Christoph Hammer

Privilegiendiskurs

  • 18.03.2021, 17:01

Privilegiendiskurs

Im öffentlichen Diskurs über Diskriminierung hat sich in letzter Zeit der Schwerpunkt von Diskriminierung auf deren Gegenstück, nämlich sogenannte „Privilegien“ verlagert, zum Beispiel in Form von Listen „männlicher Privilegien“, „weißer Privilegien“ oder vergleichbarer „Privilegien“ anderer Identitätskategorien. Auch wenn derartige Konzepte eine längere Vorgeschichte haben, geht der jetzige Diskurs vor allem auf den 1988 verfassten Text „White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack“ von Peggy McIntosh zurück, in dem eine Liste von „Privilegien“ angegeben ist, die von Weißen üblicherweise als selbstverständlich erachtet werden.

Es besteht die Frage, wie sinnvoll hierfür der Begriff „Privilegien“ ist, welcher üblicherweise verwendet wird, um eine Ausnahme vom Normalfall zu beschreiben, was auch von der Definition im Duden als „einem Einzelnen, einer Gruppe vorbehaltenes Recht, Sonderrecht; Sonderregelung“ angedeutet wird. Wenn eine Personengruppe ungefähr die Hälfte oder sogar eine Mehrheit der Gesellschaft ausmacht, ist es deswegen fraglich, inwiefern das dann nicht eher den Normalfall als eine Ausnahme vom Normalfall darstellt.

Unabhängig davon, ob der Begriff jetzt gut gewählt ist oder nicht, soll im Folgenden der Inhalt genauer betrachtet werden. Neben Fragen der Repräsentation bestehen diese „Privilegien“ nämlich vor allem einfach darin, nicht auf Grund einer bestimmten Identitätskategorie diskriminiert zu werden. Dies stellt auch Peggy McIntosh fest, wenn sie schreibt, dass manche dieser „Privilegien“ nicht unbedingt schädlich sind, sondern die Norm in einer gerechten Gesellschaft darstellen sollten. Wenn man will, dass Menschen nicht auf Grund irgendwelcher Identitätskategorien benachteiligt werden, scheint es aber widersinnig, sich auf die Abwesenheit derartiger Benachteiligung zu konzentrieren. Das Problem liegt ja dann vor, wenn gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen wurde und nicht, wenn das Diskriminierungsverbot eingehalten wurde.

Auch wenn Diskriminierung in den einschlägigen Texten als ein strukturelles statt nur individuelles Problem angesehen wird, wird aber gleichzeitig die Lösung dieses Problems individualisiert. Die Reflexion eigener Privilegien mag vielleicht nützlich sein, um ein Problembewusstsein zu schaffen, aber dies wird wenig helfen, wenn man das Problem vor allem darin sieht, dass andere Menschen nicht ebenso ihre Privilegien reflektieren. Während bei Peggy McIntosh hier noch ein Bewusstsein für die mangelnde Effektivität eines individualistischen Lösungsansatzes vorhanden ist, wird ein derartiger Ansatz in neueren Texten teilweise offen propagiert, wie das folgende Zitat von Robin DiAngelo zeigt: „Since all individuals who live within a racist system are enmeshed in its relations, this means that all are responsible for either perpetuating or transforming that system.“

Im Gegensatz zu strukturellen Lösungsansätzen lassen sich solche individualistischen Ansätze auch gut vermarkten, wie die mittlerweile nur mehr schwer überschaubare Industrie sogenannter Diversitätstrainings zeigt. Inwiefern die dort angeleitete Reflexion tatsächlich dazu beiträgt, diskriminierendes Verhalten zu beseitigen, ist dabei unerheblich. Der tatsächliche Abbau von Diskriminierung würde vielleicht sogar einen wirtschaftlichen Schaden bedeuten, wenn ausbleibende gesellschaftliche Veränderungen darauf zurückgeführt werden, dass anscheinend noch nicht genügend Selbstreflexion betrieben wurde – wofür man dann die Lösung in Form von noch mehr Diversitätstrainings im Angebot hat.

Unabhängig von derartigen Entwicklungen konzentriert sich aber auch schon der ursprüngliche Text vor allem auf das Verhalten von Individuen. Es stimmt zwar, dass gewisse Identitätskategorien einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz am Wohnungs- oder Arbeitsmarkt darstellen, aber andererseits ist es irritierend, welche Art von Konkurrenz hier aufgebaut wird. Statt zu fragen, warum diese Konkurrenz überhaupt besteht, wird das Problem auf gewisse Personengruppen innerhalb dieser Konkurrenz verlagert. In der Praxis ist dies vor allem dazu geeignet, eine Entsolidarisierung der Gesellschaft zu fördern, wenn sich zum Beispiel die „privilegierten“ und diskriminierten Wohnungssuchenden als entgegengesetzte Interessensgruppen betrachten statt als gemeinsame Interessensgruppe gegenüber dem Wohnungsmarkt. Auch für die Situation von diskriminierten Minderheiten wird es wenig förderlich dabei sein, gesellschaftliche Mehrheiten auf die eigene Seite zu bringen, wenn diese vor allem als Teil des Problems angesehen werden. Minderheiten mögen zwar überproportional von gewissen Problemen betroffen sein, aber immun sind gesellschaftliche Mehrheiten deswegen nicht: So mag eine „weiße“ Hautfarbe in den USA vor rassistisch motivierten Polizeiübergriffen schützen, aber vor Polizeiübergriffen im Allgemeinen schützt sie nur bedingt, wie das Extrembeispiel von Hannah Fizer zeigt, die im Juni 2020 von der Polizei erschossen wurde, obwohl sie selbst unbewaffnet war.

Wohin der Diskurs über „Privilegien“ in der Praxis führen kann, zeigt auch die kürzliche Debatte um die Rücknahme der „Hacklerregelung“, von der ÖVP-Vizeklubchefin Gaby Schwarz als „Männerpension“ und „ungerechtes System“ bezeichnet, da in der Praxis ausschließlich männliche Schwerarbeiter von dieser Regelung profitieren: Nicht nur eignet sich der Fokus auf „Privilegien“ bestens dazu, den Abbau von Sozialleistungen zu begründen – er ermöglicht es darüber hinaus sogar, den Abbau von Sozialleistungen als emanzipatorischen Akt darzustellen.