Unterricht im Wohnzimmer
Immer mehr Kinder in Österreich werden privat unterrichtet. Der Lernerfolg ist gut, fehlende Kontakte zu Gleichaltrigen bringen aber Probleme.
Immer mehr Kinder in Österreich werden privat unterrichtet. Der Lernerfolg ist gut, fehlende Kontakte zu Gleichaltrigen bringen aber Probleme.
Im Wohnzimmer der Familie Haubenberger-Lamprecht liegen Stifte und Schreibzeug zwischen Stofftieren und Bauklötzen, eine Spielzeugeisenbahn fährt um eine Schultafel, in der Küche kleben Postits: „Meer“ und „mehr“ steht darauf, „Dusche“ und „Tusche“. Für die beiden Söhne Jonas (8) und Elias (5) gibt es keinen Unterschied zwischen Klassenzimmer und Wohnzimmer. Die beiden werden zu Hause unterrichtet.
Etwa 2200 Kinder in Österreich sind wie Jonas und Elias von der Schule abgemeldet und lernen daheim oder in einer Alternativschule ohne Öffentlichkeitsrecht. Das ist möglich, weil in Österreich genau genommen keine Schulpflicht, sondern nur eine Bildungspflicht besteht. Österreichische Kinder müssen zwar unterrichtet werden, wo, von wem und wie schreibt das Gesetz aber nicht vor. Eltern müssen den Hausunterricht beim jeweiligen Landesschulrat beantragen. Innerhalb eines Monats kann dieser zwar ablehnen, in der Regel wird der Heimunterricht aber genehmigt. Abgelehnt werden nur Anträge von Eltern, die gar nicht erklären können, nach welchen Methoden sie ihre Kinder unterrichten werden, erklärt Mathilde Zeman von der Schulpsychologie Wien.
Sigrid Haubenberger-Lamprecht weiß das ganz genau, sie betreibt sogenanntes Unschooling. Das heißt, einen Stundenplan mit Mathe und Deutsch wie in der Schule gibt es für ihre Söhne nicht. Das Wichtigste sei das Vertrauen darauf, die Kinder einfach wachsen zu lassen, erklärt Haubenberger-Lamprecht: „Jeder Mensch kommt mit seinem Potential auf die Welt und es braucht nur Raum, dass er sich entfalten kann.“ Jonas und Elias beschäftigen sich also einfach mit dem, was ihnen gerade einfällt. Jonas interessiert sich zum Beispiel für Bienen, seine Mutter will deshalb Kontakt mit einem Imker aufnehmen.
Mathe und Lesen lernten die beiden nebenbei. Als Jonas einmal ein Puzzle bekam, auf dessen Schachtel „100 Teile“ stand, zählte er sofort nach. „Da stand 100 drauf, aber es waren nur 97!“, ruft er. Seine Mutter lächelt: „Das ist doch auch Mathe.“ Lesen üben die beiden Buben unterwegs mit Schildern und Aufschriften, beim Vorlesen oder indem sie das Alphabet mit den Armen nachstellen. Elias setzt sich an den Tisch. „Elias“ schreibt er mit Buntstiften auf ein weißes Blatt, dann „Jonas“. Er hält den Zettel hoch. „Ich bin der Elias. Und das ist mein Bruder, der Jonas.“ Auf die Frage, ob er schon die Uhr lesen könne, schüttelt Jonas zögerlich den Kopf. Nein, aber auf der Stelle kontrolliert er alle Uhren in der Wohnung: die laut tickende in der Küche, die kleine mit den roten Zeigern am Boiler. „Mama, warum ist der Zeiger da auf sieben und da nicht?“ Eine der Uhren geht falsch. Wieder etwas gelernt.
In Österreich ist diese Art des Lernens erlaubt. Ganz anders sieht die Situation in Deutschland aus. Wer dort seine Kinder nicht zur Schule schickt, muss Strafe zahlen. Manche Familien nehmen diese Kosten einfach in Kauf oder melden ihre Kinder nach der Geburt
nicht. Die Familie Boersma ist nach Österreich gezogen. „Das war schon eine Trotzreaktion“, sagt Vater Auke Boersma: „Eltern sind doch mündige Bürger, die die Freiheit haben sollten, selbst zu entscheiden.“ Für seine drei Töchter und seinen Sohn sieht der Tag
aber ganz anders aus als für Jonas und Elias. Am Vormittag lernen sie mit Arbeitsblättern und Schulbüchern. Die Hauptfächer kommen dabei jeden Tag dran. Am Nachmittag geht es dann in die Musikschule oder zur Tanzstunde. Der Unterricht orientiert sich am Lehrplan, die älteren Mädchen müssen ja auch ihre Externistenprüfungen bestehen.
Denn auch wenn die rechtliche Lage in Österreich sehr locker ist, werden alle HeimschülerInnen einmal im Jahr in einer Schule über den Jahresstoff geprüft. Wer nicht besteht, muss in die Schule. Das sei schon eine Stresssituation für die Kinder, erzählt Boersma. Die Noten dürfe man nicht allzu ernst nehmen, weil die PrüferInnen nur zehn Minuten Zeit haben, die Kinder zu beurteilen. Auch Jonas hat mit seinen acht Jahren schon zwei Prüfungen hinter sich. In den ersten Volksschuljahren ist die Prüfung ein lockeres Gespräch und war kein Problem für den Buben. Wenn Jonas älter wird, wird das Unschooling die Prüfung aber erschweren, weil er ja nicht nach dem Lehrplan lernt.
Joya Marschnig vom Verein Freilerner klagt deshalb beim Verwaltungsgerichtshof. Sie unterrichtet ihre Tochter ebenfalls zu Hause und fordert, dass sie sich die Prüfungsschule selbst aussuchen darf. Denn Externistenprüfungen dürfen nur Schulen mit Schulartbezeichnung, also etwa Hauptschulen oder Gymnasien, durchführen. Alternativschulen, die nach ähnlichen Konzepten wie Unschooling unterrichten, lassen sich oft in keine Kategorie einordnen und dürfen daher auch nicht prüfen.
Diese Regelung ist aber laut Schulpsychologin Zeman sinnvoll. Denn Unschooling sei zu wenig, erklärt sie. Der Unterricht zu Hause könne zwar anders strukturiert sein, Eltern müssten ihren Kindern dennoch offizielle Bildungsabschlüsse ermöglichen. „Im schlimmsten Fall sagen die Eltern, wenn der Sohn heute nicht lesen will, dann liest er halt in fünf Jahren. Und dann bleibt er fünf Jahre lang Analphabet.“ Also müsse der Staat kontrollieren, dass so etwas nicht vorkommt.
So unterschiedlich die Formen des Hausunterrichts sind, so unterschiedlich sind auch die Gründe für eine solche Entscheidung. Der deutsche Soziologe Thomas Spiegler fasst sie mit den Worten „Werte, Wissen, Wohlergehen“ zusammen. Die ersteren halten jene Eltern hoch, die ihre Kinder aus politischen oder religiösen Gründen aus der Schule nehmen, etwa weil sie Lehrinhalte wie Sexualkunde oder Evolutionstheorie ablehnen. In Deutschland machen religiöse Bewegungen laut Spieglers Studien den Großteil der Homeschooler aus. Andere Eltern befürchten, dass ihre Kinder in der Schule nicht genug lernen oder sind mit den Methoden nicht einverstanden. Für die dritte Gruppe von Familien ist Homeschooling nur eine Übergangslösung: Die Kinder bleiben wegen Problemen wie Mobbing oder aufgrund einer Krankheit für einige Zeit daheim. Diese Form des Homeschoolings spiele im Schulsystem aber keine Rolle, weil es zeitlich begrenzt sei, erklärt Stefan Hopmann vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Obwohl Homeschooling in Österreich erlaubt ist, gibt es hierzulande weniger Studien als in Deutschland. Laut einer Pilotstudie mit 20 Familien sei aber ein typischer Grund in Österreich die Ablehnung des Schulsystems, so Hopmann.
Diese war auch für Sigrid Haubenberger-Lamprecht ausschlaggebend. „Es war immer klar, dass wir anders sind.“ Alle Kindergärten, die sie besichtigte, boten nicht genug Freiheit für Jonas. Und nachdem sie über Unschooling gelesen hatte, wurde ihr klar: „So möchte ich auch leben. Die Zeiten nicht von außen bestimmen lassen. Wir bestimmen, wann wir aufstehen und wann wir ins Bett gehen.“ Auch für Auke Boersma war Schule immer mit Unbehagen verbunden: „Die Kinder gehen in die Schule und dann kommen die Schimpfwörter.“ Er will seinen Kindern christliche Werte vermitteln und so fiel die Entscheidung, nach Österreich zu ziehen. „Als Eltern hat man einen guten Draht zu den Kindern. Man beantwortet ja in den ersten sechs Jahren auch tausend Fragen.“ Eltern, die sich für Homeschooling entscheiden, seien meistens sehr engagiert, sagt Schulpsychologin Zeman. Sie seien stark an Bildung interessiert, nur nicht an Bildungsinstitutionen.
Genau das kann laut SoziologInnen aber zum Problem werden. „Wenn ich Schule alleine als das Erlernen von Inhalten sehe, gibt es kaum Probleme“, erklärt Hopmann. Im Gegenteil: SchülerInnen, die daheim unterrichtet werden, schneiden aufgrund der individuellen Betreuung bei Prüfungen meist besser ab als Schulkinder. Wenn aber Schule als Übergang von Familie zu Gesellschaft verstanden wird, gäbe es viele Probleme, so Hopmann. Und diese Sozialisationsfunktion der Schule sei mindestens so wichtig wie Wissensvermittlung.
„Ah! Die große S-Frage!“, ist die Reaktion der meisten Homeschooler auf die Frage nach den sozialen Kontakten ihrer Kinder. Die Frage sei aber, ob Kinder in der Schule wirklich Sozialisation lernen, kritisiert Joya Marschnig. Sie lebe ja nicht abgeschottet, ihre Tochter habe trotz Homeschoolings viele FreundInnen. Auch Auke Boersma ist skeptisch. „Wenn ich im Zug sitze und sechs Schüler
sehe, die alle in ihre Handys hineintippen, dann denke ich mir: Glückwunsch zu dieser gelungenen Sozialisation!“
Fehlende FreundInnen seien auch nicht das Problem, geben ExpertInnen zu bedenken, sondern die Fähigkeit, mit der sozialen Dynamik einer Gruppe zurechtzukommen und Konflikte außerhalb der Familie zu lösen. „In der Schule lerne ich mit Kindern aus anderen sozialen Verhältnissen umzugehen, mit Lehrern, die nicht so lieb sind wie Mama, mit Zeitdruck und Aufgaben, die ich nicht
so mag“, erklärt Hopmann. Auch Zeman kritisiert fehlende Gruppenerfahrung und die Fixierung auf die Familie. Konflikte mit Gleichaltrigen auszutragen, sei ein wichtiger Entwicklungsschritt. Sigrid Haubenberger-Lamprecht sieht das anders: „Ich glaube nicht, dass ich etwas Negatives erleben muss, um damit umzugehen. Nein, ich möchte es schön haben im Leben.“
Im Leben laufe aber nicht alles wunderbar, entgegnet Zeman. Und wer nie lerne, sich in ein soziales Setting einzugliedern, mache später bittere Erfahrungen im Studium und im Berufsleben. „Irgendwann kommt das Leben auf uns zu. Die Kinder können nicht für immer zu Hause sein.“ Auch im Traumberuf müsse man hin und wieder langweilige Arbeiten erledigen. Und in vielen Betrieben sei es wichtig, dass bestimmte Aufgaben zu einer bestimmten Zeit erledigt werden. In der Schule wiegen hier falsche Entscheidungen noch nicht so schwer, stimmt Hopmann zu. Später im Beruf ist die Folge von Schwierigkeiten, sich mit Gruppendynamik, Zeitdruck und ungeliebten Tätigkeiten zu arrangieren, aber die Kündigung. „Eltern, die ihre Kinder aus religiösen oder Anti-Schul-Motiven zu Hause unterrichten, tun ihnen keinen Gefallen“, warnt Hopmann.
Die „FreilernerInnen“ kämpfen dennoch weiter für ihr Recht, selbst über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. „Als Mutter bin ich die größte Expertin für mein Kind“, meint Marschnig: „Warum sollte irgendein Bildungswissenschaftler besser Bescheid wissen als ich als Mutter?“
Magdalena Liedl studiert Zeitgeschichte und Anglistik an der Uni Wien.