Von der Fantasie, die Welt zu retten

  • 11.05.2015, 08:36

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Natalie aus Vorarlberg wollte nach der Matura so weit weg wie möglich – und dabei etwas Sinnvolles tun. Till aus Norddeutschland wollte nach dem Abitur die Entscheidung für ein Studium um ein Jahr verschieben, etwas von der Welt sehen – und etwas Gutes machen. Oleksandr aus der Ostukraine wollte nach dem Bachelor etwas Neues entdecken, sich weiterentwickeln – und sich an einer guten Sache beteiligen. Alle drei haben einen sogenannten Freiwilligendienst in einem anderen Land gemacht und bleiben hier lieber anonym. Wer wo hingeht, ist aber kein Zufall, sondern von globalen Machtverhältnissen diktiert.

VON DER FANTASIE... „Die Motivationen, einen Freiwilligendienst zu absolvieren, sind unterschiedlich“, meint Jana Herbst. Als Trainerin begleitet sie im Rahmen von Vor- und Nachbereitungsseminaren für verschiedene Organisationen junge Menschen, die sich ein Jahr im Ausland engagieren wollen. Herbst hat Internationale Entwicklung studiert und legt in ihren Seminaren den Schwerpunkt auf die Sensibilisierung für Rassismus und (post)koloniale Strukturen. „Ich begrüße es, wenn junge Menschen sich engagieren wollen und eine neue Sprache, ein neues Land oder die eigenen Grenzen in einem anderen Setting kennenlernen wollen“, sagt die Trainerin. Die Freiwilligen müssten sich aber bewusst sein, dass es vor allem um die eigene Erfahrung geht. Herbst beobachtet, dass das meist nicht der Fall ist. Die eigene Erfahrung ist den Freiwilligen vor ihrem Auslandsaufenthalt zwar auch wichtig, im Mittelpunkt steht aber der Wunsch zu helfen. Sehr oft haben die Freiwilligen ein exotisierendes und stereotypes Bild von Asien, Lateinamerika oder Afrika: „Es ist eine koloniale Vorstellung zu glauben, anderen zeigen zu können, wie es besser geht und was der richtige Weg ist.“

Illustration: Marlene Brüggemann

Die Menschen im Globalen Süden werden dabei als Objekte gedacht, denen geholfen werden muss. Diese Logik entspringt einem Überlegenheitsgefühl, das auf den europäischen Kolonialismus zurückgeht. In der weißen Allmachtsfantasie vom Weltretten werden Schwarze Menschen beziehungsweise People of Color nicht als eigenständige Subjekte wahrgenommen, die ihr Leben selbst regeln können. Es wird ausgeblendet, dass die teilweise extremen Formen der Armut im Globalen Süden nicht auf die Unfähigkeit seiner Bewohner_innen zurückgeht, sondern auf die postkolonialen Machtverhältnisse im Kapitalismus. Diese strukturellen Probleme können nicht durch Freiwilligendienste gelöst werden.

Genau mit diesen Fantasien spielen aber so gut wie alle Organisationen, die Auslandsaufenthalte für Europäer_innen im Globalen Süden anbieten, kritisiert Herbst: „Sie arbeiten mit klassischen kolonialen Bildern auf ihren Homepages. Auf den Fotos wird beispielsweise ein weißer Freiwilliger mit einem Buch inmitten von Schwarzen Kindern abgebildet – eine klassische koloniale Ästhetik. Das ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, in dem der Globale Süden als andersartig dargestellt wird und als Objekt, das unserer Hilfe bedarf. Die Motivation der Freiwilligen wird damit bestätigt: zu helfen, die Welt zu verändern und aus einer erhabenen Position heraus bestimmen zu können, wer Hilfe braucht und wie diese Hilfe auszusehen hat.“

...UND DER REALITÄT. Die Erkenntnis, dass es doch nicht so einfach ist, die Welt zu retten, machen viele Freiwillige dann im Laufe ihrer Zeit im Ausland. Natalie, 28 und Lehramtsstudentin, war vor dem Studium fünf Monate in Ecuador. Unter anderem half sie einer alten Frau bei der Arbeit auf dem Feld, einer Schule beim Pflanzen von Bäumen im Schulhof und einer Sozialarbeiterin bei der Projektdokumentation. „Ich und die anderen Freiwilligen haben den Leuten bei alltäglichen Dingen geholfen, aber das hätten sie auch ohne uns geschafft“, erzählt Natalie. Heute sieht sie ihren Freiwilligendienst als eine Form von Tourismus. Damals war das anders: „Ich bin mit der Erwartung in die Projekte gegangen, etwas Sinnvolles machen zu können.“ Geholfen hat der Freiwilligendienst vor allem ihr selbst: „Ich bin kurz nach der Schule nach Ecuador gegangen und habe dort viel an Selbstverantwortung mitgenommen.“

 

Illustration: Marlene Brüggemann

Till ist heute 24 und studiert Internationale Entwicklung. Mit 19 Jahren war er zwölf Monate in Ruanda, wo er bei der Umweltorganisation ACNR arbeitete. Er war dort Bürokraft und Ansprechperson für Projektpartner_innen. Gemeinsam mit sogenannten Nature Clubs in Schulen in Kigali hielt er Seminare zu ökologischer Landwirtschaft. Dabei wurde ihm bewusst, dass er eigentlich sehr wenig Ahnung vom Thema hatte. „Bis auf mich und den zweiten Freiwilligen aus Deutschland haben in der Organisation nur Ruander_innen gearbeitet, die alle viel mehr Plan hatten. Das ist eigentlich eine ganz banale Erkenntnis, dass Leute, die das studiert haben, viel kompetenter sind als Leute, die gerade das Abitur gemacht haben.“ Würde Till das heute wieder machen, dann nur mit einer zumindest teilweise abgeschlossenen Ausbildung oder mit einem konkreten Plan, was er arbeiten will und wie er das umsetzen kann.

Dass der Einsatz im Ausland vor allem ein Lernfeld für die Freiwilligen selbst ist, wird ihnen kaum vermittelt, kritisiert Jana Herbst. Wenn sie davon erzählt, spricht sie nicht nur von den Freiwilligen in ihren Vor- und Nachbereitungsseminaren, sondern auch von sich selbst. Auch sie hat vor dem Studium Freiwilligendienst, in einem Kinderfreizeitzentrum in Honduras geleistet. Heute sieht sie ihre damalige Motivation sehr kritisch: „Ich wollte helfen, die Welt zu verändern und hatte ein sehr exotisierendes Bild von den Menschen in Honduras. Als ich dann dort war, habe ich gemerkt, dass ich nicht viel verändern kann, dass ich nicht einmal eine pädagogische Ausbildung habe und dass – umgekehrt – ich die Unterstützung der Menschen dort brauchte, um mich zurechtzufinden, die Sprache zu lernen und so weiter.“ Diese Erfahrung stoße bei einigen Freiwilligen einen Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen und weißen Privilegien an, erklärt die Trainerin. „Sie haben nicht die Welt verändert und es ging darum, dass sie selbst Hilfe brauchten. Sie erkennen, dass sie selbst sehr viel nehmen mussten und gar nicht so viel geben konnten, wie sie sich vielleicht gewünscht hätten.“

Jana Herbst kritisiert, dass koloniale Kontinuitäten und Rassismus bei den meisten Organisationen in der Vor- und Nachbereitung aber kaum Thema sind. „Es spricht nichts dagegen, ein freiwilliges soziales Jahr zu machen. Aber muss es in diesem kolonialen Setting sein? Die Frage ist, woher der Wunsch kommt, es im Globalen Süden zu machen, und was das reproduziert. Ich kann mich ja auch im europäischen Ausland engagieren“, merkt die Trainerin an.

Auch Oleksandr hat sich während seinem Freiwilligendienst gefragt: „Warum ist hier der Bedarf nach einem ausländischen Freiwilligen? Ich habe oft nicht gewusst, was von mir erwartet wird.“ Der 23-Jährige, der heute in Kharkiv (Ukraine) im IT-Bereich arbeitet, hat vor zwei Jahren seinen neunmonatigen Freiwilligendienst bei Lužánky, einem Freizeitzentrum für Kinder in Tschechien, angetreten. Dort hat er Workshops abgehalten, Veranstaltungen organisiert und beim Buffet geholfen. Die Arbeit mit Kindern war für ihn neu und die Sprache musste er erst lernen.

AUSTAUSCH AUF AUGENHÖHE? Auch bei einer guten Vor- und Nachbereitung der Freiwilligenarbeit bleibt die Ungleichheit bestehen. Die europäischen Freiwilligen im Globalen Süden befinden sich in einer privilegierten Situation. „Aus Mitteleuropa werden jährlich tausende Freiwillige entsendet. Das wäre umgekehrt nie möglich. Das ist ein massives Ungleichgewicht und eine machtvolle Position“, erklärt Jana Herbst.

Das schlägt sich auch in den Werbebildern nieder: Welche Organisation wirbt mit Fotos, auf denen eine Freiwillige aus Kolumbien oder Nigeria in einem österreichischen Kindergarten von lächelnden weißen Kindern umringt wird? Nur wenige Organisationen bieten Freiwilligendienste in Europa für Menschen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika an. Hinzu kommt die EU-Aufenthaltspolitik, die Menschen zahlreiche Barrieren in den Weg legt, wenn sie im Schengenraum Freiwilligenarbeit leisten wollen. Globale Bewegungsfreiheit gibt es nur für einen bestimmten Teil der Menschheit. Viele junge Menschen engagieren sich sozial, die Möglichkeiten, das auf anderen Kontinenten zu tun, haben aber nur wenige.

Oleksandr kommt zwar auch aus Europa, aber nicht aus der EU. Für ihn war es schwieriger als für Natalie und Till, sich einen Freiwilligendienst zu organisieren. Auf die Frage, warum er sich für EVS (European Voluntary Service) entschieden hat, um einen Freiwilligendienst zu machen, meint er: „Ehrlich gesagt war es die einzige Option. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für Menschen aus Drittstaaten, vor allem wenn du nicht aus einer reichen Familie kommst. Der EVS ist der einzige Freiwilligendienst, der dir die Möglichkeit gibt, ein Jahr im Ausland zu verbringen, und die Kosten dafür übernimmt.“ Leider gibt es kaum solche Angebote, die sowohl auf die koloniale Logik verzichten als auch für die Finanzierung sorgen. Auch Till musste die Kosten für sein Jahr in Ruanda nicht übernehmen. Einen Teil konnte er über einen Förderkreis aufstellen. Drei Viertel wurden vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung übernommen, denn in Deutschland gibt es „weltwärts“, ein staatliches Förderprogramm für Freiwilligeneinsätze. Dieses fördert auch den Verein Solivol, mit dem Till nach Ruanda ging und der sich für eine Nord-Süd-Kooperation zur nachhaltigen Energiegewinnung einsetzt.

Ein entsprechendes Förderprogramm gibt es in Österreich nicht. Natalie ging über die österreichische Entsende-Organisation „Grenzenlos“ nach Ecuador und musste die Kosten ihres Auslandsaufenthalts selbst übernehmen. Das begünstigt junge Menschen aus gutsituierten Familien. Positiv an „Grenzenlos“ ist, dass es einen gegenseitigen Austausch zumindest anbietet und internationale Freiwillige nach Österreich kommen können, erklärt Jana Herbst. In Deutschland wurde nach massiver Kritik an „weltwärts“ das Programm „weltwärts-Reverse“ eingeführt, in dem internationale Freiwillige nach Deutschland kommen können. Allerdings wird „weltwärts-Reverse“ in weit geringerem Ausmaß gefördert. Von einem gegenseitigen Austausch auf gleicher Augenhöhe ohne Rassismus und koloniale Kontinuitäten sind Freiwilligendienste also noch weit entfernt.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der Jugendarbeit sowie als freie Journalistin tätig.

 

AutorInnen: Katharina Gruber