Gegen den Strom studieren
Mit einem Individuellen Studium können Studierende den strengen Bologna-Vorgaben entfliehen, ganz nach den eigenen Vorstellungen Fächer zusammenstellen und interdisziplinär studieren. So zumindest die Hoffnung. Doch lohnt sich der Aufwand?
Mit einem Individuellen Studium können Studierende den strengen Bologna-Vorgaben entfliehen, ganz nach den eigenen Vorstellungen Fächer zusammenstellen und interdisziplinär studieren. So zumindest die Hoffnung. Doch lohnt sich der Aufwand?
Migrations- und Integrationsforschung, Wirtschaftswissenschaftliche Andragogik, Angewandte Ökologie und Abfallwirtschaft: Diese Studien hat es allesamt an österreichischen Universitäten gegeben. Manche gibt es in ähnlicher Form auch heute noch. In vielen Fällen allerdings nur ein einziges Mal: als Individuelles Studium. Die Möglichkeit, individuell zu studieren – also sich sein eigenes Curriculum zusammenzustellen –, wird seit Jahrzehnten von Studierenden genutzt, die sehr genaue Vorstellungen davon haben, was sie wollen.
Judith W. kam auf die Idee, individuell zu studieren, als sie im Laufe ihrer Bachelorstudien die ersten Praktika absolvierte. Die vielfältigen Inhalte, die sie für ihre Praktika benötigt hätte, waren in keiner der an der Universität Salzburg angebotenen Studienrichtungen gesammelt zu finden. „Ich habe schon den Eindruck, dass sehr im eigenen Fachbereich gedacht wird und nicht wirklich viel über diese Grenzen hinaus“, sagt Judith. Daher entschied sie sich für ein Individuelles Masterstudium: Migrations- und Integrationsforschung. Ihr Studium hat sie an den Instituten für Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft interdisziplinär absolviert.
STUDIUM IRREGULARE. Seit 1966 gibt es an den staatlichen Universitäten Österreichs die Möglichkeit, ein Individuelles Studium zu belegen. Das bedeutet: eigener Studienplan, eigene Studienbezeichnung, eigener Karriereweg. Und die Möglichkeit, Vorreiter*in für andere Studierende in einem neuen Berufsfeld zu werden. Nicht wenige reguläre Studien haben sich aus Individuellen Studien entwickelt: So kann man heute Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur an der Universität für Bodenkultur Wien, Internationale Entwicklung an der Universität Wien oder die Studienergänzung Migration Studies an der Universität Salzburg regulär studieren. Letztere wurde aus Judiths Studium der Migrationsforschung entwickelt.
Trotzdem ist der Anteil von Studierenden mit Individuellem Studium überschaubar. An der Universität Linz sind es etwa 0,5 Prozent. Diese Zahl ist über die Jahre nur leicht angestiegen. Was individuell studiert wird, ändert sich immer wieder: Während an der Universität Linz früher Wirtschaftsrecht das beliebteste Individuelle Studium war, ist es heute die Wirtschaftswissenschaftliche Andragogik – eine Spezialisierung der Erwachsenenbildung. „An den Individuellen Studien kann man ablesen, dass es in diesem Bereich eine Nachfrage gibt“, sagt Rebecca Haselbacher, Leiterin des Lehr- und Studienservices an der Universität Linz. Bei der Entscheidung, ein Individuelles Studium zu absolvieren, hält sie Beratung für das Wichtigste. „Ich würde jedem raten, es sich gut zu überlegen. Man muss viel Zeit und Energie in die Erstellung eines individuellen Curriculums stecken. Das, was normalerweise eine Studienkommission macht, macht dann eine Person alleine“, sagt sie und gibt zu bedenken: „Man muss auch später immer erklären, was man da studiert hat.“
Die Möglichkeit, individuell zu studieren, wird von den Universitäten kaum beworben. Auf vielen der Homepages der 21 staatlichen Universitäten fehlt der Hinweis auf Individuelle Studien sogar ganz. Was wiederum die Konkurrenz freut: Die Donau Universität Krems wirbt mit einem „Professional MBA Customized“ – „einem einzigartigen Studiengang, der perfekt auf individuelle Karriereziele abgestimmt werden kann“. Immerhin können vier der elf Module dieses „MBA Customized“ aus dem Angebot der Donau Uni frei gewählt werden. Und das lässt sie sich natürlich auch entsprechend bezahlen: 24.850 Euro kostet der komplett individuelle, maßgeschneiderte Masterabschluss. Für ein Studienkonzept, das alles andere als neu ist.
HISTORISCH GEWACHSENE STUDIEN. Während einige Individuelle Studien richtungsweisend für neue Studiengänge geworden sind, haben es andere Studien, wie etwa die Keltologie oder die Numismatik, trotz langjährigem Bestehen nicht in das reguläre Studienangebot geschafft. Das Institut für Numismatik an der Universität Wien wurde im Jahr 1965 gegründet und hält sich seitdem hartnäckig. Derzeit gibt es über 20 Masterstudierende und 14 Dissertierende – alle im Rahmen eines Individuellen Studiums. Ob aus einem Individuellen Studium ein reguläres wird, entscheidet das Rektorat der jeweiligen Universität. Am Institut für Numismatik bemüht man sich seit Jahrzehnten darum – ohne Erfolg.
Das Studium der Internationalen Entwicklung (IE) hatte da mehr Glück. Die Anfänge der IE gehen auf das Jahr 2000 und auf die Initiative einiger Lehrender und Studierender zurück. Die Pläne, das Studium der Internationalen Entwicklung regulär einzurichten, scheiterten zunächst. Deswegen wurde der Ausweg über das Individuelle Studium gewählt. „Zuerst waren es nur wenige Studierende, und dann ist das Studium explodiert“, erzählt Margarete Grandner, Studienprogrammleiterin der Internationalen Entwicklung. Mit der Bologna-Reform wurde die IE dann erstmals zum regulären Studium. In Zukunft wird allerdings nur noch das reguläre Masterstudium fortgeführt, für das heute insgesamt 510 Studierende zugelassen sind. Das Bachelorstudium läuft 2016 – trotz heftiger Proteste – aus. „Interdisziplinäre Bachelorstudien werden verweigert. Das ist sehr bedauerlich“, sagt Grandner.
Die Aufnahme eines individuellen Curriculums in das reguläre Studienangebot ist letztlich eine Geldfrage. Für Roland Psenner, Vizerektor für Lehre und Studierende an der Universität Innsbruck, führt der Weg in die interdisziplinäre Spezialisierung daher eher über zahlenmäßig wenige, dafür aber breiter aufgestellte Bachelorstudien. „In jedem Studium muss es Platz für die individuelle Schwerpunktsetzung geben. Das würde uns von dieser ursprünglich sehr verschulten Bachelorstruktur wieder wegbringen“, sagt er.
Das Individuelle Studium würde er aufgrund des großen Aufwands nicht unbedingt empfehlen und gibt zudem zu bedenken: „Man bekommt nur einen ‚nackten’ Titel.“ Zusätze, die auf eine bestimmte Fachrichtung schließen lassen – wie phil., iur., rer.soc.oec oder Sc. – fehlen dem individuellen Abschluss nämlich.
INDIVIDUELLER HÜRDENLAUF. Wer klare Vorstellungen vom künftigen Berufsfeld hat, wird kaum vor dem Aufwand eines Individuellen Studiums zurückschrecken. Die Universität Wien lässt allerdings über die Homepage des bisher zuständigen Studienpräses wissen, dass sie aufgrund des vielfältigen Studienangebots „geringen Bedarf an individuellen Studien“ sieht, und verweist auf die Möglichkeit der „Absolvierung von Erweiterungscurricula in den Bachelorstudien“ zur Individualisierung des Studiums. Darüber, wie eine entsprechende Individualisierung in Masterstudien, für die keine Erweiterungscurricula vorgesehen sind, zu erreichen ist, schweigt die Seite allerdings. Auf Nachfrage von progresserklärte das Büro des Studienpräses zwar, dass die Verantwortung für Individuelle Studien seit dem 1. März 2015 bei der Vizerektorin für Lehre liegt, war aber sonst zu keinen weiteren Auskünften bereit.
Die Schwierigkeit, einfache Auskünfte über Individuelle Studien zu erlangen, gibt einen Vorgeschmack auf die bürokratischen Mühen, die mit ihnen einhergehen. „Es war ziemlich aufwändig“, erzählt Judith. Das Curriculum muss nämlich mit konkreten Lehrveranstaltungen erstellt werden. „Zwei Jahre später hat es dann nicht mehr genau dieselben Fächer gegeben. Ich musste deswegen immer wieder Kurse anrechnen lassen.“
Ein eigenes Curriculum zu schreiben ist zudem kein einfaches Unterfangen. „Ich würde mit den Leuten sicherlich diskutieren, ob es nicht eine einfachere Möglichkeit gibt. Man verliert natürlich auch Zeit“, so Vizerektor Psenner. Andererseits gehören gerade individuell Studierende zu den engagiertesten. „Über Studierende, die sich so viele Gedanken machen, muss man eigentlich froh sein“, meint Psenner.
Individuell zu studieren war aber nicht immer so schwierig wie heute. Ilse K. entschied sich 1994 dafür, sich ihr eigenes Studium „Angewandte Ökologie und Abfallwirtschaft“ zusammenzustellen. Damals nannte man das noch Studium Irregulare. „Man hat den Studierenden früher mehr Freiheit gegeben. Bei dem Studium konnte man fächerübergreifend machen, was man wollte. Die Zusammenstellung war ganz mir überlassen“, sagt sie. Vor allem im Bereich des Umweltschutzes gab es zu dieser Zeit auch andere irregulär Studierende auf der BOKU. „Aber es waren eine Handvoll“, sagt Ilse. „Die Uni hat dann diese Möglichkeit eingeschränkt, weil man Angst hatte, dass die Studierenden mit den Studien in der Wirtschaft nichts anfangen können. Was ja zum Teil auch gestimmt hat.“
UND WER BRAUCHT SOWAS? Ob potentielle Arbeitgeber*innen ein Individuelles Studium als Vorteil oder als Nachteil werten, sei der Einschätzung eines*r jeden selbst überlassen. Die Antwort auf diese Frage wird so verschieden wie die Individuellen Studien selbst ausfallen. Mit ihrem irregulären Studium hat Ilse zehn Jahre erfolgreich in der Privatwirtschaft als Ziviltechnikerin für Altlastensanierung gearbeitet. „Nachher im Beruf hab’ ich schon festgestellt, dass ich gewisse Lücken habe, zum Beispiel in der Technik“, sagt sie. „Dafür hatte ich auf der anderen Seite aber auch Vorteile aufgrund meiner Chemiekenntnisse.“ Ilse bereut ihre Entscheidung nicht. „Ich habe studiert, was mich interessiert hat“, sagt sie.
Manchmal treffen Studierende mit ihrer individuellen Karriereplanung den Nerv der Zeit und gestalten mit ihrem Curriculum ein sich gerade entwickelndes Berufsfeld mit – manchmal auch nicht. „Gerade mein Thema ist eine Querschnittsmaterie. Ich habe wirklich die Grundlagen aus den verschiedenen Bereichen mitbekommen“, sagt Judith. Zweifel an ihrer Studienwahl kamen ihr nie. „Je länger ich studiert habe, desto überzeugter war ich davon“, sagt sie. „Auch wenn die Lehrveranstaltungen keine inhaltlichen Überschneidungen hatten, hat insgesamt alles zusammengepasst.“ Im Berufsleben hat sie mit ihrem Individuellen Studium oft einen klaren Vorteil: „Bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Disziplinen tue ich mir sehr viel leichter als andere.“
Verena Ehrnberger ist Juristin und studiert Komparatistik an der Universität Wien.