with Egypt LGBT“. Eines Tages, so meine Hoffnung, werden sich queere Menschen in
Ägypten nicht mehr verstecken müssen.


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