Ein Mensch kann sich nur selber bilden
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer setzt sich in dem Film "Alphabet" mit dem Thema Bildung auseinander und fordert einen massiven Strukturwandel im Bildungsbereich.
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer wurde mit seinen sozialkritischen Filmen „We feed the world“ und „Let’s make money“ bekannt. Mit „Alphabet“ ist nun der abschließende Teil seiner Trilogie in den heimischen Kinos zu sehen. In dem Film setzt sich Wagenhofer mit dem Thema Bildung auseinander und fordert einen massiven Strukturwandel im Bildungsbereich. Unsere Autorinnen Elisabeth Gamperl und Luiza Puiu haben den Filmemacher am diesjährigen Forum Alpbach getroffen und ihm ein paar Fragen gestellt.
progress: Herr Wagenhofer, Sie kritisieren in Ihrem neuen Film das österreichische Bildungssystem. Was stimmt damit nicht?
Erwin Wagenhofer: Unsere Haltung zu dem Thema stimmt nicht. Versteht mich nicht falsch – ich will mit meinem Film nicht sagen, dass das österreichische, beziehungsweise europäische Bildungssystem schlecht ist. Es geht um etwas anderes: Der PISA-Test besagt beispielsweise, dass unsere Kinder schwach im Lesen sind. Ich gehe der Frage nach: Warum wollen unsere Kinder nicht lesen?
Warum wollen unsere Kinder nicht lesen?
Wenn ich Kindern vorschreibe, was sie zu tun haben, dann verlieren sie die Lust am Lernen. Das, was Schülerinnen und Schülern beigebracht wird, ist eigentlich sehr wenig. Es würde weit mehr gehen. Sie lernen in der Schule hauptsächlich, wie man sich gegenseitig übertrumpft und wie man konkurrenzfähig wird. Kinder verbringen zirka zwölf Jahre in der Schule. Wer weiß, was in ihren Köpfen hängen bleiben würde, wenn sie zwölf Jahre lang das machen könnten, was sie wollen.
Inwiefern hängt die Finanzkrise mit unserem Bildungssystem zusammen?
Es sind nicht die Analphabeten und Obdachlosen, die das Geld verzocken und die Krise verursacht haben. Das waren Leute, die vorher an den besten Universitäten der Welt studiert haben. Die haben die Finanzmärkte zu dem gemacht, was sie heute sind.
Wie kam es dazu?
Wir wollen, dass alle Kinder gleich sind. Alle sollen gleichförmig sein und den kapitalistischen Bedarf decken. Die Gesellschaft meint, sie brauche Arbeitskräfte: Zum Beispiel glauben wir, dass wir 600.000 Programmierer brauchen. Dann produzieren wir diese, so als würde es sich um Möbel in einer Fabrik handeln. Derzeit sollen sich am besten alle Kinder auf Fächer wie Mathematik und Informatik spezialisieren. Aber wer wird in den kommenden Jahren das Brot backen? Jemand aus der Wissensgesellschaft? Nein. Hoffentlich ist es jemand, der dazu das Wissen von 200 Jahren mitbringt.
Sie meinen, wir achten zu stark auf Quantität statt auf Qualität.
Genau. 98 Prozent der Menschen kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur mehr zwei Prozent. Das muss nicht so sein. Wir brauchen neue Konzepte von kreativen Menschen, aber die findet man in so einem Gesellschaftssystem schwer. Bisher hat der Mensch immer Lösungen aus der Not heraus geboren. Der Neoliberalismus hat uns kaputt gemacht.
Ihr Film zeigt zwei Extreme: Einerseits porträtiert er das strenge chinesische Schulsystem und den Drill bei Managementausbildungen, andererseits alternative Schulen wie etwa die Rudolf-Steiner- oder Montessori-Schulen und stellt sie in ein positives Licht. Der klassische österreichische Bildungsweg wird nicht gezeigt.
Der klassische Weg wird durch China abgedeckt.
Geht es den chinesischen SchülerInnen gleich wie den österreichischen?
China ist das Vorbild für Österreich und ganz Europa. Wir haben begonnen, Bildung zu ranken. Diese Rankings führt China an. Man kann einzelne Menschen aber nicht nach den immer selben Maßstäben beurteilen. Das ist unmöglich.
Fühlt sich das Publikum von Extremen angesprochen?
Dieser Film wird Befürworter und Gegner finden. Ein Film verändert nichts. Die Leute, die ihn anschauen, können sich aber verändern. Filme machen heißt, etwas zu zeigen, und ich will Extreme zeigen. Der Film wird polarisieren.
In Ihren anderen Filmen warfen Sie ein kritisches Licht auf die Massenproduktion von Lebensmitteln und auf die Entwicklungen des Finanzsystems. Mit „Alphabet“ ist die Trilogie nun vollständig: Sie haben drei große gesellschaftliche Themen abgehandelt. Welchen Namen würden Sie der Trilogie geben?
Ich nenne sie „Trilogie der Erschöpfung“. Wir haben uns erschöpft. Das sehen wir in allen Bereichen.
Manche ihrer ProtagonistInnen kommen in ihren Filmen nicht gut weg, so etwa der Top-Manager in „Alphabet“. Weiß dieser bei den Dreharbeiten, dass er die negative Seite im Film darstellen wird?
Ich kann niemanden filmen, ohne dessen Erlaubnis und dessen Unterschrift. Jeder Protagonist muss einen Vertrag unterschreiben. Die Interviewpartner geben im Interview nur ihre persönliche Meinung wider. Ein Film ist nichts anderes als Kontextkunst. Ich verbinde das chinesische Bildungssystem mit dem PISA-Test, damit die Zuseher einen Zusammenhang erkennen.
Sie vereinfachen die Probleme damit aber gewaltig.
In einen Film von 90 Minuten Länge muss ich den Inhalt einfach darstellen. Würde ich das Thema hochkomplex und wissenschaftlich aufbereiten, so hätte es keinen Platz im Kino. Und ich möchte mit dem Film eine Bewegung auslösen.
In welche Richtung sollte so eine Bildungsbewegung gehen?
Lehrer sollen nicht mehr belehren, sondern zeigen. Ein Mensch kann sich nur selber bilden.
Halten Sie das nicht für utopisch?
Nein. Ich beobachte, dass sich aus der Zivilgesellschaft heraus gerade eine Bewegung entwickelt. Die Eltern werden ungeduldiger. Ich bin tief davon überzeugt, dass in nächster Zeit einiges passieren wird.
Die Autorinnen Elisabeth Gamperl und Luiza Puiu studieren Kultur- und Sozialanthropologie und Soziologie an der Uni Wien.