„Es kann notwendig sein, Tausende zu opfern“
Was wissen wir heute über den Zweiten Weltkrieg?
Was wissen wir heute über den Zweiten Weltkrieg? Beginn 1938, Ende 1945. Hitler, Churchill, Roosevelt. Auschwitz und Holocaust. Hiroshima und Nagasaki. Die Epoche des Zweiten Weltkriegs ist wohl diejenige, über die auch SchülerInnen, die Semester für Semester um ihre Geschichtsnoten kämpfen mussten, halbwegs Bescheid wissen. Dementsprechend niedrig ist daher die Motivation, sich mit Literatur zu einer solchen Epoche zu befassen, da das Gefühl vorherrscht, bereits zur Genüge gelehrt worden zu sein. Nicholson Bakers Textcollage Menschenrauch ist aber auch gerade jenen ans Herz zu legen, die sich in den obigen Zeilen beschrieben meinen. Ohne sich selbst zu Wort zu melden, schafft Baker es, mittels Zeitungsausschnitten, Tagebucheinträgen, Reden und Briefen eine Chronik des Zweiten Weltkriegs zu schaffen, die durch die Zurschaustellung der bizarren Handlungsweisen der Kriegsführer starke Zweifel bezüglich dessen Unabwendbarkeit aufkommen lassen. Durch die zitierten Dokumente werden bei LeserInnen Reaktionen ausgelöst, die von ungläubigem Lachen bis hin zu angewidertem Kopfschütteln reichen. Und immer wieder kommt die Frage auf, ob denn nicht alles hätte ganz anders laufen können, wären die Zeichen, die auf einen drohenden Krieg und den bestialischen Holocaust hinwiesen, schneller erkannt worden. Gleichgültig, wie viel Wissen bereits über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs vorhanden ist – gewisse Gegebenheiten überraschen garantiert. So zum Beispiel Mahatma Gandhis Opfertheoretik, mit der er sein Konzept der Gewaltlosigkeit zu untermauern versucht: „Ich weiß, dass es notwendig sein kann, Hunderte wenn nicht gar Tausende zu opfern, um den Hunger von Diktaturen zu stillen.“ Die Praxis der Gewaltlosigkeit – ashimsa – sei am wirksamsten angesichts schrecklicher Gewalt, schrieb Gandhi, „auch wenn die Opfer nicht mehr erleben, wofür sie gelitten haben“. Bakers Buch sorgte für allerlei Kritik. Die Verbrechen der NationalsozialistInnen würden verharmlost, Hitler mit Churchill auf eine Ebene gestellt und außerdem würde Baker mit den Quellentexten zu frei hantieren. Angesichts der Tatsache, dass Baker lediglich vorhandenes Material zu einem großen Ganzen zusammengestellt hat, scheinen derartige Vorwürfe nicht wirklich gerechtfertigt. Vielmehr versucht er seinen pazifistischen Standpunkt zu verständlichen, indem er mit leichtem Hohn das Verhalten der EngländerInnen und AmerikanerInnen ebenso für den Verlauf des Krieges verantwortlich macht, wie das der Deutschen. Er verachtet alle am Krieg Beteiligten gleichermaßen. Die einzige Gruppierung, die mit gewisser Würde aussteigt, ist eben jene der bedingungslosen PazifistInnen. Die Verachtung auf alle anderen zu vermitteln, gelingt Baker ohne selbst zur Feder zu greifen. Diese Aufgabe dürfen die LeserInnen übernehmen. Zusammengefasst also eine Lobeshymne auf den Pazifismus, die allerdings hauptsächlich von dessen GegnerInnen gesungen wird.