Fußnoten zum Wahn
Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören. Das gelingt in der typographischen Gestaltung durchaus: Hitlers Erzählung wird vom wissenschaftlichen Apparat richtiggehend umklammert. Erfolgreich ist ebenso das Unternehmen, Hitlers fantastische Schilderung seines Lebens gegen den tatsächlichen biographischen Hintergrund zu kontrastieren.
Doch der Wahn, den Hitler in „Mein Kampf“ ausbuchstabiert, lässt sich nicht durch penible Faktenrecherche widerlegen. Allzu oft schrecken die Herausgeber davor zurück, die ideologischen Abgründe und nicht bloß die historische Landschaft auszuleuchten. Auf Hitlers Litanei, dass die „jüdische Bastardierung“ die deutschen Städte dorthin bringe, „wo Süditalien heute bereits ist“, reagieren sie etwa mit dem Hinweis, dass Hitler hier falsch liege, da im Süden Italiens seit Jahrhunderten nur eine winzige jüdische Gemeinde existierte. An solchen Stellen wird der Kommentar zu Besserwisserei. Wer Hitlers Wahn konsequent wie eine Ansammlung von Irrtümern behandelt, vermittelt den Eindruck, statt „Mein Kampf“ zu kommentieren, den Führer belehren zu wollen.
Am tiefsten schürft der Kommentar dort, wo er am nächsten an der textlichen Oberfläche bleibt. Über die Armut, die er in Wien erlebt hat, schreibt Hitler etwa: „Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ Das Bild ist als Ganzes verunglückt, wird in der Fußnote bemerkt: Nattern würgen nicht, und wen sie dennoch würgen, der kann ihre Giftzähne nicht sehen. Stürzt die Metapher ins Leere, befindet sich häufig auch der Gedanke im freien Fall.
In tausenden anderen Fußnoten und Einleitungen erfährt man mehr oder häufig auch weniger Bedeutendes. Sei es über Hitlers Diät in der Festungshaft in Landsberg („Eier, Butter, Zitronen“), sei es über das Lieblingshobby von Hitlers Vater („Bienenzucht“). Wer so etwas wissen will, verwechselt das Interesse an der Person Hitler mit der Begeisterung für des Führers Privatleben. Es steht zu befürchten, dass der riesige Zuspruch für das Buch – mehr als 60.000 verkaufte Exemplare – nicht zuletzt auf diesem Missverständnis beruht. Den Herausgebern ist der Erfolg nicht vorzuwerfen: Ihre Edition ermöglicht das Studium des Textes, verhindert aber seine ungestörte Lektüre.
Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hg.):
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition.
Institut für Zeitgeschichte München- Berlin 2016. 1.966 Seiten, 59 Euro.
Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.