Hass im Netz
Dickpicks nach der Yogastunde und Instagramkunde in der Volksschule
Unangemessene grafische Inhalte und beleidigende Privatnachrichten gehen Hand in Hand mit dem rasanten Wachstum der neuen Technologien und des Internets sowie der verstärkten Nutzung von Netzwerken wie Facebook, Telegram oder Tinder. Als Folge der anhaltenden Pandemie, die die Menschen in ihre Wohnungen - und vor allem hinter ihre Bildschirme - zwingt, schießen Cybergewalt und Hassattacken im Netz in die Höhe. Und damit auch die fatalen Folgen jener Übergriffe auf die Gesundheit junger Menschen.
Vor ein paar Wochen spazierte ich um 7:30 Uhr nach meiner morgendlichen Yogastunde zu meinem Studijob in einer Kanzlei, als ich plötzlich einen Anruf von einer meiner engsten Freundinnen erhielt: „Babsi, ich war gerade bei der Polizei und bin noch sehr nervös, können wir kurz reden?“. Sie erklärte mir, dass sie trotz mehrmaligem „Nein“ von einem Mann unangebrachte Fotos erhalten hatte und dass es in Österreich (noch) keine Möglichkeit gäbe, ein solches Verhalten mit strafrechtlichen Konsequenzen zu ahnden. Komplett erschrocken verwandelte sich mein Spaziergang in eine unglückliche Recherche:
Der aktuelle United Nations Women-Bericht besagt, dass im Jahr 2018 fast 73% der Frauen Online-Missbrauch erlebt haben. Erst kürzlich hat Hass im Netz einen neuen Höhepunkt erreicht: Zwischen Juli 2019 und 2020 wurden insgesamt 104.852 gefälschte Nacktbilder von Frauen veröffentlicht. Der Bösewicht in dieser Causa war ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter, großteils kostenloser Bot des Nachrichtenkanals Telegram. Benutzer*innen können dem Bot Fotos von Frauen –aktuellen Meldungen zufolge auch von Kindern - schicken, der diese daraufhin innerhalb kürzester Zeit digital auszieht.
Schmerzbereitend sind auch die Zahlen im Bereich Cyber-Stalking: 70 % der Frauen, die Cyber-Stalking erlebt haben, haben auch mindestens eine Form körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt durch einen Intimpartner erlebt, und 5 % der Frauen in Europa haben seit dem Alter von bereits 15 Jahren eine oder mehrere Formen von Cyber-Stalking erlebt.
Es ist kein Geheimnis, dass Frauen den (bisher gemeldeten) Zahlen zufolge weitaus am meisten von solchen Angriffen betroffen sind. Viel weniger wird über sexualisierten Kindesmissbrauch im Netz gesprochen. Dieser setzt sich zu 90% aus Darstellungen von Mädchen und zu 10% aus Darstellungen von Jungen zusammen. Entsetzlicherweise zeigen 79% davon Kinder im Alter zwischen 3 und 13 Jahren.
Die Folgen solcher Angriffe sind fatal. Nach Angaben von Amnesty International erlebt jede zweite Frau, die Opfer von Online-Missbrauch wurde, ein geringeres Selbstwertgefühl oder einen Verlust des Selbstvertrauens sowie Stress, Angst oder Panikattacken. Im Jahr 2014 bestätigte UNICEF, dass das Risiko eines Selbstmordversuchs für Opfer von Cybercrimes 2,3-mal höher ist als für Nicht-Opfer.
In ganz Europa gibt es unzählige Initiativen, die Schutz vor Hass im Netz bieten. Um einige der zahlreichen Beispiele zu nennen: SafetyNed194, eine niederländische Plattform, die von vier Frauenhäusern geleitet wird, mit dem Ziel, sowohl Opfer häuslicher Gewalt als auch diejenigen, die sich um sie kümmern, mit Schutzinstrumenten auf digitalen Plattformen und neuen Technologien auszustatten; Fix the Glitch, eine im Vereinigten Königreich ansässige Organisation, die von Seyi Akiwowo, einer jungen britisch-nigerianischen Politikerin, gegründet wurde, bietet Workshops und Empfehlungen zur Bekämpfung des Online-Missbrauchs von politisch aktiven Frauen an; Antiflirting (mittlerweile @antiflirting2), ein Instagram-Account mit über 80.000 Followern, der Sexismus im Netz sichtbar macht; Dickstinction in Deutschland, eine Website mit der in unter einer Minute eine Strafanzeige erstellt wird; das No Hate Speech Movement des Europarates, Stop Cybersexisme in Frankreich, PantallasAmigas in Spanien oder ZARA, die österreichische Organisation für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit.
ZARA ruft vor allem zur Zivilcourage auf. Es brauche entsprechende Präventionsmaßnahmen, weshalb der Verein ein Gegenrede-Tool entwickelt hat, damit man schnell und wirksam auf Hasspostings reagieren kann. Die Meldungen nehmen erschreckenderweise jährlich um ein Drittel zu. Allein im Zeitraum vom August 2019 bis September 2020 gingen bei der ZARA-Beratungsstelle #GegenHassimNetz 2.521 Hass-Meldungen ein. Durch die intensive Thematisierung und mediale Aufmerksamkeit wurde vielen Opfern erst bewusst, dass man sich gegen derartige Angriffe wehren kann: Es ist nicht verwunderlich, warum Joko und Klaas vor ein paar Wochen mit ihrer Ausstellung „Männerwelten“ über Gewalt gegen Frauen im Netz nicht mehr zu übersehen waren. Solche Aufschreie aus der Gesellschaft und Bewegungen, die Hass direkt thematisieren, wie beispielsweise #BlackLivesMatter, vervielfachen Meldungen. Einer auf ZARA veröffentlichten Statistik zufolge sind 35% der gemeldeten Fälle (straf)rechtlich verfolgbar – vorwiegend handelt es sich hier um Verhetzung, Beleidigung und Verstöße gegen das Verbotsgesetz – bei 65% der Meldungen konnten keine rechtlichen Schritte gesetzt werden.
Aktuell gibt es neben den bereits bestehenden Straftatbeständen eine eigene Strafbestimmung für "Cyber-Mobbing". Verstöße gegen diese sind mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu ahnden. Etwas mulmig wird mir bei der Strafbemessung, wenn die Tat den Selbstmord oder einen Selbstmordversuch der verletzten Person zur Folge hat. In diesen unvorstellbar schrecklichen Fällen sind Täter*innen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zu bestrafen. Auf Gesetzgeberseite ist das Gesetzespaket „Hass im Netz“, das am 01.01.2021 in Kraft getreten ist, ein wichtiger Schritt für die Implementierung eines effektiveren Schutzes vor Hasspostings im Internet. Allerdings spießt sich das Gesetz mit mehreren EU-Richtlinien und könnte weniger wirksam ausfallen als erhofft. Es fällt mir schwer, bei dieser formalen Symptombekämpfung einen Erfolg zu verzeichnen, wenn man sich die Zahlen ansieht. Ist die Aufnahme neuer gesetzlicher Tatbestände wirklich der aktuell effektivste Schutz für Generation Google?
Nach wie vor wird genau diese Generation mit verstaubten Lehrplänen, wie sie unsere Eltern noch kennen, für das Leben ausgerüstet. Während unsere Jüngsten nach wie vor lernen, wie die alten Römer im Liegen aßen, wird kaum auch nur erwähnt, wer dafür verantwortlich ist, dass all die Antworten auf diese Fragen binnen Sekunden im Netz abrufbar sind oder wie man kritisch an die etlichen Antworten herangeht. Es wird in der Schule wochenlang darüber gesprochen, wie Nikotin die Lunge schwärzt, aber nicht darüber, wie das Internet unsere Denkweise und Laune, ja sogar unsere Hirnmasse in ihrer Form verändert. Das Zetterlschreiben ist binnen weniger Jahre zum WhatsApp-Chat geworden, der Unterricht hat sich bis auf das gelegentliche Aufpeppen durch Power Point kaum verändert. Wäre Corona nie gewesen, wäre wohl auch nie ein Onlineraum fürs Lernen denkbar gewesen.
Jetzt ist es wichtiger als je zuvor genau diese Chance zu nutzen, um diesen virtuellen Raum in einen sozialen Lernraum zu verwandeln. Nur weil der Hass im Internet steht, bedeutet das nicht, dass er dort entsteht. Berichten des Europarates zufolge haben 54% der Opfer, die online schikaniert oder sexuell belästigt wurden, ihren Missbraucher im wirklichen Leben schon einmal getroffen. Es ist also zu Recht anzunehmen, dass potentielle Täter*innen im selben Klassenzimmer sitzen wie ihre Opfer. Jungen Erwachsenen muss nicht nur beigebracht werden, Gedichte zu analysieren, sondern auch kritisch mit sozialen Medien und den Inhalten, die man teilt und sieht, umzugehen. Der gravierende Einfluss dieser Medien und die damit einhergehenden Konsequenzen und Gefahren müssen jungen Menschen nähergebracht werden. Es wird Zeit, die Bühne für Lehrer*innen frei zu machen, die statt dem Handyverbot die Handys gemeinsam mit den Schüler*innen in die Hand nehmen. Und jetzt, wo man endlich in einem Raum angekommen ist, der uns dazu zwingt, uns mit Hass im Netz auseinanderzusetzen, muss ein Umdenken stattfinden. Kommunikation hat sich verändert und mit ihr auch die Köpfe der Schüler*innen. Im Schulalltag macht sich diese Veränderung aber kaum bemerkbar, sie wird oft ignoriert, anstatt sie mit in das Klassenzimmer zu nehmen. Natürlich kann man immer wieder mit dem Finger auf das Internet zeigen. Sinn macht es aber mehr, das Fingerzeigen in ein gemeinsames Tappen am Bildschirm umzuwandeln.
Wie sieht es an Österreichs Hochschulen mit der Problematik aus? Langsam aber sicher – und um einiges schneller als im Pflichtschulbereich - kommt Hass im Netz auch in der Lehre an. Unter dem Begriff „Cyberpsychologie“ wird mittlerweile sogar ein Masterstudium an der FH WKW angeboten, das sich ausschließlich den Auswirkungen des Internets und der Sozialen Medien auf die Psyche des Menschen widmet. Verschiedenste Curricula erlauben immer wieder die Einbeziehung der Thematik im Pflichtbereich, immer öfter konfrontieren Dozent*innen und Professor*innen in ihren LVs Studierende direkt, wie beispielsweise in der letztes Semester auf der Uni Wien angebotenen Lehrveranstaltung „Hass im Netz: Geschlechterperspektiven auf Gewalt in digitalen Medien“. Von einzelnen Organisationen wurden während der Pandemie und während der Lockdowns vermehrt Helplines als Erstanlaufstelle eingerichtet und beworben. Die ÖH startete vor wenigen Wochen die „Mental-Health“-Kampagne „#reddrüber“, um die massive psychische Belastung von Studierenden nach außen zu tragen und aufzuzeigen, wo Hilfe bereitsteht.
Je sichtbarer es wird, dass gemeinsam gegen solche Angriffe und daraus folgende Schwierigkeiten vorgegangen werden kann, und je transparenter und lauter Initiativen dagegen vorgehen, umso höher ist auch die Schwelle für potentielle Täter*innen. Zahlreiche Initiativen bewegen Gesetzgeber zu Reformen - ob diese solche Angriffe tatsächlich zurückdrängen werden, bleibt allerdings fraglich. Instagramkunde scheint vielleicht für so manch eine*n Leser*in etwas überspitzt. Solange die Problematik aber nicht intensiv(er) junge Menschen erreicht, wächst die potentielle Angriffsgefahr und mit dem Unwissen über (gesetzliche) Verfolgungsmöglichkeiten auch die Zahl der potentiellen Angreifer*innen.
Barbara Abdalla