Volksgemeinschaft statt Klassenkampf
In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.
Die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierungspartei Fidesz folgt weder neoliberalen Strategien wie der Verschlankung des Staates und der Kürzung der Sozialleistungen, noch betreibt sie sozialdemokratische, etwa keynesianistische Beschäftigungspolitik. So manche BeobachterInnen der ungarischen Politik stehen daher vor einem Rätsel: Warum erlässt ein Politiker, der vor nicht allzu langer Zeit noch (wirtschafts-) liberale Positionen vertrat, plötzlich Gesetze, wie etwa das Notenbankgesetz von 2011, welches der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins gibt? Und warum geht Orbán nicht den neo-klassischen Weg der Budgetkonsolidierung durch Steuersenkungen und Sozialkürzungen, sondern einen Weg, der sogar bei der linken Zeitschrift Der Freitag Anklang fand?
RECHTER ANTIKAPITALISMUS. Die Antworten finden sich in der Analyse dessen, was Holger Marcks in Bezug auf Fidesz und Jobbik „Antikapitalismus von rechts“ nennt. Dieser Antikapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht im Sinne etwa von Marx auf die Abschaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen wie Kapital und Staat abzielt, sondern sich vielmehr auf der Grundlage des Kapitals gegen bestimmte Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise richtet. Dabei werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach Marx nur als Ganzes kritisierbar sind, in vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Seiten getrennt. Diese Trennung der ökonomischen Vorgänge folgt dabei dem gleichen Muster wie schon im Nationalsozialismus, in dem das produktive, konkret erscheinende Kapital als „schaffend“ und als „deutsch“ das abstrakte, in Geld erscheinende Finanzkapital hingegen als „raffend“ und „jüdisch“ imaginiert wurde. Die Gründe für diese Spaltung liegen in den kapitalistischen ökonomischen Formen selbst.
Wie Moishe Postone in seinem Essay „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ zeigt, ist der „Antikapitalismus von rechts“ vor allem eine unkritische Ablehnung des Kapitals, die den aus dem Warenfetisch entspringenden Verblendungsmechanismen aufsitzt, die Marx im ersten Kapitel des „Kapitals“ untersucht. Aus dem Doppelcharakter der Ware, als sinnlich-übersinnliches Ding zu besitzen, das Gebrauchswert und Wert, also sowohl Träger von konkreten Eigenschaften als auch Träger und Ausdruck von abstrakten menschlichen Beziehungen zu sein, entspringt das falsche Bewusstsein über den Kapitalismus. Die von Menschen gemachten Verhältnisse, die sich hinter Ware, Geld und Kapital verbergen, erscheinen als Eigenschaften von Sachen. Der Kapitalismus erscheint nicht mehr als historisch-gesellschaftliches Verhältnis, sondern, so Postone, als eine „zweite Natur“, die sich wie die Ware in Konkretes und Abstraktes spaltet. Diese bereits im Fetischcharakter der Ware angelegte Naturalisierung der ökonomischen Formen setzt sich fort: Das Konkrete wird als Industriekapital, Technik und Staat als direkter Nachfolger von natürlichen und organischen Verhältnissen begriffen, während das abstrakte Finanzkapital als parasitär erscheint; die Einheit der industriellen Wertproduktion mit dem zinstragenden Kapital wird im fetischistischen Bewusstsein zerrissen und der Kapitalismus nur noch mit seinen abstrakten Seiten identifiziert.
Im völkischen Antisemitismus potenziert sich dieser Fetischismus gleichsam zum Biologismus. Das produktive Kapital wird der magyarischen „Volksgemeinschaft“ gleich als natürlich und positiv angenommen, während die negativen, abstrakten Aspekte der Ökonomie als Auswüchse einer Verschwörung von außen imaginiert werden. Die Art und Weise, wie die Völkischen in Ungarn über jene sprechen, die sie für kapitalismusimmanente Krisenphänomene verantwortlich halten – sei es das „Groß- und Finanzkapital“, die EU oder der Internationale Währungsfonds (IWF) –, gibt Aufschluss darüber, dass sie im Zweifel genau wissen, wer eigentlich dahinter steckt: eine oftmals mit antisemitischem Vokabular beschriebene Verschwörung.
VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER ORBÁN. Nicht zufällig nennt Orbán seine Wirtschaftspolitik eine Hinwendung „vom spekulativen zum produzierenden Kapitalismus“. Sobald Orbán auf die einzelnen AkteurInnen der spekulativen Wirtschaft zu sprechen kommt, die er von den nationalen, produktiven und als positiv erachteten trennen will, tauchen antisemitische Konnotationen und Anspielungen auf. So spricht Orbán etwa von einem „wirtschaftlichen Befreiungskampf“ gegen das spekulative Geschäft der Banken sowie gegen den IWF, aus dessen „Würgegriff“ man sich befreien müsse – als käme die Krise des Kapitals von außen, statt aus den eigenen Tendenzen des Kapitals.
Der Kampf gegen die Banken schlug sich in konkreten gesetzlichen Maßnahmen nieder. Als Maßnahme zur Konsolidierung des Staatshaushaltes angekündigt, beschloss Fidesz kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte Sondersteuern für Banken, die vor allem ausländische Banken traf, sowie ein Notenbankgesetz, das der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins verlieh. Anlässlich der negativen Reaktionen vonseiten der EU und des IWF sprach die Regierung von einer „Verschwörung“ der „internationalen Linken“, die Ungarn mit „Finanz- und Spekulationsangriffen“ in die Mangel genommen hätte. Schließlich nahm Orbán die meisten Regelungen des Notenbankgesetzes zurück, drohte aber mit einem „Wirtschaftskrieg“ gegen jene, die das Leben der Ungarn „wie eine Krake zuschnüren“. Die antisemitischen Zuschreibungen an IWF und EU sind greifbar.
KALMIERUNG DES KLASSENKONFLIKTS. Die Verlagerung des konstitutiven Krisencharakters kapitalistischer Ökonomie nach außen wird von der vermeintlichen Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche begleitet. Statt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch Institutionen wie Industriellenvereinigungen und Gewerkschaften auszutragen, wird er in Ungarn zunehmend verdrängt und externalisiert. Das zeigt sich auch in der Zusammenlegung der Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen zu einem „Ministerium für Volkswirtschaft“. Nicht zufällig strebt Orbán demnach eine Ökonomie an, die nicht auf dem „arbeitslosen Einkommen“ der Banken beruht, sondern „auf Arbeit“, wie es der Pfeilkreuzler Ferenc Rajniss schon 1937 in einem Vortrag über die „Judenfrage“ vor dem antisemitischen Turul-Verband einforderte. Dabei geht es Orbán jedoch keineswegs um die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeitenden, sondern um eine umfassende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik gegen die als „jüdisch“ imaginierten Seiten des Kapitalismus.
Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.