Durchgekämpft

  • 16.02.2013, 09:17

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Auf der unteren Mariahilferstraße, zwischen Supermarkt und Stiftskirche ist das Reich des Christian Meischl. Jeden Vormittag kommt der 44Jährige hierher, mit mehreren Augustin-Ausgaben unter dem Arm, und verkauft die Straßenzeitung. Meischl kennt fast alle, die hier vorbei kommen. Ihm fällt auf, wenn ein Mistkübler auf dem vorbeifahrenden orangen Müllwagen der Magistratsabteilung 48 fehlt, fragt die Kollegen, wie es ihm geht und wünscht gute Besserung. Er kennt die Urlaubspläne jener Leute, die in den Büros über ihm arbeiten und freut sich, wenn ihn der Hund der Stammkundin wie einen alten Freund begrüßt.

Meischl hat sich durchgekämpft. Von der Straße zur Notschlafstelle, weiter zur betreuten Wohnung und zum Augustin-Verkäufer. Derzeit ist er sogar auf der Suche nach einem fixen Job als Angestellter. „Die nächsten 20 Jahre den Augustin verkaufen, das ist keine Perspektive für mich“, sagt er. Bis hierher war es aber ein langer Weg. „Als ich obdachlos wurde, wusste ich gar nicht, wohin  ich sollte. Ich habe nicht einmal die Gruft gekannt“, erinnert er sich. Geholfen haben ihm damals andere obdachlose Menschen – sie haben die Notschlafstellen durchtelefoniert und nach einem Bett für Meischl gesucht. „Ich habe weder gewusst, wo eine Essensausgabe ist, wo ich Kleidung bekomme, noch wo ich mich duschen kann“, sagt er. „Obdachlosigkeit war davor einfach kein Thema für mich – da muss ich mich auch selbst am Rüssel nehmen: Auch ich bin früher an den obdachlosen Menschen blind vorbeigegangen.“

Foto: Johanna Rauch

Rund 8000 Personen in Wien sind obdachlos – genaue Zahlen aber gibt es nicht. Die Dunkelziffer kann erheblich höher sein. 2011 haben über 6000 von ihnen die Möglichkeit genutzt, in einer Notschlafstelle unterzukommen. Wer in Wien ein Bett in einem  Notquartier benötigt, geht zu einer Einrichtung namens „P7“ im zweiten Wiener Gemeindebezirk und wird einem freien Bett  zugewiesen. Weitere Hilfe erhält man dann im „bzWO“, wo Plätze für die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe vermittelt werden: für das Übergangswohnen, das betreute Wohnen oder das betreute Dauerwohnen. Je nach körperlichem Zustand und Zukunftsplänen – und auch Glück – erhält man dann einen betreuten Wohnplatz mit langfristiger Perspektive. 

Therapeutisches  Taschengeld. Perspektive geben aber auch Projekte wie der Augustin. Als KolporteurIn der Straßenzeitung kann man sich zusätzlich  zur bedarfsorientierten Mindestsicherung, auf die die meisten wohnungslosen ÖsterreicherInnen Anspruch haben, etwas dazu  verdienen. Für AsylwerberInnen, die finanziell erheblich schlechter gestellt sind, ist der Augustin häufig Teil der Existenzgrundlage – genauso für viele Roma, die aufgrund von struktureller Diskriminierung und den minimalen Sozialhilfen in Rumänien, Tschechien und der  Slowakei in Wien den Augustin vertreiben. „Wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den Personengruppen zu halten“, sagt Mehmet Emir, Sozialarbeiter beim Augustin. „Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, viele aber auch aus Wien – das ist ganz unterschiedlich. So haben wir auch sehr hoch qualifizierte KolporteurInnen, oftmals AsylwerberInnen aus Georgien. Sie dürfen während des Asylverfahrens nicht arbeiten – außer Zeitungen kolportieren“, erklärt er: „Viele sagen in so einem Fall zu dem Geld, das sie beim Augustin verdienen können, auch therapeutisches Taschengeld.“

420 aktive Augustin-KolporteurInnen gibt es derzeit – und 80 weitere werden dieser Tage aufgenommen. Alle zwei Wochen vertreiben sie die 22.000 bis 25.000 Exemplare des Augustins an den verschiedensten Ecken Wiens zu je 2,50 Euro – wovon eine Hälfte an die Kolporteurin geht, die andere an das Zeitungsprojekt. Zu Weihnachten beträgt die Auflage gar 46.000 Stück – hinzu kommen Goodies wie der Augustin-Kalender.  „Wir wären gerne das Blatt, das statt der Heute gelesen wird“, sagt Augustin- Redakteurin Lisa Bolyos. Sie fügt schmunzelnd hinzu: „Das von der Verbreitung her zu schaffen, ist quantitativ schwierig, aber qualitativ vielleicht möglich. Wir bekommen sehr viele LeserInnenbriefe, die zeigen, wie vielfältig unser Publikum ist.“ Ziel ist jedenfalls, meinungsbildend für Wien zu sein und Diskussionsstoff für die Stadt zu liefern. Ob die KolporteurInnen selbst auch den Augustin lesen? „Zumindest teilweise. Manche diskutieren ihn auch mit ihren StammkundInnen“, sagt Bolyos. Trotzdem sei man sich bewusst, dass für viele KolporteurInnen Sprachbarrieren bestünden, da sie Deutsch erst lernen müssen. Aber: „Der Background der wohnungslosen Menschen ist sehr unterschiedlich. Außerdem sind die KolporteurInnen des Augustins nicht grundsätzlich alle obdachlos, sondern Leute, die aus irgendeinem Grund verarmt sind oder aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“    

Wohnungslos. Auch Meischl ist von der Definition her nicht obdachlos – denn er lebt in einer betreuten Einrichtung der Wiener  Wohnungslosenhilfe. Genauer gesagt ist er daher „wohnungslos“: Er hat derzeit keine eigene Wohnung, aber ein Dach über dem  Kopf, einen eigenen Wohnungsschlüssel und damit eigene vier Wände. Das Ziel ist, nach einem Job wieder eine auf ihn selbst  angemeldete Gemeindewohnung zu erhalten. „Vor wenigen Jahren noch wäre das undenkbar gewesen: Drei Jahre lang hatte ich gar kein Geld, keine Mindestsicherung, nichts. Ich bin komplett durch den Rost gefallen und habe gebettelt“, erzählt Meischl. Als er   aber Unterstützung bekam, einen Wohnplatz und Sozialhilfe ging es bergauf. „Beim Augustin war aber leider Aufnahmesperre.  Trotzdem bin ich einfach hingegangen, und so schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte ich schon Zeitungen in der Hand und verkauft“, sagt er. Ein wenig Stolz liegt in seiner Stimme. „Ich hab wirklich jede Chance genützt.“

Keine Grenzen. Gebildet zu sein, die lokale Sprache ohne Akzent zu sprechen, Durchsetzungsvermögen, die richtige StaatsbürgerInnenschaft zu haben – und auch das richtige Geschlecht: Obwohl Obdachlosigkeit die gravierendste Form von Armut in modernen westlichen Gesellschaften darstellt, zeigen sich selbst auf dieser Spitze des Eisbergs noch immer gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen. So haben etwa Nicht-ÖsterreicherInnen gar keinen Anspruch auf das Angebot der Wohnungslosenhilfe – ausnahmsweise wurde diesen Winter ein Notpaket geschnürt, das ein Notquartier unabhängig von der StaatsbürgerInnenschaft für „Nicht Anspruchsberechtigte“ ermöglichte. EU-BürgerInnen stehen zumindest seit der Audimax-Besetzung durchgängig Notquartiere zur Verfügung. Laut dem Bericht des Verbands der Wiener Wohnungslosenhilfe 2011 wurden diese Einrichtungen „entsprechend gestürmt“. Im damaligen Jahr nutzten 719 Männer und 88 Frauen die Nächtigungsmöglichkeiten  in der sogenannten „Zweiten Gruft“. Hieran zeigt sich auch: Obdachlosigkeit kennt zwar keine Grenzen – aber ein Geschlecht. Denn Frauen sind wesentlich seltener obdachlos, aber versteckt wohnungslos. Sie kommen häufig bei Bekannten unter oder gehen  „Zweckbeziehungen“ ein – in denen sie nicht selten sexueller Ausbeutung ausgeliefert sind.

Wie verändert es das Weltbild und die politische Einstellung, wenn man selbst den Augustin verkauft oder einmal obdachlos war? „Für die meisten ist es selbstverständlich, dass sie ein Bett und ein Dach über dem Kopf haben. Aber das ändert sich dann sehr wohl. Man wird bescheidener“, sagt Meischl. Derzeit bemüht er sich, auf der Mariahilferstraße die Vorurteile gegenüber  wohnungslosen Menschen zu bekämpfen. Er spricht mit vielen seiner KundInnen über deren klischeehafte Vorstellung von Obdachlosigkeit. „Mich haben schon viele Leute blöd angeschaut, wenn ich beispielsweise Touristen auf Englisch den Weg erklärt habe“, sagt er. Und mit einem sehr ernsten Lachen: „Aber entschuldige, ich bin doch nicht als Augustin-Verkäufer auf die Weltgekommen.“

AutorInnen: Flora Eder