Die Vernetzungsmaschinerie

  • 13.07.2012, 18:18

Das Internet hat die Struktur von Studierendenprotesten nachhaltig verändert. Die entscheidende Frage wird in der Zukunft sein, wie es am besten gelingen kann, Online- und Offline-Aktivitäten zu verbinden. Eine Analyse.

Das Internet hat die Struktur von Studierendenprotesten nachhaltig verändert. Die entscheidende Frage wird in der Zukunft sein, wie es am besten gelingen kann, Online- und Offline-Aktivitäten zu verbinden. Eine Analyse.

Anfang der 1980er. Die englische Punkband The Clash stellt sich die alles entscheidende Frage: Should I stay or should I go? Der Studierendenprotest ist zwar keine Liebesgeschichte, jedoch geht es wie in der Liebe um die gemeinsame Zukunft. „Hingehen oder heimgehen?“, denkt sich der Publizistikstudent Luca Hammer am Nachmittag des 22. Oktobers. Soeben hat ihm ein Tweet mitgeteilt, dass das Audimax besetzt ist.
24 Stunden später sitzt er dort. Den Arm mit dem Handy in der Hand in die Höhe gereckt, filmt er das Geschehen mit und überträgt es live ins Internet. Hammer mutiert zur digitalen Schnittstelle. Zwischen denen, die hingehen, und jenen, die daheim bleiben. Tags darauf nimmt der Student seine Kamera und den Laptop mit; abends bespricht er mit ein paar Leuten die Webseite; in der Nacht von Samstag auf Sonntag geht unsereuni.at online. Fortan bündelt die Webseite sämtliche Aktivitäten der Studierenden. Links zum Live-Stream, Facebook und Wiki vergrößern den Kreis der AnhängerInnen. Mit der Übersichtlichkeit der Webseite haben die Studierenden einen entscheidenden Trumpf in der Hand.
Dem bekannten Blogger Gerald Bäck zufolge stieg die theoretische Reichweite der Tweets bereits nach vier Wochen auf 21,5 Millionen. Hunderttausende fieberten bei Plenarsitzungen, Diskussionen und Vorträgen, die live aus dem Audimax gesendet wurden, mit. Bis heute hat die Facebook-Gruppe „Audimax Besetzung an der Uni Wien – Die Uni brennt!“ mehr als 30.000 Mitglieder. Die Solidarität ist groß. Auch nach der Räumung des Audimax am 21. Dezember. 

Medien springen auf. Der Schritt, soziale Netzwerke zur Aufmerksamkeitssteigerung und Vernetzung zu nutzen, stellt eine Emanzipation von herkömmlichen Medien dar. Nicht mehr Fernsehen, Radio oder Print entscheiden, was die Öffentlichkeit erfährt, sondern die Studierenden selbst. Die professionelle Vernetzung via Internet motiviert die Protestierenden, hält sie am Laufenden und die Proteste für lange Zeit am Leben. Nach kürzester Zeit springen die traditionellen Medien auf. Nicht nur, weil das Audimax voll ist, sondern vor allem weil ihnen der Protest im Internet imponiert. Sie stilisieren die professionelle Vernetzung der Studierenden als Innovation hoch.
„Während das Web 1.0 rein zur Informationsbeschaffung diente, steht das Web 2.0 für Koordination. Die Studierendenbewegung ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich Protestbewegungen im Internet organisieren und in reale Bewegungen umgesetzt werden“, sagt Alexander Banfield-Mumb, der an der Universität Salzburg die Rolle von digitalen Medien in Protestbewegungen erforscht.
Studentische Milieus gelten traditionell als beweglich.  Die Organisation entsteht spontan, ist oft basisdemokratisch und wird von einer hohen Fluktuation geprägt.  Wenn jemand ausfällt, bricht nicht das ganze System zusammen, sondern die Lücke wird gefüllt. Zu viel Bewegungsfreiheit kann jedoch Chaos schaffen. Das Internet gibt dem Protest eine Struktur. In ihm wird koordiniert und kaum jemand hat sich daran gestoßen, dass alle Tätigkeiten in einem Presseraum der Uni Wien zusammenliefen. Zentralismus wird in diesem Aspekt akzeptiert. Die Arbeitsgruppe Presse, ein Team aus ständig wechselnden Menschen, ist das Herz der Bewegung. Weil sie Übersicht schafft. 

Couch Aktivismus. Das geschmeidige Zusammenspiel von Online-Vorbereitungen und Offline-Aktivitäten ist kein Novum. Wie gut so etwas funktioniert, hat man sowohl bei den WahlkampfhelferInnen von Obama als auch bei den Protesten im Iran gesehen. Zu einem Großteil scheitern jedoch Protestaktionen, die im Internet geschmiedet wurden. Couch-Aktivismus nennt sich das Phänomen, wenn trotz großer AnhängerInnenschaft im Internet kein Protest auf der Straße zustande kommt.
Soziale Netzwerke scheinen das Benzin für die Maschine der österreichischen Studierendenproteste gewesen zu sein. Was wäre passiert, wenn das Benzin weniger professionell aufbereitet gewesen wäre? Wäre die Maschine kollabiert? Eine Antwort darauf wäre reine Spekulation. Der Blick über die Grenzen Österreichs zeigt jedoch, dass es auch anders gehen kann. „In Deutschland wurde das Web 2.0 viel weniger in die Proteste eingebunden“, stellt Christoph Bieber, Politologe an der Justus-Liebig Universität in Gießen, fest. Als Begründung nennt er drei Schlagworte: StudiVZ, Dezentralisierung, Twitter.
Das Image von Twitter sei in Deutschland angeknackst und deshalb weniger beliebt bei den Studierenden, vermutet Bieber. Außerdem habe man sich schwergetan, die verschiedenen Proteste zu koordinieren. Das mag einerseits an der hohen Anzahl der streikenden Unis gelegen sein, andererseits habe man sich schlichtweg für das „falsche“ Netzwerk entschieden: „Die deutschen Studierenden setzten auf StudiVZ. Ein Fehler, da sich StudiVZ nur beschränkt für externe Vernetzungen eignet.“ 

Lucky Streik. Vor rund 13 Jahren hatten die deutschen Studierenden den Aufstand im Internet unter dem Slogan „Lucky Streik“ schon erprobt. Die Zeitungsberichte von damals lesen sich ähnlich euphorisch wie heute. Netzbegeisterte StudentInnen erstellten Webseiten und Streik-E-Mail-Listen.  Audio- und Videodateien peppten das Angebot auf und sogar Chats soll es auf den Seiten gegeben haben. Der Betreuer einer Webseite erinnert sich an die „atemberaubende“ Zeit: „Am Abend vor der Bonner Demo kam durchschnittlich alle zwei Minuten eine E-Mail mit einer neuen streikenden Uni an.“
Die Webseiten haben den Streik 1997 überdauert. Das Erfahrungswissen ist den ProtestlerInnen geblieben. Auch bei der aktuellen Studierendenbewegung in Österreich wird die Infrastruktur und das Know-How die Protagonisten und Protagonistinnen überdauern. „Das Mobilisierungspotential des Web 2.0 ist längst nicht ausgenutzt“, sagt Banfield-Mumb, „und auch die nächste Stufe, das Web der Kooperation, blieb so gut wie unberührt.“
Verbesserungsvorschläge gibt es viele – etwa wie die Stimmen im Chat neben dem Live-Stream am besten in Diskussionen eingebunden oder wie im Wiki gemeinsam Themen bearbeitet werden können. Eine Chance, Online- und Offline-Protest weiter zu professionalisieren, bietet jedenfalls der Gegengipfel zur Jubiläumsfeier des Bologna-Prozesses im März. Die AktivistInnen könnten zeigen, dass der Protest einen längeren Atem hat als einigen PolitikerInnen lieb ist. Wenn nur genug Leute hingehen.  N

 

AutorInnen: Marion Bacher