Eine zerrissene Generation
Polnische Studierende zwischen Patriotismus, Protest, Gehen und Bleiben inmitten einer gespaltenen Gesellschaft.
Was ist eigentlich in Polen los? Seit November regiert dort die „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS), auf Deutsch „Recht und Gerechtigkeit“, die irgendwo zwischen christlichem Konservatismus und Nationalismus zu verorten ist. Ihr Wahlsieg – die PiS erreichte 37,58 Prozent – verdeutlicht den aktuellen Rechtsruck im Land. Einige der Reformen, die von der neuen Regierung beschlossen wurden, werden als antidemokratisch angesehen. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, spricht von „Staatsstreich-Charakter“, der ehemalige Solidarność-Aktivist und Ex-Präsident Lech Wałęsa warnt gar vor einem „Bürgerkrieg“ angesichts der Spaltung der Gesellschaft. Schlagworte wie diese haben in den letzten Monaten für viel Aufmerksamkeit in Europa gesorgt. Wir haben versucht hinter die großen Worte zu blicken und polnische Studierende um ihre Meinung zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage sowie deren Auswirkungen auf die Unis gebeten.
Wählerinnen. Konrad hat im vergangenen Oktober PiS gewählt. Er ist 31, macht einen PhD auf der Wirtschaftsuniversität Warschau und geht jeden Sonntag in die Kirche. Konrad spricht viel über Werte, Familie und Patriotismus. „Nationalismus heißt in Polen Patriotismus. Und der hat hier keinen so negativen Beigeschmack wie in Deutschland oder Österreich. Es bedeutet, für sein Land zu sorgen und schließt dabei niemanden aus“, sagt er. Mit der PiS als regierende Partei erwartet er tatsächliche Reformen, die die Solidarität im Land erhöhen und die Korruption und Ineffizienz der staatlichen Institutionen eindämmen sollen. Auch Förderungen für Familien wünscht er sich: „Ich hoffe, es wird bald Geld für junge Paare, die sich Kinder wünschen, geben. Polen braucht neue Generationen, aber Kinder sind teuer.“ Der 23-jährige Piotr bekennt sich dreihundert Kilometer weiter südlich, in Krakau, zum entgegengesetzten politischen Flügel. An der Jagellonian Universität studiert er Interdisziplinäre Geisteswissenschaften und ist Mitglied der sozialdemokratisch-linkssozialistischen Partei „Razem“, die im Mai 2015 gegründet wurde und unter ihren AnhängerInnen viele Studierende versammelt. „Als ein Geistes- und Sozialwissenschaftsstudent in einer Großstadt bin ich von einem ziemlich unrepräsentativen Teil der Gesellschaft umgeben“, sagt Piotr: „Und trotzdem kann ich eine wachsende Beliebtheit der nationalistischen historischen Erzählung beobachten – vor allem unter den weniger privilegierten Studierenden. Sie ist für viele die einzige Alternative zur neoliberalen europäischen Erfolgsstory.“
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS zeigen, dass sich deutlich mehr junge Menschen seit 2014 politisch rechts verorten. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2015 beschrieb ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen ihre politische Einstellung als rechts. Eine IPSOS-Umfrage am Wahltag im Oktober 2015 bestätigt dieses Phänomen: Die PiS ist unter den 18–29-Jährigen zwar am schwächsten, konnte aber dennoch knappe 26 Prozent ihrer Stimmen erreichen. Auch andere Parteien der rechten politischen Sphäre konnten in der Altersgruppe punkten: Janusz Korwin- Mikke, der als exzentrischer EU-Skeptiker des rechten Randes gilt, ist mit 16,7 Prozent Stimmanteil in der jungen Generation am beliebtesten. Seine Partei befürwortet die Einführung der Todesstrafe und der Monarchie. „Die jungen Leute wollen etwas Neues, sie haben die alten Parteien satt“, sagt Adrianna. Sie ist 22 Jahre alt, lebt in Szczecin an der Grenze zu Deutschland und schreibt an ihrer Bachelorarbeit in Slawistik. Den PiS-Sieg verbindet sie mit der starken Position der Kirche im Land: „Viele junge Menschen sind konservative KatholikInnen. In der Kirche lassen sie sich von der PiS überzeugen.“ Mit ihren Freundinnen hat sie vor den Wahlen noch über einen PiS-Sieg gescherzt. Heute tut sie das nicht mehr – der Witz ist Realität geworden.
Förderungen. Die PiS hat im Parlament nun die absolute Mehrheit, die Opposition damit kaum Spielraum. Die neuen Wahlsieger werden von Jarosław Kaczyński gesteuert, dem Parteigründer und ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes. Im Hintergrund fungiert er als Chefideologe und Fadenzieher der Regierung. Diese muss sich gegenwärtig aufgrund von verabschiedeten Gesetzen, die den Verfassungsgerichtshof, die Staatsanwaltschaft sowie den öffentlichrechtlichen Rundfunk betreffen, dem Vorwurf der schleichenden Entdemokratisierung stellen. Konrad sieht darin kein Problem: „Die vorher regierende Partei (Anm.: die liberal-konservative „Platforma Obywatelska“) hatte noch viel zu viel Einfluss auf die Medien, man musste etwas ändern, um das Land überhaupt regieren zu können.“ KritikerInnen sehen die rechtlichen Änderungen jedoch als Versuch, den Parteiwillen in diversen staatlichen Institutionen und Einflusssphären durchzusetzen. Die Einflussnahme geht bereits über Gerichtshöfe und Rundfunk hinaus: Der Kulturminister versuchte Ende November, die Premiere eines Jelinek-Stücks aufgrund von vermeintlich pornographischen Inhalten zu verhindern.
Auf die Hochschulen hat der Regierungswechsel noch keine rechtlichen Auswirkungen. Die polnischen Unis haben seit 1990 einen von staatlichen Weisungen unabhängigen Status. „WissenschaftlerInnen und ProfessorInnen sind trotzdem angreifbar – und zwar durch Förderungen, die der Staat vergibt. Es besteht die Gefahr, dass die Finanzierung für Journals oder Studienprogramme, die nicht der Ideologie der regierenden Partei entsprechen, wie zum Beispiel Gender Studies, abgedreht werden könnte“, sagt Piotr.
Über selektivere Förderungen macht sich Konrad keine Sorgen. Er möchte selbst eine Laufbahn an der Universität einschlagen. Von der PiS erwartet er dafür ein „offeneres System“, wie er sagt. „Wir haben viele ProfessorInnen, die fachlich nicht sehr gut sind, aber im alten kommunistischen System eingesetzt wurden. Es braucht einen Generationenwechsel.“
Vertretung. Der Hochschulzugang in Polen ist grundsätzlich kostenlos und unbeschränkt. Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel werden beim Verstreichen einer Abgabefrist für Seminararbeiten Gebühren eingezogen. An der Universität in Warschau formierte sich 2015 die Bewegung „Engaged University“, die gegen die Kommerzialisierung der Hochschulbildung protestiert. In Krakau folgte kurze Zeit später eine ähnliche Initiative. Diese Bewegung ist nicht als Reaktion auf die jüngsten politischen Entwicklungen zu sehen, sondern befasst sich vielmehr allgemein mit Studierendenrechten. „Diese Leute nehmen sich Dingen an, die eigentlich Aufgaben der Studierendenvertretung sein sollten“, sagt Piotr: „Die polnischen Bildungsinstitutionen sind völlig apolitisch. Die Studierendenvertretung beschränkt sich auf die Organisation von Ausflügen und Partys. Kritik an Autoritäten fehlt oft.“
Adam Gajek, selbst BWL-Student in Warschau, vertritt die polnische Studierendenvertretung in internationalen Belangen und sieht das anders: „Wir kooperieren mit jeder demokratisch gewählten Regierung, auch mit der aktuellen. Wir streiten nicht über politische Ideologien.“ Die apolitische Ausrichtung betrachtet er als Stärke: „Die polnische Studierendenvertretung ist eine Art Parlament von ExpertInnen, die Erfahrung mit Hochschulthemen haben. All die Themen, die gerade diskutiert werden, haben nichts mit Bildung zu tun. Die Leute erwarten daher auch nicht, dass wir sie kommentieren.“ Adam bemerkt auch abseits der Studierendenvertretung keine Gruppierungen an den Unis, die sich aktuell bei Demos engagieren.
Spaltung. „Es könnte nur die Ruhe vor dem Sturm sein, aber bisher gibt es keinen organisierten Widerstand an den Universitäten. Manche ProfessorInnen und StudentInnen nehmen an Demonstrationen teil, die gehen aber nicht von den Unis aus“ – die Jagellonian Universität in Krakau, über die Piotr hier spricht, ist keine Ausnahme. Auch Adrianna bemerkt unter ihren StudienkollegInnen in Szczecin keine zivilgesellschaftliche Aktivierung. Die aktuelle Regierung hält sie zwar für „verrückt“, Demonstrationen bekommt die 22-Jährige aber nur über Facebook mit. Weder sie, noch ihre FreundInnen sind bisher auf die Straße gegangen. Offener Protest, der sich explizit gegen die neue Regierung richtet, kommt vor allem vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie'“(KOD), das bereits mehrere Großdemonstrationen in polnischen Städten organisiert hat. Demonstriert wird auch von der anderen Seite, den PiS-UnterstützerInnen, die sich im Rahmen von Gegenkundgebungen mit der Regierung solidarisieren. Die Demos der KOD sieht Piotr kritisch. Diese würden lediglich auf formale demokratische Missstände hinweisen, aber tieferliegende soziale Probleme völlig außer Acht lassen.
Die soziale Ungleichheit hat in Polen auch eine regionale Komponente, verdeutlicht durch die Zweiteilung des Landes. Polska A und Polska B stehen für eine tiefe soziale, wirtschaftliche, aber auch politische Spaltung. Vom Aufschwung hat vor allem der westliche Teil profitiert. Das rural geprägte Polska B hinkt wirtschaftlich und strukturell hinterher. Die PiS ist im Osten besonders stark. Auch Konrad, der im Oktober Recht und Gerechtigkeit angekreuzt hat, wurde in Białystok, einer Stadt im äußersten Osten nahe der weißrussischen Grenze, geboren. Polska B kehrte er vor elf Jahren den Rücken, als er für sein Studium nach Warschau zog. Den PiS-Triumph im Osten kann er dennoch nachvollziehen. “Die Menschen haben konservativere Werte als der Rest des Landes, sind mehr an Familie und Land gebunden. Durch das Leben an der Grenze haben sie eine starke lokale Identität entwickelt.“
Unzufriedenheit. Der Rechtsruck, der Polen nicht erst seit den Wahlen im Oktober erfasst hat, entsteht auch aus einer Unzufriedenheit heraus. Nicht alle im Land haben vom Aufschwung und der relativ stabilen wirtschaftlichen Lage profitiert. „Nach dem Ende des Staatssozialismus ging alles sehr schnell. Viele Leute sind plötzlich aufgestiegen, andere haben ihren Job verloren. Die Menschen sehnen sich heute nach Stabilität. Eine der größten Herausforderungen wird es sein, die Emigration zu stoppen. Einige meiner FreundInnen sind schon weggegangen“, sagt Konrad. Ein abgeschlossenes Studium ist noch lange keine Garantie für einen angemessen bezahlten Job. Daher suchen viele junge PolInnen im Ausland eine bessere Lebensgrundlage. Emigration ist allgegenwärtig – vor allem in der jungen Generation. „Die Löhne sind ein Witz“, sagt die Slawistik-Studentin Adrianna. Als Nebenjob arbeitet sie in einer Drogerie in Szczecin und bekommt dafür 7 Zloty die Stunde. Das sind etwa 1,50 Euro. „Es ist nicht gut für junge Leute, hier zu leben“, sagt sie. Adrianna will weg – auch von der „Polit-Talkshow“, wie sie die aktuellen politischen Auseinandersetzungen bezeichnet. Am besten nach Skandinavien. Die polnische Zukunft sieht sie trotz allem optimistisch: „Die junge Generation wird Polen bald übernehmen und das Land zum Besseren verändern.“ Sie selbst wird dann aber wohl nicht mehr dort sein.
Elisabeth Schepe studiert Zeitgeschichte an der Universität Wien.